Zeit
25. Juni 2022
Wem gehört die Zeit?
Wenke und ich halten mitten auf der Straße, um noch eine Windkraftanlage zu fotografieren, aus dem Auto heraus, ein paar Locals (genauer: eine ältere Dame in einem Ford und ein schon richtig alter Herr auf einem Rad) müssen um uns herum und fucken sich darüber ab, verständlicherweise, wenn ich ehrlich bin.
Eine Landstraßen-Gabelung später halten wir erneut, dieses Mal allerdings auf einem Stück Schotter, gucken und fotografieren weiter die Windräder, die hier zu Dutzenden in den Feldern der sanft rollenden Hügel stehen. Ein paar Minuten zuvor hatten wir noch den Klatschmohn am Rand der zu dieser Jahreszeit weich wirkenden Getreidefelder beschaut, sein Rot fast ein Geruch.
Wir sind auf dem Weg weg von der Wewelsburg und irgendwo hin, wo wir was Essen können, wahrscheinlich geht das in Büren. Wenke und die Direktorin der Burg hatten vorher beide sehr farbenfrohe Klamotten getragen, Wenke trägt sie auch immer noch, ich aus irgendeinem Grund allerdings hab ausgerechnet an diesem Tag eher ein dezentes Hemd an. Auffällig viele Mitarbeiterinnen der Wewelsburg schienen farbenfrohe Kleidung zu haben.
Es wird tatsächlich Büren werden, hinsichtlich des Essens, und bis das griechische Restaurant am Marktplatz(?) in der Innenstadt aufmacht findet Wenke noch eine lila Lederjacke auf 50 Euro reduziert, die Verkäuferin im Geschäft erklärt es uns so, dass sie eigentlich ein Laden für (Leder)schuhe aus eigener Herstellung seien, und die Jacken und ebenfalls im Angebot befindlichen Taschen würde man immer für Messen dazu kaufen, um ein farblich passendes Ensemble zu den Schuhen zeigen zu können. Mir gefallen die ausgestellten Sandalen im Laden sehr, sie haben so schlicht schwingende Formen, Wenke meint, während sie sich zwischen ungefähr sieben Jacken zu entscheiden versucht, ich solle doch einfach mal eine anprobieren, aber es gibt nur Damengrößen. Hinter der Kasse im Laden eine rassistisch wirkende alte Schuhpflege-Blechwerbung, zur Dekoration.
Nach unseren Bifteki schaffen wir es in der Abendsonne tatsächlich noch raus zu den Externsteinen, wir parken am Straßenrand, vor dem offiziellen und bezahl- pflichtigen Parkplatzgelände, Wenke will sich die Gebühren sparen, ich habe Sorge, dass wir vielleicht abgeschleppt werden, gleich unten gegenüber der Parkplatzeinfahrt gibt es einen größeren Teich und auf seiner Oberfläche sind nun im glänzenden Abendlicht Mücken ohne Ende, ein Konzert, oder eine Gala, oder so, ein junger Mann mit Bart und einem ziemlich langen Objektiv schießt Fotos, aber eher wohl vom sich anbahnenden Sonnenuntergang. Auch beim zweiten Besuch wirkt alles, das Areal und die Steine selber, ein bisschen wie Phantasialand.
Das erste Mal war ich mit Alexandra, einer anderen Alexandra allerdings, als der schonmal erwähnten aus Bielefeld, Mitte Mai bei den Steinen gewesen. Diese Alexandra hat mir auch das den Steinen vorgelagerte Horn-Bad Meinberg gezeigt, sie ist in der Nähe davon aufgewachsen. An diesem heißen Maitag befinden Alexandra und ich ebenfalls, dass die Externsteine ein bisschen Phantasialand seien – wahrscheinlich, weil die Steine an manchen Stellen so unnatürlich glatt, von den Jahrtausenden der Witterung, geworden sind, auch, weil sie wie angemalt aussehen, in all ihren Farbwechseln und -nuancen. Besonders ist vielleicht auch, dass ich in Alexandra jemanden an diesem Tag treffe, die auch Höhenangst hat, und so legen wir beide relativ schnell und ohne große Gewissensbisse den Plan, auf die Steine hochzusteigen, wie man es als guter Tourist hier eigentlich macht, wieder bei Seite.
