Gurbet – Rehmplatz
9. Mai 2022
Sie saß seit einer Stunde regungslos auf einer Bank auf dem Rehmplatz. Ihre Blicke streiften über die lachenden Kinder auf der Spielfläche in der Mitte des Platzes, glitten zu den Obdachlosen, die ebenfalls seit einer Stunde auf einer Bank saßen und sich angeregt unterhielten. Sie wusste nicht ihre Namen, aber erkannte ihre Gesichter. Sie blickte auf ihre dünne Armbanduhr aus Gelbgold: Kurz vor Eins, Freitag. Zu ihrer Linken bildete sich schon eine Schlange, die zur Moschee an der Ecke des Rehmplatzes führte. Ein älterer Mann mit schneeweißem Haar ging zwischen den Wartenden entlang, legte orangerote Kegel in einem Abstand von einem Meter fünfzig aus. Immer wieder wies er die Wartenden an, auf die Abstände zu achten. Früher hätte auch ihr Mann in dieser Schlange gestanden.
Sie lebte nun seit fast zwei Jahren allein in ihrer Wohnung: Zwei Zimmer, ein zweckmäßiges Bad mit einer Astronautendusche, eine kleine Küche mit Kochnische und einem Esstisch. Auf diesen wenigen Quadratmetern hatte sie mit ihrem Mann und zwei Kindern gelebt. Und manchmal waren vier, fünf, sechs Gäste dazugekommen. Bei ihrem Mann wusste sie nie, wen er im Schlepptau haben würde. Ausländische Studenten, Geflüchtete oder Reisende wurden häufig zu Übernachtungsgästen. Dann wurden die Yorgans auf allen freien Flächen im Flur und in der Küche ausgerollt. Yorgans in leuchtend blauen und roten Stoffen, die sie als Aussteuer von ihrer Mutter bekommen hatte, die sie von Umzug zu Umzug ein Leben lang begleiteten. Trotz der vielen Gäste kam ihr ihr Heim nie zu eng vor. Eine Wohnung war so groß oder klein wie das Herz.
Von ihrer Parkbank aus konnte sie auf die beiden Fenster ihrer Wohnung blicken. Beide Fensterbänke waren voll mit Blumen; rote Blattkakteen, Begonien, Alpenveilchen, die früher auf so vielen Fensterbänken standen, heute als altbackene Oma-Pflanzen mild belächelt wurden. Statt in Blumentöpfen steckten die Pflanzen in großen YAYLA-Yoghurtbechern und rot-schwarzen Tomatenmarkdosen. Bis heute wurden viele Gegenstände, die sie vom Einkauf mit nach Hause brachte, mehrere Male umfunktioniert. Ihre Gewürze, ihre getrockneten Kräuter, ihr selbstgemachtes Tarhana-Pulver bewahrte sie in Marmeladengläsern auf. Jedes unflickbar gewordene Hemd lebte eine Zeitlang noch als Putzlappen weiter.
