heute spielte ich Tennis, auf der Wiese zwischen Wald und Wald, mit dem Hund und einem Rotmilan, ohne Regeln und Schläger. Der Rotmilan am Himmel und ein einzelnes Flugzeug. Inlandflüge sind für niemanden mehr sicher, die Flieger sind leer, die Vogelgrippe ist zurück in Deutschland.
Den Tennisball fanden wir morgens im Wasser am Damm, wir sind über verbotene Absperrungen geklettert um ihn von den Wellen zu nehmen, der Rotmilan nahm ihn später aus dem Spiel und ließ ihn über einem Jägerstand fallen.
Er prallte noch einmal, mit dem Geräusch der Tennisplätze aller Länder der Welt , von der obersten Leitersprosse ab und verschwand in einem Mauseloch.
Der Hund suchte noch eine Weile nach dem Ball, aber nicht lange.
Brunskappel: Dieses Dorf im Hochsauerlandkreis hat alles. Alles jedenfalls, was nach vier Monaten Sauerlandschreiberei für mich diese Region ausmacht. So läge das Dorf zum Beispiel ohne die immer wieder behauptete Sauerländer Sturheit heute am Grunde eines Stausees. Eine erstaunliche Überlebensgeschichte. Lage, Look und Geschichte geben dem Ort eine geheimnisvolle und zugleich vertraute Aura – wie in einem Agatha Christie Krimi oder einem von Firnis verdunkelten Landschaftsgemälde.
Aber auch die Dorffehde zwischen zwei Sägewerksbesitzern und die scheinbar nicht aufzuhaltende Schrumpfung gehören ins Bild. Und das zwischen Fachwerk und dunkle Holzverschläge bizarr überdimensioniert wirkende Schloß am Ortseingang, Ausdruck alter Feudalzeiten. Es war dazu bis vor ein paar Jahren in der Hand des „Feinds“, der das Dorf zerstören wollte.
Dabei hätten die zwei kauernden Löwen (Schafe? Hunde?) am Tor zum Schloss Wildenberg sicher auch unter Wasser toll ausgesehen.
Von Deutschlands angeblich ältester, der so genannten „1000 jährigen Eiche“ (die in Wahrheit wohl 300-500 Jahre alt ist) in Brunskappel, sind heute wegen einer Baumkrankheit auch nur noch Reste übrig. Ein schlechtes Omen für das schrumpfende Dorf, das selbst durch Sturheit diesmal kaum noch zu retten scheint.
Mein ganzes Sauerland verdichtet
Zunächst mal ist die Einfahrt ins Dorf eine Linkskurve und unterstützt damit meine wirre Theorie, mit der der Sauerlandaufenthalt und meine Motorradfahrerei im ersten Text zusammenkamen. Mitten im Dorf führt außerdem eine kleine Straße eng und kurvig den Berg hinauf Richtung Elpe und lässt mich jedesmal freudig grinsen beim Hinaufknattern. Schonmal zwei Dinge, die für mich „Sauerland to love“ sind.
Der kleine Ort im Negertal hat zum Teil 300 Jahre alte Fachwerkhäuser, ist umgeben von Wald, Feldern und Weihnachtsbaumschulen und hat überhaupt sehr viel Sauerländer Geschichte hinter sich: Brunskappel ist wie die Eiche nominell über 1000 Jahre alt: Erzbischof Bruno von Köln stiftete hier, am Bächlein Neger, zwischen Winterberg und Olsberg vor über 1000 Jahren eine Kapelle, die (viel) später namensgebend für die Siedlung wurde. Da haben wir, tiefgründend, das Katholische in der Einöde, das so lang bestimmend war fürs Sauerland.
In der großen Kirche des Dorfs erfüllt eine 250 Jahre alte Barockorgel den Raum mit Musik und erinnert mich an den Film „Schlafes Bruder“: ein Bauernjunge als unerkanntes Musikgenie des 19. Jahrhunderts. Das hätte in der Abgeschiedenheit und walddunklen Talwelt des Sauerlands auch passieren können.
Allmählicher Aderlass
Heute hat Brunskappel die gleichen Sorgen, wie viele kleine Orte der Region: es gibt keine Kneipe, keinen Arzt, kein Café, keinen Bäcker, keinen Metzger, keine Schule. Von den vor 30 Jahren im Kampf gegen die Talsperre vereinten und später entzweiten 400 Einwohnern sind heute noch rund 250 übrig. Am Ortsende, direkt an der vielbefahrenen Straße durchs Tal, stehen einige Häuser leer. Weiter hinten, wo sich das Tal weitet und einen schönen flachen Seegrund hergegeben hätte, spielen an einem sonnigen Sonntag nur drei Kinder neben der plätschernden Neger Fussball. Trotzdem gibt es natürlich eine Schützenbrüderschaft und Schützenhalle, auch einen Dorfverein und eine freiwillig Feuerwehr. Es gibt sogar jemanden, der Kunst macht, jedenfalls prangt „Galerie“ an einem Nebengebäude vom Schloß, wo Steine mit eingearbeiteten Kristallen oder Metallteilen stehen. Sorgen, Selbstverständliches und Eigensinn Sauerland Style.