Ich bin auch nicht aufs Hermannsdenkmal raufgelaufen, das war noch etwas vor Horn Bad Meinberg gewesen, am Tag der Arbeit (1. Mai). Während ich da vor dem Denkmal stehe und warte, ob ich nicht vielleicht doch noch etwas Mut finde, koordiniert auf der Treppe hoch zum Eingang ein Vater sehr geschickt einen ganzen Ausflug an Kindern für den gemeinsamen Aufstieg, es hängen auch noch mehrere Erwachsenengenerationen an der Gruppe mit dran. Ich mache zumindest dahingehend das Touri-Ding allerdings, als dass ich mir später ohne großes Wimpernzucken für fünf Euro eine Halbliter-Flasche Cola hole. Während ich weiter warte, kommt ein Paar auf ganz ansehnlich ausladenden Mountainbikes den Weg hinauf, kreist einmal ums Denkmal drum herum, er fährt ohne zu Halten gleich wieder den Weg bergab, „Was soll man schon hier?!“, ruft er über die Schulter hinweg seiner Begleitung zu, sie schaut etwas verwirrt hinten drein, vielleicht auch ein bisschen enttäuscht, sie hat ein Jersey an, das wie von NASCAR oder vom Motocross aussieht. Auf den breiten Treppen runter zu dem Aussichtspunkt gleich hinterm Denkmal erzählt eine Mutter ihrer Mutter und ihren Kindern etwas von den früheren schrecklichen Zeiten, und irgendwie wird mir da fast ein bisschen schlecht, vielleicht bin ich aber auch nur traurig, dass gerade einige Schulklassen die gesamte Mauer des Aussichtspunktes beanspruchen. Am Denkmal und dieser einen abgebrannten Hütte wieder vorbei und runter zum Hauptareal für Snacks und Souvenirs, gönn ich mir noch eine Pommes, dann steig ich wieder hinab, nach Detmold zurück, wieder zu Fuß, aber dieses Mal find ich einen Waldweg für den Abstieg – hoch war ich den dankbar einfachen Routen- angaben eines Kioskbesitzers aus dem Detmolder Hauptbahnhof gefolgt (unter weiterer Zuhilfenahme der beraterischen Qualität eines sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls im Kiosk befindlichen Mannes mit Rucksack und weißem Bart, der tatsächlich nicht so wirkte, als ob er den Kiosk irgendwann bald wieder verlassen würde, aber Detmold ist auch weird am Bahnhof, es gibt keine so richtig einladende Bahnhofshalle mehr), dieser vorgeschlagene Weg war aber halt nur Straße lang, und auf der hörte nach dem Ende der Siedlungen auch der Gehweg auf, also ging ich die folgenden Serpentinen durch den Wald, wie früher mit meinen Eltern auf irgendwelchen Wanderungen, am Fahrbahnrand, ab und zu schlichen Rennradfahrer gehobenen Alters auf der letzten Rille vorbei, später sehe ich welche von ihnen bei der Fünf-Euro-Cola wieder, einer macht da so ganz komisch und vielleicht als Kritik daran gemeint das lautstärkere Weinen eines nahegelegenen Kindes nach. Beim Aufstieg der Raps im Tal weiter unten blühte voll und mir war zu heiß unter meiner Jacke.
Am Vorabend war meine Auftaktlesung gewesen, genau zur Mitte der OWL- Literaturresidenz, in Detmold, (war ein schöner Abend) ich hatte noch eine Nacht da gepennt, im Altstadt-Hotel, das irgendwie auch ein Geheimtipp ist, und warum erwähn ich das dann hier? Coole Hotelinhaberin, wenn dass die Frau an der Rezeption war, was ich irgendwie vermute. Nachts schaute ich noch Columbo auf dem Hotelfernseher, wollte aber den Mord zu Beginn nicht sehen. Noch später in der Nacht entdeckte ich, dass es gleich mehrere Bibelsender hintereinander gab, in einem von ihnen eine Talk-Sendung, ein in der Freikirchen- Szene bekannter Pastor ist darin zu Gast, er war eine Zeit lang auch mal Mitglied der Kölner Gemeinde, in der ich wiederum aufgewachsen bin, ich erkannte ihn in der Sendung erst fast gar nicht wieder, weil er früher lange Haare gehabt hatte, von der Hamburger Reeperbahn gekommen war, immer eine Collegejacke mit aufgestickter Dornenkrone trug. In der Talkshow hatte er jetzt ein Hemd und ganz ordentliche Schuhe und einen Kurzhaarschnitt.
