Hedem
17. Juni 2022
Rund um Hedem
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Auf dem Rückweg vom Nordpunkt – dem, wer würde es denken, nördlichsten Punkt NRWs – zur RB-Endhalte in Rahden kommen Rahel und ich doch noch und zum ersten Mal ernsthaft an diesem Tag auf das Thema der Landwirtschaft zu sprechen, wir hatten es, mit Ausnahme von Rahels Einwürfen hier und da beim Rumfahren, wo gerade noch ein Feld von ihrem Mann oder anderen Bekannten bestellt wird, auf unserer Tagestour durch den hohen Norden bisher gar nicht groß damit gehabt. Das war Rahel wohl auch Recht gewesen, wie sie nun sagt, es ist, wenn man, wie sie und ihre Familie, selber involviert ist, kein leichtes Thema, derzeit, mal wieder. Die Frage, die im Raum steht, ist: Warum treffen Leute in Berlin Entscheidungen für die Landwirtschaft, die selber mit dem Thema überhaupt keine Berührungspunkte zu haben scheinen? Als wir noch am Nordpunkt stehen und diese Marmor- (mein ich) Skulptur betrachten, die den Umriss von NRW hat und mit einigen eingravierten Städten (schwer lesbar) auf ihrer Oberfläche versehen ist, fällt mir auf, dass Dortmund ja tatsächlich mehr oder weniger die Mitte unseres Bundeslandes ist. Wahrscheinlich, weil ich halt lange nur in meiner Rheinland-Bubble gewesen bin, hatte ich als Zentrum, natürlich, immer Köln gesehen.
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Das zweite tolle Essen an diesem Tag gab es im Garten von Dietmar und Elli Horn: Sie hat einen französischen Kirschkuchen gemacht, der, glaub ich, vor allem mal aus Eiern, dann auch aus Kirschen besteht, und er schmeckt auf eine Art luftig, die ich selten erlebt habe, gerade, wenn er unter Schlagsahne begraben ist – ich mach ein Foto von ihm, Elli lacht etwas irritiert, das bringe doch nix, unter der Sahne würde man den Kuchen ja gar nicht sehen. Wir sitzen da im Garten auf einer Terrasse bei einem Naturpool zum Kaffee und unterhalten uns – vor allem darüber, wie es ist, auf dem Land zu leben, hier, und Dietmar kennt den Sprung, er ist damals aus Düsseldorf, dem Kunststudium, hergekommen, erst nur einen Freund besuchen, dann gefiel ihm, was er sah, er blieb, Elli und er lernten sich beim lokalen Karneval kennen, das ist jetzt etwa dreißig Jahre her. Mischka, der Hund der beiden, verfolgt bellend jeden Radfahrer und jeden Fußgänger entlang des Gartenzauns, und der Zaun ist lang, ist gut für Mischkas Disposition, sagt Dietmar, der Bildhauer ist. Seine Skulpturen sind im weiten Garten verteilt, und Dietmar scheint jedes Material bearbeiten zu können und auch mal bearbeitet zu haben. Es ist irgendwie nice zu sehen, dass die beiden sich hier über die Jahrzehnte was Schönes aufgebaut haben, auch, dass sie immer noch zusammen sind, auch, dass Dietmar an- scheinend zu dieser ganz seltenen Gattung Künstler zählt, die tatsächlich davon leben kann.
