Stellung beziehen 1. Neonazis treffen

Noch ist nicht Sommer und eine kühle herbstliche Brise weht durch die Luft. Es ist der erste Mai, Berlin wird heute hochkochen, an jeder Ecke werden Demonstrationen stattfinden.

Dortmund wirkt ruhig.

Aber wenn man genau hinhört, ist es eigentlich gar nicht „ruhig“.

Hört hin!

Da erklingen die üblichen Motorgeräusche, Züge im Bahnhof nebenan, Kinderwagen, die Wochenendausflügler in den Kaffeehäusern.

Und doch liegt eine Stille über allem, ein stiller Raum, das weiße Rauschen der Vorsicht oder vielleicht auch nur meine Reaktion auf Unvertrautes nach acht Jahren Krieg, in denen der Körper gelernt hat, das Adrenalin auf Knopfdruck hochzufahren.

Ich bin auf dem Weg zum nahegelegenen Hauptbahnhof. Es ist der erste Mai und noch ist nicht Sommer. Ein kalter Windstoß wirbelt Laub hinter einer ehemaligen Tankstelle auf, wo jetzt der Bergmann Kiosk steht. An dieser zufälligen Kreuzung von zwei Hauptverkehrsstraßen haben sich etwa hundert Menschen versammelt. Langsam und vorsichtig schleicht sich von hinten ein Polizeiauto wie eine Katze vom bewachsenen Bürgersteig aus an die Menge heran. Ein weiterer Wagen kommt hinzu.

„Intschuldegun! Was ist hier los?“

Der Polizist, der erst noch versucht hat, mich zu ignorieren und seinen Blick abzuwenden, muss mich jetzt wahrnehmen, nachdem ich mich zwei Schritte näher direkt in sein Sichtfeld gestellt habe.

funny black cat looking out of the flower meadow

„Demonstrationen“, sagt er kurz angebunden. Polizisten sind meist nicht zum Plaudern aufgelegt, vor allem nicht mit Zivilisten, insbesondere neugierigen Zivilisten.


„Erster Mai?“, frage ich nach, weil es gut ist Bescheid zu wissen.

„Neonazis.“

Mein Herz macht einen aufgeregten Sprung! Mein neugieriges Autorinnenherz.

Etwas Adrenalin schießt durch meine Venen. Meine stets alarmbereiten Nerven.

Wahrscheinlich leuchten in dem Moment sogar meine Augen auf, denn der Blick des Polizisten wird finsterer und er kneift die Augen zusammen, wie um mir zu sagen: Jetzt müssen Sie aber wirklich verschwinden!

„Engschuldegun! Was ist hier los?“, frage ich ein junges Pärchen, das an der Kreuzung bei der Demonstration steht. Sie lächeln mich an, nicht gerade was man von Neonazis erwartet, wenn eine Fremde mit brauner Haut vor ihnen aufpoppt.

„Proteste gegen den Neonaziaufmarsch.“

„Achso! Wo ist der?“, frage ich.

„Sie werden hier an der großen Straße vorbeikommen“, sagt der Mann und zeigt auf die Straße, die ich gekommen bin, wo mein temporäres Zuhause in Dortmund liegt.

„Und warum seid ihr hier in der Nebenstraße?“

„Die Polizei will das so“, sagt er lächelnd, „damit die zwei Gruppen nicht direkt aufeinandertreffen.“

Seine Freundin deutet auf das Ende der Möllerstraße. Die Straße ist lang und geht bergauf, also zeigt ihre Hand direkt in den Himmel. „Aber wir gehen auf eine Parallelstraße, da vorne werden wir ihnen dann begegnen.“

„Ah, du scheinst dich auf das Treffen zu freuen!“, merke ich an und sie lacht mit einem Funkeln in den Augen.

(Am nächsten Tag wird in den Nachrichten stehen, dass viele anti-faschistische Versammlungen versucht haben, den Aufmarsch der Neonazis zu behindern. Zwei Personen wurden verhaftet.)

„Findet das jedes Jahr in Dortmund statt?“

„Es ist der erste Aufmarsch von Neonazis“, sagt der Mann und zuckt mit den Schultern, als wollte er sagen: Für die Scheiße können wir nichts, tut uns leid.