Beim Abstieg vom Hemannsdenkmal traf ich auf eine aus einem Baumstamm gehauene Wildschweinfamilie, die Skulptur stand ohne weitere Hinweise am Rand einer Fläche, auf der gefallene Bäume lagen. Wieder im Tal lief ich einen romantischen Bachweg stadteinwärts, auf dessen Windungen sich ein Pensionär von mir für eine Zeit lang verfolgt fühlte oder sich zumindest häufiger nach mir umdrehte, ich versuchte, wie immer in solchen Situationen, mich unmerklich zurückfallen zu lassen, was irgendwann auch gelang. Die schnelle Alternative wäre gewesen, etwas Interessantes am Wegesrand zu sehen und sich in der Betrachtung dessen zu verlieren oder auf einmal eine ganz wichtige SMS im Stehen schreiben zu müssen. In der Stadt wieder angekommen, gibt es auf einer Café-Terrasse ein Konzert, ich sitz an einer Gracht etwas weiter, hör der hinüberkommenden Musik zu, der Pensionär taucht wieder auf, läuft am anderen Grachtufer vorbei, er hat eine Schiebermütze und einen Trenchcoat an, irgendwie geh ich ohne Frage davon aus, dass die Spielenden von der Café-Terrasse Musikstudierende sein müssen, von der Hochschule hier. Beide Tage in der Stadt sieht man sie immer wieder mit ihren Koffern auf Rädern und zu Fuß, nicht unähnlich den Angehörigen von Glaubensgemeinschaften, die sich auch innerhalb eines sozialen Raumes nach ihren eigenen, parallelen Regeln und Zielen bewegen.
Als Alexandra und ich einige Wochen später an den Externsteinen sind, spielt uns gleich ein oberkörperfreier Typ auf der Flöte auf, an dieser Durchgangsstelle, wo sich die Bäume des Waldes hin zur Wiese vor den Steinen lichten. Während wir ihn passieren, hält er inne, spricht: „Willkommen an den Externsteinen.“ Kurz davor, bei diesem riesigen Holztier, das noch im Wald steht, als Sitzbank fungiert, auf dem Weg von den Parkplätzen her, war ein verballerter Dude gewesen, der, wie es schien, in Alkohol gemacht hatte bereits, für diesen Nachmittag. Am Jesusgrab weißt mich Alexandra auf die dort eingeritzten Runen hin. Wir laufen nach unserem abgesagten Aufstieg noch eine ganze Zeit lang durch das Waldgebiet hinter den Steinen, Alexandra erzählt mir von einer Filmidee, die Frage ist, wie man die Drehbuch dafür angehen könnte, die Idee klingt cool, eine Sciene-Ficiton-Geschichte, basierend auf einem Traum, den sie mal hatte, es geht in ihm um alternative Logistiklösungen, ohne jetzt zu viel vorab zu verraten. Wir kommen an drei Pensionären auf einer Bank im Wald vorbei, die eher für Kaffeeklatsch als fürs Wandern gekleidet sind, sie grüßen uns, und auch, wenn ich mir ihre Kleidung nicht mehr exakt in Erinnerung rufen kann, weiß ich, dass ich sie stylish fand. Irgendwann führt uns der Weg ein wenig ins Unterholz und wir kommen auf einmal auf der rückseitigen Straße eines Wohngebiets heraus, Alexandra weiß allerdings gleich, wo wir sind und wie es zurück geht. Während wir da so wieder aus dem Wald in die Zivilisation hervortreten, schaut uns ein Mann aus seiner offenen Garage heraus an, schaut uns weiter an, solange, bis wir die Straße herunter aus seinem Blickfeld heraus sind. Zurück an den Steinen ist da wieder der besoffene Dude, er hat mittlerweile den Schatten des Waldes verlassen, sitz oberkörperfrei in der Sonne.