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Initiiert wurde die Zusammenkunft im Garten der Horns übrigens von Alex, der auch da ist, und der ein alter Freund von Rahel ist, die natürlich auch da ist, und die wiederrum und wie gesagt der Grund ist, warum auch ich da im Garten bin. Soweit, so gut. Alex auf jeden Fall ist Architekt, und zwischen Alex, Rahel, Dietmar und Elli gibt es viele Geschichten darüber, was es bedeutet, sich mit den Ortsbürokratien ihrer jeweiligen Gemeinden herum zu schlagen, vor allem, wenn es um die Bauämter gehe – wobei, gerade ist bei Alex und den Horns etwas Hoffnung in Sicht, ein Neuer ist gekommen, noch ist er motiviert. Alex fallen auch einige gute Materialen für Gedichte ein, zum Beispiel den Schriftverkehr mit dem Bauamt, eigentlich mit jedem Amt, zu Lyrik zu machen. Ist eine sehr gute Idee, die eine Recherchetiefe allerdings voraussetzt, zu der ich diese Tage gerade nicht fähig bin, also merke ich es mir nun hier in diesem Gedicht für eine unbestimmte künstlerische Zukunft vor. Nicht nur der Neue im Bauamt scheint motiviert, auch Alex selber macht einen energiegeladenen Eindruck, vielleicht ist das auch nur sein Gemüt (wenn, ist es Gold wert) und er organisiert viel in der Region, hat zum Beispiel eine Gruppenausstellung in der alten Gehwohl- Fabrik angeleiert (wie geil, dass die hier in der Nähe sind, deren Schaum kriegt man wirklich in jeder medizinischen Fußpflegepraxis aufgebrummt), bei der, glaub ich, alle am Tisch, außer mir, mit dabei waren.
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Ehrlicherweise hab ich ein bisschen vergessen, Dietmars Frau Elli zu fragen, was sie eigentlich so macht (bzw., ich habe niemanden gefragt, aber sie war die Einzige, die es nicht von sich aus erzählt hat), aber dafür erfahren wir zumindest am Ende noch, dass sie über den letzten Herbst und Winter das Mosaik für einen überdachten Teil ihrer Gartenterrasse gelegt hat, wir stehen staunend darauf, es muss ganz gut Arbeit gewesen sein. An die Mosaik-Terrasse schließt Dietmars Werkstatt an, auch dafür ist hier Platz, er hat sich Tageslichtfenster in die Decke gelassen, wobei er eigentlich am liebsten im Freien arbeitet. Ich mag, dass Dietmar raucht, wie jemand, der immer geraucht hat, und dass er gleichzeitig etwas leicht Schroffes und etwas sehr Nettes hat. Als wir wieder draußen auf dem Parkplatz stehen, versucht er noch, Rahel dazu zu überreden, eine seiner wenigen Auftragsarbeiten für ihn mit Mosaiksteinen zu bekleben, für umme, wie sich dann herausstellt, sie hatte beim Anblick von Ellis Terrassenarbeit angedeutet, dass ihr eine solche Arbeit auch Spaß machen könnte, und Dietmar ist drauf eingegangen. Das ist jetzt, wie so vieles von mir, eigentlich nur reine Behauptung, aber: ich würde behaupten, dass von allen bildenden Künsten die Bildhauer am stärksten immer am Maggeln sind. Mein Vater hat auch ein Bildhauerdiplom, das hat er allerdings damals gleich schon wieder nach Erhalt verbrannt, so hat man das wohl gemacht, am aller- letzten Ende der wilden 70er. Hier ist noch ein Tipp von den vier zum Thema Bauvorhaben, anscheinend noch nicht selber ausprobiert, nur schon aber häufiger beobachtet, bei den Nachbarn: Einfach bauen, auf keine Genehmigung warten, anschließend zur Not das Bußgeld kassieren, aber – zum Abriss wurde bisher noch nie jemand wieder gezwungen, was einmal gebaut ist, bleibt, egal, ob eigentlich mal genehmigt, oder nicht.