Es gibt sie doch, die sagenhafte Sturheit
Dass man heute noch durch Brunskappel schlendern kann, über die kleine Brücke über die Neger, in die Kirche, um die Orgel zu sehen, den Hang hinauf zu den Höfen, zur Schützenhalle, ist zweifelsohne der immer wieder behaupteten Sauerländer Sturheit geschuldet.
Die Geschichte um die Talsperre ist faszinierend. Damals berichteten von Spiegel über Die Zeit viele überregionale Medien darüber: Der Kampf des kleinen Dorfs gegen den Regierungspräsidenten, die Landesregierung und den Ruhrtalsperrenverein (RTV) in Essen. Er dauerte zehn Jahre, von 1974 bis 1984. 400 Dörfler im Tal gegen die Politik und Verwaltung und Gerichte sowie 600.000 Menschen und die Industrie im Ruhrgebiet, die mit dem Talsperrenwasser hätten versorgt werden sollen.
In dem langen, bitteren Kampf zerbrach aber auch das Dorf in zwei Hälften: diejenigen, die ob der scheinbar immer geringeren Chancen, das Dorf zu retten, den Streitereien im Dorf und der nicht endenden Ungewissheit ihre Häuser irgendwann für gutes Geld an den RTV verkauften und denjenigen, die weiter kämpfen wollten – Plansfeststellungsverfahren, 50 Millionen investierte DM vom RTV, Landesentwicklungsplan und beginnenden Vorarbeiten zum Trotz.
Bald gab es eine Bürgerinitiative für die Talsperre und eine dagegen, es gab Anfeindungen, Straßenseiten wurde gewechselt, bei bestimmten Leuten nicht mehr gekauft, Begriffe wie „Dorfverräter“ vergifteten das Zusammenleben, es wurde nicht mehr miteinander gesprochen, aber Flugblätter gedruckt. Wer diese Stimmung über Jahre in einem 400 Seelenort ohne Blessuren übersteht, hat ein gesundes Selbstbewusstsein – oder kein Herz. Sogar der Pfarrer, der die Gemeinde mehr als 20 Jahre lang betreut hatte, konnte den Streit im Dorf nicht mehr ertragen und verließ eines Nachts Brunskappel ohne sich nochmals umzusehen.
Das Dorf und der Untergang
Diese Dorfgemeinschaft, die in Essen, Arnsberg und Düsseldorf so lässig weggeplant wurde, schien also auch ohne Talsperre unterzugehen. Ende 1983, trotz laufender Verfahren und Einsprüche, fuhren Planierraupen auf. Am Nordausgang des Dorfes schoben sie rund 40.000 Kubikmeter Mutterboden zu einem Probedamm zusammen. Dann 1984 die Sensation: Das Oberverwaltungsgerichts in Münster entschied in einem Revisionsverfahren, dass die Negertalsperre nicht gebaut werden darf. Und auch die Revision dagegen, wurde vom Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen. Im Dorf wehten jedesmal die Fahnen des Schützenverein, die Glocken wurden geläutet.
Am Ende hatten Form- und Planungsfehler und der Starrsinn einiger Dörfler zur Rettung geführt. Scheinbar. Denn der RTV pokerte und drängte noch jahrelang weiter, plante offenbar nach einer Schonfrist mit der Umsetzung erneut zu beginnen. Noch bis 2005 betrieb er „Standortsicherung“ in Brunskappel und begann erst dann Grundstücke im Dorf wieder zu verkaufen. Ein erstaunlich ausdauerndes und zugleich selbstherrliches und die Gemeinschaft zersetzendes Verhalten durch einen öffentlich-rechtlichen Betrieb unter der Aufsicht des Landes. Hier in Brunskappel, reines CDU Land, sind jedenfalls damals die ersten Wutbürger zur Welt gekommen, nicht in Stuttgart am Bahnhof.
Schloß und Mensch
Das bereits erwähnte Schloß, der Prunkbau neben der Neger gleich am Eingang zum Dorf, spielt in diesem Drama auch eine Rolle. Das Schloß Wildenberg hat einige hundert Jahre Geschichte, Abriss, Umbau und Brand, dann Neubau 1907 hinter sich. Heute wirkt es eher wie ein Herrenhaus hinter großem Tor, ein wenig verloren und vernachlässigt, ist aber ein Hingucker, wenn man wie ich in vier Monaten durch 80 oder 100 Dörfer der Region gekommen ist, die sich architektonisch doch sehr ähnlich sind.