Später, im Eiscafé auf der Hauptstraße von Horn-Bad Meinberg (das eigentliche Café, das wir besuchen wollten, hat ausgerechnet und nur an diesem Wochentag, ich meine, ein Mittwoch, nicht mehr nachmittags auf), erzählt eine Wanderin zwei Tische weiter allen, die es hören können, wie viel sie und ihre Kollegin am Tisch heute schon gelaufen seien und dass sie sich nun eine Erfrischung gönnen. Alexandra ist vegan und bekommt einen Eisbecher voller Erdbeeren, die Teenie-Bedienung freut sich darüber, dass sie ihr diesen Wunsch erfüllen kann, was nett von ihr ist, mich schaut sie ein wenig so an, als ob ich sus‘ bin, vielleicht war es auch meine Bestellung, Waffeln mit Eis. Eigentlich hätte ich gerne den Laguna Becher (das ist mit Blue Curacao und Sekt) bestellt, aber ich hab noch Angst um meine Verdauung, im April hatte ich einen alten Freund aus meinem ersten Studium in Wuppertal für einen Nachmittag getroffen, und da musste ich, nachdem ich in kurzer Folge Krokantbecher und Currywurst gegessen hatte, auf einmal so plötzlich und so heftig aufs Örtliche, dass ich es nur mit Mühe und in allergrößter Not auf eine Damen-Serways-Toilette im Hauptbahnhof schaffte, die ganze Halle war ich bereits in diesem komischen Gang gewatschelt, den man macht, wenn eigentlich schon alle Hoffnung verloren ist. Anyway, solche Situationen wollte ich zukünftig wenn möglich vermeiden, deswegen musste was Festes mit in die Bestellung. Mutig waren Alexandra und ich sowieso schon gewesen, wir probierten auf dem Rückweg im Wald beide ein paar Bärlauchblüten am Wegesrand, sind gut genießbar, schmecken wie Lauch und kurz am Anfang sogar ein wenig süß. Ansonsten hol ich mir auch noch ein Glas für einen Euro im größten Second Hand Laden auf der Hauptstraße, und die Verkäuferin weißt mich an der Kasse zurecht, warum ich nur ein Teil ausgewählt hätte. Das Glas hat nachträglich mit Window Color aufgemalte Marienkäfer drauf, dazu gehärtete Flüssigkeitsreste am Boden. Alexandra zeigt mir ihr liebstes Objekt, ein gesticktes Bild mit mittelalterlichem Motiv, bei dem sich vor höfischem Publikum zwei Ritter mit der Lanze duellieren und eher interessante Gesichtsausdrücke machen, während einer aus dem Sattel geholt wird, von der Lanze des Anderen. Der Laden ist in einem ehemaligen Plus gelegen (nicht unähnlich dieser Kulturstätte in Velbert Langenberg, bei der überregionalen Lesung von stadt.land.text, wo wir im Alldie-Kunsthaus waren, die halt in einem ehemaligen Aldi sitzen) und generell ist wohl gerade der Trend, das Privatleute einfach selber Second Hand in irgendwelchen Ladenlokalen machen, wenn sie es schon nicht vermietet bekommen.
Auch an Laden und Schaufenster erinnert mich die Art, wie auf der Wewelsburg in einem der Räume das SS-Besteck ausgestellt ist. Es liegt einfach in einem Plastik-Geschirrkasten. Die Idee ist, die Dinge zu zeigen, aber nicht so sehr aufzuladen, sagt die Direktorin dort Wenke und mir, durch die ganze Ausstellung der NS-Vergangenheit des Ortes werde die Präsentation der Exponate so angegangen: ohne Überhöhungen. So ist das Geschirr dann in einem Kasten, nicht einzeln und heilig herausgestellt, wie sonst vielleicht üblicher für Objekte in einem Museum. Im selben Schaukasten gibt es auch einen Kerzenständer, aber man kann ihn von vorne nicht voll einsehen, um die Nazi-Insignien an seinem Kopfende zu betrachten, müsste man eine ziemliche Verrenkung vorm Kasten machen, ich unterlasse das dann. Das Geschirr erinnert mich an die Auslage von diesem Geschirrladen nahe dem Dom in Köln, dort gibt es ein Fenster, wo so ein auf mich irre teuer wirkendes Set einfach in eine Plastikschale liegt, mit handgeschriebenem Preiszettel über einige hundert Euro dran. Ist ein cooler Laden, btw.