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Das erste gute Essen gabs gleich vor dem Besuch bei den Horns bei Rahel und ihrer Familie selber, auf dem Hof, den ihr Mann Georg von seinen Eltern übernommen hat, es ist Mittagessenszeit: ihre Mutter hat extra Schweinebraten gemacht, dazu gibt’s natürlich Bratensoße, auch grüne Erbsen, vor allem aber komplett, und ich meine komplett, selbstgemachte Klöße, auch Kartoffelstücke, die ich aber wegen den Klößen schmähe (sorry!), und zusätzlich, vielleicht mein stiller Star, einen Salat, der aus Salatgurken, grünen Bohnen, Zwiebeln besteht, ich meine, in einer Tupperdose serviert, und der auf eine schöne Art süß ist. Die Nachspeise dann betont westfälisch: Quark mit Kirschen und Schokosplittern und zerkrümeltem Schwarzbrot. Großeltern, die essen machen: War immer eine Sache, wird wohl immer eine bleiben, zum Glück, und mal so sehr generell gesprochen. Der Vater meines Vaters hat Essen gemacht, dass wir als Kinder glaub ich so halb zu würdigen wussten, legendär seine mehr als bissfest gebratenen Pommes aus der Pfanne, auch die Camel ohne Filter, die er und mein Vater sich immer gegenseitig zu Geburtstagen und zwischendurch geschenkt haben, wobei, vielleicht waren die Camels auch nur mein Vater und mein Opa bekam HB. Die Mutter meiner Mutter konnte nicht wirklich kochen, dafür hatte sie immer ein Herz für Tiere und war fromm. Wenn wir sie und unseren Stiefopa besuchen kamen, alle halbe Jahre, gab es zumeist mehrere Torten aus dem Tiefkühler, und zum Abschluss einen riesigen Teller Schnittchen, wie sie das nannte, also belegte Brote, und die Erinnerung an die Art, wie meine mittlerweile verstorbene Großmutter (alle meine Großeltern, Stief- oder nicht, sind tot) Schnittchen gesagt hat, erzeugt auch heute noch so ein Gefühl in mir. Mit meinem Stiefopa kam eigentlich niemand richtig klar, btw, im Nachhinein hieß es, er habe eine Hirnkrankheit gehabt, die ihm sein Empathiezentrum zerstört hätte. Auch erst nach ihrem Tod erfuhr ich über meine Großmutter, von meiner Mutter, die sich um sie gekümmert hatte, dass sie immer für Monate am Stück und jeden Tag dasselbe Essen aß, um es nach diesen Phasen nie wieder zu holen. Interessanterweise mag Rahels Tochter die vorher erwähnte Nach- speise nicht so gern, sie ist ihr zu durcheinander, was die Zutaten angeht, und das deckt sich voll mit den Beobachtungen über das Elternsein, die ich selber bei meiner Nichte derzeit machen kann, auch dort wird eigentlich alles nur ohne alles gegessen. Ich weiß nicht mehr, ob meine Brüder und ich auch so waren, meine Mutter erzählt schon im Nachhinein Geschichten gewisser Partikularität, aber, ernsthaft jetzt mal, nachdem meine Eltern McDonalds als Lösung gefunden hatten, ging das schon wirklich immer, also jetzt Sonntags oder mal so zur Belohnung, aber ich drifte ab, wie so häufig, wenn das goldene M ins Spiel kommt. Jeder übrigens, den wir an dem Tag treffen, hat einen oder mehrere Hunde, und da sind Rahel und ihre Familie natürlich keine Ausnahme, …
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…auch sie haben zwei Hunde: eine alte Hündin, der man ihre Wachheit laut Rahel immer noch anmerkt, und einen noch jungen und relativ wilden Golden Retriever, Ariel, zehn Monate, der sich aber, seitdem er (oder ist es eine Sie?) sich in der Jagdhundausbildung befindet, langsam zu beruhigen beginnt, weil nun alle seine Instinkte regelmäßig angesprochen werden. Ich trag Ariels Haare auf meiner schwarzen Hose der Deutschen Post den Rest des Tages mit mir herum, und das erinnert mich an die Besuche bei Daniel und seiner Familie in Köln, die auch einen Golden Retriever haben, Matisse, bevor wir weiterzogen zum Zeichnen, mussten wir uns immer nochmal im Wohnungsflur abrollen, mit einer dort stets griffbereit-stehenden Fusselrolle. Matisse hat mir meine Angst vor größeren bellenden Hunden genommen. Ariels Ausbildung findet übrigens bei der Schwester von Arnold von der Nolden statt, den …