Ihr Mann hatte manchmal mit sanftem Unverständnis den Kopf geschüttelt: Lass mich doch wenigstens meine Unterhosen wegwerfen! Aber insgeheim war er froh, dass sie war, wie sie war. Denn das Geld hatte zwar gereicht, aber lag nie locker. Er hatte das täglich Brot aus dem Fels gehauen. Fünf Tage in der Woche versank er im Bauch der Erde. Er sprach nicht viel über seine Arbeit und hatte er nur einmal erzählt, wie er während der stillen Fahrt im Förderkorb mit verschlossenen Augen die Sekunden zählte, das Anknipsen der Grubenlampen, das Rasseln des Gitters hörte, den steigenden Druck auf den Ohren fühlte. Mit etwa hundert Kollegen kam er gleichzeitig in der Grube an. Hier wurden sie umgeladen an kilometerweit entfernte Arbeitsplätze, vorbei an großen Wasserbehältern, die bei einer Explosion umfallen und einen Wasserschleier sprühen sollten. Am Ziel, da, wo die Kohle abgebaut wurde, war die Luft dünn, warm und feucht. Sein Arbeitsleben lang verbrachte er seine Tage ohne natürliches Licht. Nach seiner Schicht ging er erschöpft durch das Bergwerk zurück, seine Haut eingetaucht in schwarzem, schmierigem Kohlestaub. Sein Husten kündigte ihn bereits im Treppenhaus an. Während er seine Schuhe auszog, reichte sie ihm bereits ein Glas kaltes Wasser. Su gibi aziz ol, sagte er stets, sei geheiligt wie das Wasser. Er lächelte sie an und die Müdigkeit fiel von ihm ab. Ob ihm seine Arbeit Spaß gemacht hat? Spaß war nie der Maßstab gewesen. Den Kopf über Wasser halten, durchhalten, die Rente und dann zurück in das Dorf seiner Kindheit, das Elternhaus renovieren, Aprikosenbäume anpflanzen, vielleicht ein paar Hühner halten. Den Lebensabend in Frieden leben. Die Nacht brach vor dem Abend ein. Kurz vor der Rente die Diagnose, schneller Zerfall, stummer Abschied. Die Stille danach, die nicht mehr übertönen konnte, dass es keine Hoffnung gab, kein Warten auf ein Leben, das anders werden würde, dass der Traum vorbei war. Innā li-llāhi wa inna ilayhi rājiʿūn.
Ihre Kinder teilten ihre Trauer, ahnten aber nichts von ihren Untiefen. Die Kinder hatten sie lange vor ihrem Mann verlassen, waren ausgezogen in ein Leben, in dem sie keine Tomatenmarkdosen bepflanzten, keine Marmeladengläser gründlich abwaschen und aufbewahren mussten. Gewürze gab es bei ihnen aus Edelstahlmühlen, die Pflanzentöpfe passten zu den Möbeln in ihren Wohnungen, die wie aus einer Katalogseite von Einrichtungshäusern aussahen. Wenn sie zu Besuch im Elternhaus waren, betrachteten sie ungläubig die Einrichtung. Es schwang der Unglaube mit, wie sie es von hier in ihre jetzigen Verhältnisse geschafft hatten.
Die Kinder hatten Deutschland mit Haut und Haar angenommen, aber hatte auch Deutschland sich ihrer mit Haut und Haar angenommen? Sie erinnerte sich, wie ihre Kinder zum ersten Mal eine Scham für die kleine Wohnung entwickelt hatten, eine Scham für die Pausenbrote in Alufolie und für die Frau, die diese Brote schmierte. Eine Frau, die stets unauffällige Kleider trug, keine Kosmetika nutzte, die einen Akzent hatte und vor allen Dingen ein Kopftuch trug, das sie als Mensch unsichtbar machte. Ihr Tuch hatte jahrzehntelang keine Bedeutung, bis ein Massenblatt entschied, dass es eine Bedeutung hatte – und alle zogen mit. Fremde Menschen schauten sie an, redeten in ihrer Hörweite über sie, als würde sie ihre Sprache nicht verstehen. Das war einmal, sie verstand alles. Schmerzlich alles.
Kaplumbağa kabuğundan çıkmış, kabuğunu beğenmemiş, pflegte ihr Mann zu sagen. Und doch war er stolz auf seine Kinder,die in den Metropolen Deutschlands arbeiteten und gelegentlich mit mannshohen Rücksäcken auf dem Buckel in fernen Ländern nach ihrem wahren Selbst suchten.
Wenn die Kinder zu Besuch kamen, kochte sie ihnen ihre früheren Leibgerichte, packte ihnen noch Essen für die nächsten Tage ein. Sie nahmen es mit.
Ob sie es auch aßen, wusste sie nicht.