Das bekannteste Beispiel auf der Wewelsburg für diesen entmystifiziernden Umgang mit den Nazi-Zeit ist dieses – und ich erzähle vielleicht erstmal, was ich vorab davon gehört habe: Vorab wurde mir erzählt, dass es auf der Burg ein in ihren Boden eingelassenes Hakenkreuz geben würde, dass man dieses nie herausgenommen hätte, weswegen das Museum es nun versuche zu kaschieren, indem es Sitzsäcke darüber auslege. Tatsächlich sitzen Wenke, die Direktorin und ich, zwischen den Bean Beags auf Sitzhockern zusammen herum im besagten Raum und auf dem besagten Motiv, das allerdings kein Hakenkreuz sondern ein zwölfspeichiges Rad, ein Sonnenrad, ist. In den 90ern hat dieses Rad den Namen schwarze Sonne bekommen, ist ein gehyptes Symbol der Neonazi-Szene geworden. Während die SS die Wewelsburg nutze, hatte es diesen Namen noch nicht, war kein offizielles Parteisymbol, ein Sonnenrad, das sich in die Architektur des kreisrunden Raumes im Nordturm der Burg einfügte. Dieser Raum, Obergruppenführersaal genannt, befindet sich direkt über der ebenfalls kreisrunden, geplanten aber nie genutzten Gruft für SS Führer. Jetzt, wo wir hier zu dritt sitzen, leuchtet mir das mit den Bean Bags ein, auch der ganze Ansatz der Entmystifizierung. Als wir bei den diversen Nazi-Exponaten sind und die Direktorin uns nochmal dort den Ansatz erklärt, muss Wenke allerdings kurz lachen und sagt, dass sie das verstehen könne, aber die Sache sei, dass die Sachen eine Ästhetik, eine Ausstrahlung hätten, anziehend wären. Ich schenke Wenke später meinen Ausstellungskatalog, den mir die Direktorin wiederrum geschenkt hatte (vielen Dank). Es gibt diese Aussage, die ich vor Jahren mal aufgeschnappt und mir immer gemerkt habe, ein Freund und Walter Benjamin-Fan, Raphael, sagte mir später, dass sie von Benjamin sei: Faschismus ist die Ästhetisierung der Politik. Dazu ergänzend mein ehemaliger Wohnungsnachbar Manuel in Köln, als ich mal wieder bei ihm drüben war eines Abends (als wir noch miteinandersprachen, bevor er grußlos auszog): Manuel befand, dass Demokratie nicht ästhetisch sein könne und dürfe, sie müsse sich immer unbefriedigend anfühlen für den Einzelnen, matschig, kompromiss- beladen, gerade, dass sie nie ganz funktioniere, sei, was ihre Freiheit kennzeichne. Manuel schlief in der Wohnung in einem Schlafsack auf den Kacheln im Bad und einmal im Jahr, mindestens, ging er für ein paar Wochen wandern im Wald, pennte auch dort. Er hat Malerei an der UdK studiert. Mir haben seine Bleistift-Skizzenbücher immer am Meisten gefallen.
Den Abschluss der Ausstellung im Nordturm der Burg bilden einige Räume, die den Inhaftieren des nahegelegenen Konzentrationslagers in Niederhagen gewidmet sind. Hier ist ein komischer Fakt: Die Barracken wurden, nachdem die Alliierten dort angekommen waren, weiter genutzt, sie brachten in ihnen nun Geflüchtete unter, diese Geflüchteten blieben dann da, nicht ganz zwangsfrei, wohnen, konnten später auf dem Areal eigene Häuser bauen, wobei, es war ihnen auch nur dort und nirgendwo anders anscheinend erlaubt gewesen. Wenke und ich schaffen es nicht mehr den Berg runter und zurück nach Niederhagen, wo heute nicht mehr ganz so viel vom ehemaligen KZ übrig ist, ein Wohngebiet steht da. Auf unserer etwas mäandernden Fahrt nach Büren kommen wir allerdings noch eher zufällig an der größten Abschiebehaft Europas, laut Wikipedia, vorbei, die ist da auf einem Hügel im Wald. Direkt auf der Straßenseite gegenüber wurde eine Unterkunft für Geflüchtete eingerichtet. Als wir die Landstraße weiterfahren, kommen uns Leute aus der Unterkunft mit Einkäufen entgehen, es gibt keinen Weg neben der Straße, sie laufen auf ihr, die Locals und wir umfahren sie mit zu schnellen Autos.