„Dortmund ist nun mal die Hauptstadt der Neonazis“, wirft das Mädchen ein. Gut zu wissen, denke ich mir.…

„Ja, aber viele kommen aus der Umgebung von Dortmund“, sagt ein Mann mit professioneller Kamera und großem Objektiv und einem noch größeren Lächeln, der gegenüber vom U-Turm, wo die bizarre Gruppierung vorbeikommen soll, auf der anderen Straßenseite steht.

„Nicht aus der Stadt selbst?“, frage ich nach.

„Doch, ein paar sind auch aus der Stadt“, antwortet er.

Es ist immer gut Bescheid zu wissen, denke ich mir.

„Ist es am ersten Mai immer so?“

„Neeein!“, sagt er und versucht mir dann auf Englisch zu erklären, dass der Aufmarsch dieses Jahr zum ersten Mal stattfindet.

„Tut mir leid, ich kann nicht gut Englisch“, sagt er lächelnd.

„Tut mir leid, ich kann noch weniger Deutsch, mein Deutsch ist echt scheisse!“ Wir lächeln beide.

„Schonnen tag, noch“, sage ich.

„Schönen Tag“, antwortet er, immer noch lächelnd, immer noch wartend, um ein Bild von dem Aufmarsch zu machen und die Nachwelt an ihre Taten zu erinnern, denn die Geschichte vergisst nun mal viel.

Ich gehe weiter zu einer anderen Kreuzung, wo eine kleine Gruppe von Anti-Faschisten neben Lautsprechern steht, ein eleganter älterer Mann mit langen, grauen Haaren und Schal hält neben einem alten, weißen Auto ein Mikro hoch.

Eine Frau sagt:

„Wir werden ein Zeichen setzen und sie in die Schranken weisen.“

(Am nächsten Tag wird in den Nachrichten stehen, dass gegenüber vom U-Turm, wo der lächelnde Mann mit der Kamera und ich zusammen standen, fünfundzwanzig Menschen den äußeren Ring blockiert haben und die Polizei aber geschafft hat, die Neonazis an ihnen vorbeizuleiten.)

Jede Menge Polizisten stehen vor dem Hauptbahnhof neben dutzenden Autos beisammen – aber daran ist nichts außergewöhnlich, nichts bizarr, da stehen sie so ziemlich nach jedem Fußballspiel und begrüßen die Fans.

Der Polizeichef, vielleicht auch einfach der Dienstälteste, weist einen anderen Polizisten an, meine Fragen einer ängstlichen Zivilistin zu beantworten.

„Was passiert hier?“

Ein Aufmarsch von Neonazis, zum ersten Mal gibt es einen organisierten und genehmigten Aufzug von Neonazis.“

„Wo sind sie jetzt?“ Ich stelle kurze und einfache Fragen, um die Geduld des Polizisten nicht herauszufordern.

„Dort bei der Kreuzung.“ Der große Polizist deutet nach links.

„Und dort hinten auch.“ Er deutet nach rechts.

Es ist immer gut Bescheid zu wissen!

Auf dem Weg nach Hause beobachte ich das Geschehen von einer Ampel beim U-Turm aus, eine Frau mit Hijab in einem dunkelgrauen schlichten Kleid schubst ihre Tochter voran, schiebt sie in eine Seitenstraße, weg vom Gefahrenherd, die Mutter sieht besorgt aus, die Tochter verwirrt.

Ich stehe mit einer Freundin bei der Ampel und beobachte sie, da sehe ich den Marsch der Neonazis beginnen. „Tut mir leid, dass du das mit ansehen musst“, sagt meine Freundin, während ein weiterer kalter Windstoß weht.


„Sag sowas nicht“, antworte ich, „lieber Außenstehende als mittendrin. Es ist gut Bescheid zu wissen, dann kann man es besser machen!“

„Machst du dir keine Sorgen?“, fragt sie, während die Mutter und ihre Tochter aus unserem Sichtfeld verschwinden. Ich würde ihr gerne davon erzählen, dass ich Angst vor langer Zeit durch Gehässigkeit und Wut auf die Dummheit des kollektiven Denkens der Menschen ersetzt habe, aber stattdessen sage ich:

„Überhaupt nicht, hier wimmelt es von Polizisten“

„Ja, das ist gut zu wissen.“ Sie lächelt.

„Ja, es ist immer gut Bescheid zu wissen“ Ich lächle zurück.