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…wir gleich als Erstes, nach meiner Ankunft am S-Bahnhof Bald Holz- hausen, am Vormittag noch, besuchten, und der mir oder uns, ganz grob natürlich nur in der Kürze der Zeit, circa acht Jahrhunderte Geschichte über Burg Steinsegen erzählt, das Anwesen seiner Familie, das er, seit den Siebzigern, mit seiner Frau, verwaltet. Irgendwann merkt Herr von der Nolden, dass ich wirklich fast niemanden der historischen Figuren, die er referenziert, einordnen kann, klar, von allen mal den Namen gehört, mehr aber auch nicht, aber wenn ihn das tiefergehender enttäuscht, lässt er es sich, dankenswerterweise, nicht anmerken, alles Wasser unter der Brücke für ihn, wahrscheinlich. Burg Steinsegen (im Volksmund Schloss Steinsegen genannt, aber das geht eigentlich so nicht, denn die Bezeichnung Schloss gebührt nur einem Anwesen von Fürsten oder Königen, wie von der Nolden gleich zu Beginn bemerkt, und so ist selbst die verbreite Benennung seines Anwesens ein kleiner Hinweis darauf, dass die Adelsgeschlechter gegenüber dem Pöbel ein gewisses Nachsehen hatten), Burg Steinsegen also wurde früher von drei Wassergräben umzogen. Der Äußerste umlief das ganze Anwesen, inklusive des Hofes, auf dem heute übrigens von der Noldens selber wohnen (Seiteninfo: dieses Hofgebäude stand eigentlich mal woanders und wurde, nachdem das erste abbrannte, im 19. Jahrhundert ab- und dann hier wieder aufgebaut, ein Vorteil des in der Region vorherrschenden Fachwerks, dessen Gebälk man relativ mühelos umziehen kann, nicht zuletzt dank der Zimmermannskunst, die jedes einzelne Element so markiert, dass seine Position auf ihm eindeutig abgelesen werden kann). Der innerste Graben war der Burggraben selber, auch früher als Latrine genutzt, na klar. Der mittlere, der den Garten des Schlosses umläuft, steht als Einziger heute immer noch. Als wir auf seiner Brücke sind, macht uns von der Nolden auf ein spitzes Dach im Unterholz aufmerksam. Das war früher der Eiskeller – im Winter, als das Wasser im Graben gefror, hob man von ihm die Eisplatten ab und lagerte sie dort ein, in einem fünf Meter tief gegrabenem Loch, unter besagtem Spitzdach. Das Eis hielt sich für den ganzen Rest des Jahres, in der Kühle der Erde, zur Nutzung in der Küche, für den Betrieb der ersten Vorläufer der heutigen Kühlschränke.
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Noch so ein Trick aus alten Zeiten, den Herr von der Nolden einmal zufällig entdeckte, und den er seitdem selber gerne ab und zu anwendet (und es scheint, als ob Rahel, als er von ihm erzählt, da auch für ihren Hof extra hellhörig wird), wurde wie folgt herausgefunden: Für einen der Festräume im ersten Stock der Burg musste einmal der Boden überprüft werden. Von der Noldens Tochter war im Begriff zu heiraten, auf der Burg, wollte aber den besagten Raum nur mitnutzen, wenn vorher geklärt würde, warum dessen Boden immer so viel schwinge, die Sorge bestand, man könnte einstürzen. Der Holzboden wurde geöffnet, seine ihn tragenden Balken untersucht, und in der Tat, sie waren so morsch geworden, dass sie bereits vollständig jeden Bezug zur Wand verloren hatten, halt frei schwangen. Dieses Problem wurde behoben, der Clou aber war noch eine andere Entdeckung am Rande: Als sie den Boden des ersten Stocks öffneten und schon befürchteten, im Zwischenraum zur Decke des Erdgeschosses jede Menge Tiere oder zumindest ihre Spuren aufzufinden, fanden sie nichts dergleichen, dafür einen ganzen Teppich aus jahrhundertalten