In einem der den Inhaftieren gewidmeten Räume hingen eine Winter- und eine Sommeruniform, die im KZ Niederhagen getragen wurde. Ein Angehöriger eines Überlebenden hatte die Kleidung Jahre später auf dessen Dachboden gefunden und dem Museum gespendet. Sie ist gestreift, sieht fast wie eine Requisite aus. Wenke erzählt der Direktorin und mir eine Geschichte, die sie mir glaub ich schonmal erzählt hat, in der, aus einem anderen KZ, den Inhaftierten ein verlorener Knopf an der eigenen Häftlingskleidung als Beschädigung von Staatseigentum ausgelegt wurde, sie dafür mit dem Tod bestraft wurden. In der Sonderausstellung zwei Räume weiter, über das Schicksal des Kindes Inge Ransenberg und ihrer Geschwister und Eltern, erzählt uns die Direktorin, dass einer der Brüder ermordet wurde im KZ (in Niederhagen?), weil er einen Schneeball nach einem der Mädchen aus dem Dorf geworfen hatte. Ansonsten ist im Raum mit der Kleidung noch eine Tube Klebstoff (ich meine, die Marke war „Moment“, die russische Variante von Pattex) ausgestellt, der Kleber wurde in der Zwangsarbeit zum Ankleben von Kragen an Kleidungsstücke verwendet, die Inhaftieren nutzen ihn wiederrum, um den Hunger zu betäuben. Mir fällt irgendwann auf, dass es ein Ungleichgewicht zwischen der Anzahl an hinterlassenen Objekten der Inhaftieren und der der hinterlassenen und ausgestellten Objekte der Täter gibt und dass das a.) in den Begebenheiten des ausgeübten Unrechts an sich liegt und b.) gleichwohl ein komisches Gefühl erzeugt, als ob es dieses Unrecht auch heute noch einfacher habe, sich vordränge, sich unmerklich und immer wieder neu einschreibe, in unsere Zeit, die halt nicht nur unsere ist oder sein sollte, sondern auch die aller Leute vor uns, irgendwie vielleicht auch gerade derer, die man zwang, aus ihr zu gehen. Was es gibt, sind Geschichten von Überlenden, in einem der letzten Räume, und Fotos, Fotos einiger der Überlebenden, im höheren Alter abgelichtet, einer wurde fast 100 oder so. Zeit, die Geschichten in diesem Raum anzuhören, haben Wenke und ich an diesem Tag aber auch nicht, ich muss nach der Führung durch die Direktorin gleich weiter zum nächsten Termin an der Wewelsburg.
Vorher und nachher draußen sind überall Schulklassen und Gruppen generell unterwegs, es gibt auch eine Jugendherberge auf der Burg, die Direktorin war ganz froh, dass wieder was los ist. Und es gibt auf der Wewelsburg natürlich nicht nur die Gedenkstätte an das Nazi-Regime, sondern auch ein allgemeines Landesmuseum, einen Kräutergarten, etc. etc. Kurz nach unserer Ankunft kommen auf dem Hauptplatz Dutzende Kinder in Zweierreihen singend an Wenke und mir vorbei, später treffen wir wieder auf sie im Garten, wie sie Stöcke schnitzen. Ich musste übrigens so zeitig wieder los, weil um kurz nach drei noch der Bücherbus an der Wewelsburg hielt und ich dem Leiter des hiesigen Kulturbüros versprochen hatte, mir den Bus einmal anzuschauen. Vorab war ich nicht ganz sicher, warum eigentlich genau, die Begründung von Seiten des Leiters schien mir etwas zu leicht: ich würde ja schreiben, da gebe es Bücher, und so komme doch eins zum anderen. Außerdem hätten sie erst vor ganz Kurzem einen neuen Bus an- geschafft, es ist da erste Mal, dass es ein neuwertiges Modell in der fast 50-jährigen Geschichte der Linie gebe. Als ich den Bus dann sehe und mir die beiden Mitarbeitern Gerry und Tanja ein bisschen was dazu zählen, wird auch mir