Zwischen der Scham ihrer Kinder und dem täglichen Spaghettifresser, Kümmeltürke, Terrorist, Ausländer Raus! Graffitis an Kinderspielplätzen und an der Tür ihres Hauses hatte sich eine Blase aufgetan, in der sie und ihr Mann zerrieben wurden. Sie hatten ihre Angst, immer die Anderen zu sein, immer als der weiße Hase aus dem Zylinder gezogen zu werden, wenn etwas im Land schief ging, ihre Angst vor den Nachbarn, Kollegen, Vorgesetzten, ihre Angst nach Solingen und Mölln tief in der Magengrube eingeschlossen. Sie hoffte, dass ihre Kinder es besser haben würden, in Sicherheit und Würde, ungebrochen leben könnten. Wozu sonst wäre ein ganzes Leben in gurbet gut gewesen?
Sie schaute ihre faltigen Hände an, die roten Kreise aus Henna in den Handflächen. Sie erinnerte sich, dass sie oft weinen wollte, einfach so weinen, aber es nie gekonnt hatte. Wenigstens in kurzen Zügen hätte ich gern geweint, dachte sie. Es gibt niemanden, dem ich das sagen könnte, dass ich allein bin, allein gelassen wurde, aber es ist gut das zu wissen – für mich selbst. Einsame ältere Menschen, die sich weigerten in Seniorenheimen zu verschwinden, waren eine Belastung. Sie las es in den Gesichtern ihrer Kinder, das stille Ausschachern untereinander, wen wohl die Bürde erwischen würde. In eine weiße Stille gehüllt lag sie nach dem Tod ihres Mannes, ihres Weggefährten, wochenlang im Bett und starrte an die Decke. Eines Morgens schloss sie die Augen weit auf und fühlte, wie sie von einer Kraft wie ein Taucher aus der Meerestiefe nach oben getrieben wurde.
Ihr Mann wollte bei seinen Kindern bleiben, auch im Tod. Er hatte wohl geahnt, dass sie ihn wohl kaum besuchen kommen würden, wenn er in sein Dorf überführt worden wäre. Er lag im Friedhof Hüls im muslimischen Bereich. Zu sagen, er ruhe in Frieden, fiel ihr schwer. Die muslimischen Gräber wurden immer wieder geschändet, so auch auf diesem Friedhof. Jedes Mal, wenn sie sein Grab besuchte, machte sie sich darauf gefasst, dass sein Grabstein mit Hass beschmiert sein konnte. Sie starrte auf die Mariensäule in der Mitte des Platzes. Meryem Ana, weißt du, was wollen sie noch von uns?
Niemand schien ihre Generation hier haben zu wollen. Sie, die alten Arbeiter mit ihren alten kopftuchtragenden Frauen waren Auslaufmodelle, passten nicht in das Selbstbild dieses Landes. Je nach Bundespräsidenten gehörten sie dazu, dann nicht und doch wieder oder so halb. Ihr Hiersein hing von Wahl zu Wahl von Regierungskoalitionen ab. Aber ein Grundton blieb. Sie sollten endlich verschwinden, Platz machen für die neuen Anderen, verdaulicher, aber dennoch Ausländerinnen. Sie rappelte sich hoch und massierte sich die Waden. Ihre Beine schliefen in letzter Zeit schnell ein. Sie lief die wenigen Meter zu ihrer Wohnung – zumindest einmal am Tag das Haus verlassen, frische Luft schnappen, das sei wichtig, hatten ihr die Kinder gesagt. An der Haustür lehnte sie sich einige Sekunden gegen den Türrahmen. Ihr Kopf war unerträglich schwer; ein Druck beschwerte den Rhythmus ihres Herzschlags. Ihr Blick fiel auf den handschriftlichen Namen auf ihrem Klingelschild. Sie dachte kurz dran, das kleine Blatt hinter der Folie rauszuziehen. Ganz unsichtbar zu werden. Du bist eine trübsinnige alte Frau geworden, sagte sie zu sich selbst.Sie schloss die Augen, holte tief Luft. Atmete ein und aus. Erinnerte sich an den Duft ihres Mannes, sein Rasierwasser, Eigenmarke eines Supermarkts, vermischt mit der Wärme seiner Haut. Wenn sie ihren Kopf an seiner Schulter barg, selbst in der Erinnerung, war die Welt wieder in Ordnung. Sie würde durchhalten, den Kopf über Wasser halten, so lange es ging.