Ilex-Blättern, vollkommen verdorrt, aber immer noch so pieksig wie am ersten Tag. Seitdem verstreut von der Nolden auch selber Ilexblätter gegen Mader und so. Mein liebstes Detail, das von der Nolden auf seine ruhige Art und fast schon schelmisch einmal kurz erwähnt, ist in der Eingangshalle zu Schloss Steinsegen zu finden, eine erst unscheinbar wirkende Eimerform unter einer der wieder aufgestellten Original-Holzstreben. Es handelt sich tatsächlich um einen mit Zement ausgegossenen Eimer, lackiert wie das Holz, genutzt, um die fehlende Länger der an dieser Stelle zu kurz gewordenen Strebe auszu- gleichen. Diese Notfalllösung war einem der Handwerker aus Polen gekommen, die von der Nolden häufiger in seinen Erzählungen der Grund- renovierung des Schlosses seit den 70ern erwähnt, und ohne die er, wie er selber sagt, dieses zu Anfang völlig aussichtslos wirkende Unterfangen niemals hätte bewältigen können. Eigentlich geht es die meiste Zeit in seinen Erzählungen über Burg Steinsegen auch darum, halt mit dem zu arbeiten, was man so hat. Die Malerarbeiten am Fachwerk im Innenhof hätten, wenn Denkmal-gerecht in Auftrag gegeben, so zum Beispiel weit über 30 Tausend Euro gekostet, von der Nolden entschied daraufhin, es einfach selber zu machen, und bekam dabei Unterstützung alter Freunde aus seinem Chorverein, er wirkt stolz auf das Ergebnis, als er es uns zeigt und kurz irritiert, als ich erst nicht raffe, was ein Chorverein ist, tatsächlich ist das glaub ich eine Art von Studentenverbindung.
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Am Ende ist die Burg auch ein Zeugnis all der Lebenswelten aus acht Jahrhunderten, und die erste Regel, die von der Nolden selber sagt, ist: Umso besser es den Leuten geht, umso dekorativer werden ihre Bauvorhaben. Ansonsten hat anscheinend jeder mal so am Schloss gemacht, was ihm gerade einfiel und gefiel: Über der noch erhaltenen Burgmauer aus Steinen (die aus allen Steinen besteht, die man irgendwie auftreiben konnte in der Region, denn Steine sind eines der Dinge, die es historisch hier fast nicht gab, deswegen halt auch die Alternative des Fachwerkbaus aus Holz und Lehm) wurde ab der ersten Etage erst eine vollständig und ausladend dekorierte Holzfassade aufgebaut, um sie in späteren Jahrzehnten gleich wieder komplett über zu verklinkern, weil es dann halt gerade so Mode war, englischer Stil nannte man das, und so ist es auch heute noch. Vorne an einer Ecke stehen eher zufällig scheinend vier Säulen herum, stützen einen Balkon, es sind die einzigen Originalsäulen aus Rom in der ganzen Region, einer der Besitzer hatte sie mal als Beweis seiner Weltgewandtheit von dort mitgebracht und hier verbaut. An der Wand hinter den Säulen lehnen Grab- steine, die irgendwann aufgetaucht waren, im Rasen der Auffahrt liegen Kanonenkugeln.
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Und die Geschichte der Leute auf Steinsegen, ihrer wechselnden Besitzerfamilien? Nun ja, gibt es viel halt, sowas sammelt sich ja über acht Jahrhunderte, und natürlich gab es alles Mögliche in diesen Zeiten, inklusive eines preußischen Finanzministers, von dem auch noch eine Büste im Garten zeugt, aber vielleicht bleibt am besten festzuhalten, dass die Burg seit dem 18. Jahrhundert nun schon im Besitz der von der Noldens ist, auch, wenn es manchmal sehr knapp gewesen sein mag, der ein oder andere Onkel das Anwesen fast in den Ruin getrunken hätte, zum Beispiel. Es gab auch mal einen von der Nolden, - das war aber glaub ich noch vor ihrer Zeit auf Steinsegen - der, um seine Stärke zu beweisen (und zu beweisen, dass er stärker war, als der Fürst, der ihn als Gast bei sich hatte), mal gegen einen Bären kämpfte, während einer Abendveranstaltung, zur Erheiterung der Gäste, und gewann.