Habe ich „Freundin“ gesagt? Verzeihung, das war eigentlich nur eine Ampel-Bekanntschaft, vereint durch ein Ereignis, von dem einige behaupten, es hätte es nie geben dürfen, aber es ist nun mal passiert. Ich erinnere mich nicht mehr an ihr Gesicht und sie sich wahrscheinlich nicht mehr an meins, aber für einen kurzen Augenblick standen wir an derselben Kreuzung, auf derselben Seite, beobachteten den schwarzen Block gegenüber, kurz bevor er sich in Bewegung setzte, und wurden zu Verbündeten.

An derselben Ampel stehen noch ein paar andere Männer und Frauen mit besorgten Blicken, ein paar Wochenendausflügler lassen ihre Kaffeetassen stehen und stellen sich neben ihre Stühle, der Besitzer der Trinkhalle, wo ich immer meine Zigaretten kaufe, kommt nach draußen und wirkt verunsichert.

Die Stimmung auf der Straße wird immer angespannter, es stehen mehr Polizeiwagen herum als Bäume im Westpark, vielleicht mehr als alle Bäume in Dortmund zusammengezählt! Eine lange, lange, lange Reihe von Polizeiwagen die einem beinahe völlig stillen – die Parolen standen auf ein paar Spruchbändern – Neonaziaufmarsch hinterherschleichen. Auf dem Gehsteig an der anderen Straßenseite steht eine Handvoll Leute, die gegen den Aufmarsch demonstriert.

Die Handvoll ist lauter als die bedächtigen Neonazis.

(Am nächsten Tag wird berichtet werden, dass die Neonazis nicht mehr als zwanzig Fahnen dabeihaben durften, denn: „Die Polizei Dortmund wird ein einschüchterndes und angsteinflößendes Auftreten von Rechtsextremisten in unserer Stadt nicht dulden“, wie es in einem offiziellen Statement der Polizei heißt.)

Ein paar Stunden später versammeln sich die Anarchisten mit ihren bunten, karnevalsartigen Bannern, Klamotten, Haaren und Fingernägeln für ihre offizielle Demonstration im Westpark.

Zwei Bands, vier Lautsprecher und drei kurze Reden gegen Neonazis, aus vollem Hals geschrien, so laut wie man gegen Corona geschrien hat.

Oder gegen die Meldepflicht des Coronavirus.

Vielleicht auch gegen das Virus an sich. Ich bin nicht ganz sicher, wie gesagt, mein Deutsch ist „scheisse“.

Ein riesiges Gemälde von vielen Menschen mit vielen Hautfarben und offensichtlich auch vielen unterschiedlichen Religionen, die glücklich zusammen lächeln und sich den Platz auf dem Bild teilen. Darauf steht: „Alles …“

Ich liebe die Botschaft. Ich liebe das „Zusammenrücken“, aber ehrlich gesagt weiß ich nicht so recht, was ich davon halte, mich selbst auf einer Leinwand zu sehen, die zum Zusammenleben auffordert. Brauchen wir dafür wirklich Spruchbänder?

Menschen! Enttäuschende Menschen!

Die Anarchisten verlassen den Park mit Musik und Jubelschreien, gefolgt von ein paar schützenden Polizeiwagen, eine Band folgt ihnen und die andere bleibt für einen zweiten bunten Karneval.

Fröhlichen wütenden Karneval!

(Am nächsten Tag wird auf einem Blog von der lauten und bunten anarchistischen Demonstration um vier Uhr nachmittags berichtet werden.)

Am Abend gehe ich noch einmal in den Park, zu der Bocciabahn, wo man am Wochenende in friedlicher Gesellschaft ein paar Bier trinken und rauchen kann.

Ein Spieler, Marcio, der immer eine Zigarre raucht, immer schreit, immer lacht, immer danebenwirft, winkt ab, wenn man den ersten Mai erwähnt. „Eh“, sagt er und wirft weiter daneben.

Damit verärgert er einen anderen Spieler, der das Spiel sehr ernst nimmt, denn er kann nicht auf der Bocciabahn auch noch verlieren, wo es bei ihm schon in anderen Lebenslagen nicht rund läuft. Zumindest beim Boccia muss er gewinnen.

Marcio lacht, raucht, verliert und raucht und lacht.


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