klar, warum Herrn Zackmüller, dem Leiter, das Ding so wichtig ist. Es ist einfach ein schönes Projekt, wie es scheint mit viel Hingabe gemacht, und es ist natürlich auch ein Bekenntnis für die Region, die Kulturförderung dort, dass man den neuen Bus für viele weitere Jahre geholt hat. Die Nutzung ist kostenlos für alle Anwohner entlang seiner Routen, er steuert die Ortschaften im Kreis an, die keine Stadtbücherei selber haben. Mich fasziniert der Bus an sich, dass er fast wie ein amerikanisches Modell aussieht, es aber tatsächlich ein in Finnland speziell im Auftrag angefertigtes Fahrzeug ist. Drinnen ist für Tanja und Gerry auf jeden Fall kein so super klassischer Arbeitsalltag, und ich bewunder irgendwie auch die fahrenden Leute des Teams, die jeden Arbeitstag vielfach wechseln zwischen dem Manövrieren des Busses auf engen Landstraßen und der Arbeit als Bibliothekar. Der Bus ist, wie Gerry erzählt, nicht selten auch immer eine soziale Anlaufstation. Zusätzlich besuchen sie alle ersten Klassen in den Orten auf ihrer Route im jeweils zweiten Halbjahr, für spezielle Programme zur Leseförderung. Als Gerry und Tanja sich wieder aufmachen, lässt Gerry nochmal die Hupe für mich ertönen, die den Bus in jeder Ortschaft ankündigt. Ein bisschen connectete ich vielleicht auch mit den beiden, weil Sie auch erzählten, dass in der WDR Lokalzeit, beim gleichen Moderator, bei dem ich auch war, das Projekt vor allem dafür kritisiert worden war, dass es sich halt bei dem neuen Bus um einen Diesel handele. Gerry lacht und meint, wäre es ein Elektro geworden, hätten halt nur die Hälfte der Bücher reingepasst.
Wo wir bei Bus sind, was leider nicht so gut geklappt hat, war die Hinfahrt mit der S61 ab dem Paderborner Hauptbahnhof, der Bus kam dann einfach nicht, und es fährt auch nur einer die Stunde, und so wurde aus einer solide geplanten Anfahrt doch noch eine ganz gute Hetze, in der ich am ZOB stehe, auf irgendeine Alternative wartend, mein belegtes Brötchen als Mittagessen vorab mit kleinen Bissen essend, wütend vor mich hingrummelnd, was das eigentlich hier wieder für ne Nummer sei. Aber es klappt alles noch, Wenke und ich treffen uns kurz vor knapp vorm Eingang zur Gedenkstätte, wie ausgemacht – achso, die ganze Zeit noch gar nicht erklärt, Wenke kam aus Köln an dem Tag zu Besuch. Später, nach Wewelsburg und Büren und den Externsteinen, fährt sie mich noch, in dem weißen Corsa, den sie sich seit einigen Jahren mit ihrer Tochter teilt, zurück nach Bielefeld, die Sonne steht da schon tiefrot am Himmel, Wenke animiert mich immer mal wieder dazu, sie doch zu fotografieren, und irgendwie unterhalten wir uns lange über ihre beiden Ägypten Urlaube. Sie rät mir, anzufangen Better Call Saul zu schauen, was ich ein, zwei Wochen später tatsächlich auch tue, sonst schaue ich auch diese vor zwei Jahren mal sehr populäre Netflix-Doku über das Cheerleader Team vom Navarro College aus Texas, USA.
>> PS: Shoutout für Zauri Matikashvili, der mich, obwohl wir uns gar nicht richtig kannten, seine Doku-Reihe "Ahnen" (2019) online hat schauen lassen, Alexandra stellte den Kontakt her. In "Ahnen" ist Zauri vor Ort an der Wewelsburg, den Externsteinen und dem Hermanndenkmal und interviewt Leute, was sehr aufschlussreich zu gucken ist. Ich habe von ihm ein bisschen die Strukturidee für dieses Gedicht gestohlen, in dem ich auch hier meine Besuche gerade dieser drei Orten miteinander verbinde. <<