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Schloss Steinsegen kann übrigens heute für Hochzeiten und Ähnliches genutzt werden, und es ist auch ein Mietshaus, und auch so nahm alles seinen Lauf, also der Weg in die Jetztzeit, eines Tages in den 70ern stand ein Künstler vor der Tür und sagte, er würde gerne in dem damals noch vollkommen baufälligen Schloss wohnen, er hätte auch schon zusätzliche Interessenten. Von der Nolden, gerade frisch und gegen den Rat aller seiner Freunde und Familie mit der Pflege des Anwesens betraut, sagte zu.
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Es ist schön, sich von Rahel rumfahren zu lassen an diesem Tag, über Landstraßen und durch Ortskerne, und sie hat zu allem etwas zu sagen, Schulen (zum Glück eine gute für ihre Tochter), irgendwelche Industriehallen, die man mal wieder auf Felder setzt, die dann nicht mehr der Landwirtschaft zu Gute kommen können, Rapsfelder, Baumsterben, beliebte KiTas, Lokalpolitik. Ich kann verstehen, warum sie wahrscheinlich in den Gemeinschaften vor Ort häufiger darum gebeten wird, alle möglichen Aufgaben zu übernehmen, an dem Tag ist ein heißes Thema, das Unbekannte sie jetzt auch noch für den Vorstand der Wahlaufsicht zur anstehenden Landtagswahl vorgeschlagen haben, aber irgendwann ist der Teller halt voll. Genug zu tun hat sie: als Doktorantin, Künstlerin, Fotografin, Mutter, Landwirtin (das Offensichtlichste fällt einem immer erst nachher ein, ich habe sie den ganzen Tag gar nicht gefragt, ob sie selber alltäglich involviert ist, auf dem Hof und den Feldern, oder ob diese Arbeit eher ihr Mann übernimmt), Journalistin, Landfrau-Vorsitzende – genug zu tun hat sie, wie gesagt.
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Irgendwann gegen Mitte unseres Trips fällt mir Folgendes auf: Ich habe, aus meinem Lifestyle heraus und damit vermeintlich als notwendig empfundenen Lebensregeln, nur einen einzigen, das meine ich ernst, einen einzigen Gegenstand in meinem Besitz, den ich nicht mit meiner eigenen Körperkraft davontragen könnte. Das ist mein, derzeit in meinem untervermieteten Zimmer in Köln stehender, Schreibtisch, vor elf Jahren von einer WG-Mitbewohnerin in Pforzheim übernommen, sie hatte ihn selber schon bei ihrem Einzug von ihrem Vormieter erhalten, als ihn Melda in Köln das erste Mal sieht, kommt sie nicht umher, auszurufen, wie hässlich er sei. Anyway, mit Rahel in ihrem schwarzen Tiguan fahren wir durch die Landen, und überall ist eine gewisse Weite, Gewicht. Felder, der Hof, die Landmaschinen, ganz selbstverständlich gibt es hier Dinge, die einem gehören und das Zehn-, das Hundertfache eines menschlichen Körpers wiegen, sich schon gar nicht mehr, gegen ihn aufwiegen lassen, im Falle der Felder ja auch was-weiß-ich-wie-viele Körper ernähren. Wir sprechen darüber, und sie sagt, dass mit all diesem Besitz halt auch ein Gefühl der Verantwortung komme, diesen nun aber auch sinnvoll zu nutzen. Es gibt dieses Gefühl auf dem Land, dass man sich selber und miteinander die Dinge schaffen muss, die man braucht, auch, weil es sonst keiner für einen macht. Ich weiß auf jeden Fall nicht, ob ich jemals in meinem Leben so viel an einem Tag über Häuser und Hausbau geredet habe, eher nicht. Aber auch das scheint hier kein Luxus sondern Notwendigkeit zu sein, genauso, wie das Autofahren. Apropos, es ist auch sehr nice, dass Rahel eine der wenigen Kunden zu sein scheint, die ihren SUV tatsächlich für das Fahren im Unterholz benutzt, sie zeigt mir gleich zu Beginn, auf dem Weg zu Arnold von der Nolden, ein paar Waldpfade rund um Steinsegen.
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Was waren eigentlich so rote Fäden, den Tag lang, rund um Hedem? Vielleicht ist es Zeit für ein Resümee, wie am Ende einer Reality-Show, und ich entschuldige diese Stil-technische Geschmacksverirrung vor allen Beteiligten – also, irgendwie scheint es viele Geschichte von „Obwohl“ und „Dennoch“ und „Auch“ gegeben zu haben: Obwohl Herr von der Nolden von allen Seiten davon abgeraten wurde, die Verwaltung Burg Steinsegens zu übernehmen, machte er es dennoch, und es klappte, wider Erwarten, auch. Dabei ging er allerdings immer auch noch Erwerbsarbeiten, so, wie das auch Rahels Eltern taten, sie waren Landwirte im Nebenerwerb, und das ist schon eine ganz schöne arbeitstechnische Hausnummer, aus meiner heutigen Perspektive. Rahel hat ja jetzt dann auch nicht gerade wenig zu tun jeden Tag. Sie ist dabei aufs Land zurückgekommen, obwohl sie es sicher auch in einer Großstadt ausgehalten hätte, so wirkt sie zumindest auf mich. Wobei sie selber lachend sagt, dass es für sie schon das volle Leben sei, nun mit dem Hof auf der Hauptstraße eines Ortes zu sein und nicht mehr an seinem Rand, wie in ihrer Kindheit noch, da waren nur Felder um einen herum. Es sind alles auch Lebenswege, die immer darum gingen, zu etwas Ja zu sagen, so wie Rahel oder auch Alex zu ihrer Vergangenheit auf dem Land und Dietmar Horn vor vielen Jahren zu einer sich auf einmal auftuenden Zukunft auf demselben Ja sagten. Herr von der Nolden hat auch immer wieder Ja gesagt, gerade in entscheidenden Momenten schien er, trotz all der Familiengeschichte, flexibel gewesen zu sein. Rahels Mann Georg schließlich hat von Anfang an Ja zu Hedem gesagt, und auch zur Landwirtschaft, dies sogar in seinem Fall im Haupterwerb, für ein Studium derselbigen war er mal weg, für ihn ist das Bestellen der Böden eine Passion und eine Wissenschaft, sagt Rahel, und Rahels Vater staunt zumeist nicht schlecht, was Georg mit seinem mitgebrachten Wissen alles aus den Böden hier herausholen kann. Nun vielleicht auch noch eines der größten Unwörter der letzten Jahre aus dem Landleben, wie Rahel findet, und zwar die Position und der Titel der „Kümmerer“. Irgendwann wurde der Begriff wohl mal als eine Art ehrenamtliche Rolle im Diskurs über das Leben auf dem Land eingeführt und auch mit einer gewissen Wertigkeit aufgeladen, mit der Zeit stellte sich aber heraus, dass hinter all den daraufhin gern und neu ausgeschriebenen Kümmerer-Positionen eigentlich nur jede Menge unbezahlter Arbeit steckte. Eine Position auch, die zumeist immer von denen übernommen wird, die sowieso schon zu viel machen. Ich glaube, Rahel hat am Ende Nein zum Vorsitz der Wahlaufsicht gesagt. Im Zentrum von Rahden kommen wir an der einen, anscheinend super beliebten, Eisdiele vorbei, und Rahel erzählt ein wenig schmunzelnd, dass es mal irgendwelche Stadtplanungen gegeben hätte, die entweder, wenn ich mich recht entsinne, gleich die ganze Eisdiele oder zumindest einen Brunnen oder Bänke, auf denen alle ihr Eis anschließend immer essen, platt gemacht hätten, und das wäre ein riesiges Thema im Ort gewesen, in der Zeitung diskutiert, schlussendlich dann auch gekippt. Wir fahren an den weiter Eis-essenden Menschen von Rahden vorbei. Manchmal wissen sich die Leute auch schon noch zu helfen.