Eigentümer diese Monolithen war bis vor ein paar Jahren der verhasste Ruhrverband. Jene Institution, die sich 30 Jahre dem Untergang Brunsskappels widmte. Wie ist es dazu gekommen? Dem letzten Wildenberg der 70er Jahre stand, nach einigen 100 Jahren Familiengeschichte im Ort, finanziell das Wasser bis zum Hals. Da kam der Plan des Ruhrtalsperrenvereins (heute Ruhrverband), eine Talsperre zu bauen und Brunskappel im Stausee versinken zu lassen, gelegen. Und obwohl Schloßeigentümer Schäfer-Wildenberg sich im Dorf als Vorkämpfer für den Erhalt des Dorfs gab, verkaufte er im zehnten Jahr es Kampfes 1984, nur eine Stunde vor der endgültigen Gerichtsentscheidung über die Talsperre, für einen zweistelligen Millionenbetrag seinen gesamten Besitz an den Ruhrverband. „Eine Stunde! Die wussten, wie das ausgehen würde. Das ist der eigentliche Skandal“, sagt einer im Dorf.
Seit ein paar Jahren ist das Schloß wieder in Privatbesitz, wenn auch nicht in der Hand derer von Wildenberg: Der alte Schäfer-Wildenberg kehrte auch nach dem Aus für die Negertalsperre nicht nach Brunskappel zurück, spekulierte angeblich mit Kakao, tätigte einige fehlschlagende Investments und verstarb vor wenigen Jahren offenbar völlig verarmt.
Ein Wald von Geschichten
Eine weitere Geschichte, über die ich stolperte, ist die von den zwei Sägewerksbesitzern, deren Konkurrenz über die Jahre zu Hass geronn. Zwei Feinde wie in einem Shakespeare Stück oder bei Dallas. Der eine ein erbitterter Gegner der Talsperre, der andere ein klassischer Kriegsgewinnler. Der eine heute tot, sein Sägewerk in Konkurs gegangen, der andere reich und mit hochmodernem Sägewerk in der Region der Platzhirsch. Da gönnte man sich nicht das Schwarze unter den Fingernägeln und kämpfte sich mit Tricks und Taktik wund.
Die Details dieser Geschichte würden hier zu weit führen, geben aber in jedem Fall einen guten Roman ab. Vielleicht schreib ich den, wenn nicht bald ein anderer tut. Wie ich schon in meinem Text über Literatur im Sauerland schrieb: Geschichten gibt es genug, richtig gute, tragische und witzige. Was in diesem Dorf zusammenkommt, ist eine Mix vieler Sauerland Essenzen.
Überhaupt seien, so erzählt man mir im Dorf, in den langen Jahren des Kampfs gegen die Talsperre wie in einem Brennglas alle erdenklichen menschlichen Schweinereien im Dorf vorgekommen, windige Figuren mischten mit und wollten ans locker sitzende Geld des Ruhrverbands, dazu Lügen, stiller Verrat und Intrigen.
„Noch heute, wenn eine Kleinigkeit vorfällt, brechen die alten Fronten wieder auf“, erzählt einer, „Da müssen ein oder zwei Generation vergehen, bevor das vergessen ist – wenn es das Dorf dann noch gibt.“
Heute leben nur noch 246 Einwohner in Brunskappel, diesem hübschen, alten Sauerländer Dorf. Holländer haben sechs oder sieben Häuser gekauft, kommen aber nur in den Ferien. Es gibt (fast) keine Kinder und derzeit keine Familien, die Kinder bekommen könnten. Wenn nichts passiert, frische Ideen und Kinder geboren werden, wird es diesmal wohl untergehen. Aber nicht im Wasser einer Talsperre, sondern in Überalterung und Landflucht des 21. Jahrhunderts und den Spätflogen einer nie gebauten Talsperre.
Das Fazitfazit ist geschrieben. Meine inoffizielle Adieu-Lesung gemacht, die große Freude mit gemeinsamen Rätseln über das Sauerland war. Die Abschlussmesse des Projekts mit allen 10 (9) Schreiber*innen und Kulturbüros und Offiziellen in Düsseldorf ist auch gelesen. Erste vorgezogene Nachwehen auf ein danach an alle Verantwortlichen versandtes Resümee der Stipendiat*innen rollten auch schon durch den Kulturverwaltungsleib („Supergau“).
Nun noch 5 Tage bis ich den Schlüssel vom zweiten Heimathafen Bödefeld abgebe. Noch Termine: Null. Außerdem mein Notizbuch verloren, mit noch 20 mehr Ideen und vor allem einer Kurzgeschichte, die nun wohl nie geschrieben wird. Aber die Zeit eh zu knapp. Immer. Einen Text werd ich noch schreiben (Brunskappel? Die Ortsheimatpflegerin?). Und das war’s dann – StadtLandText 2017.
Was noch hätte alles erzählt werden können, laut der im Computer (nicht Notizbuch) gespeicherten Notizen:
TOP 10 (= über 30)
1 Weihnachtsbaumkönigin Sauerland
2 Heimatmuseum Marsberg & Interview
2.1. Heimatmuseum Eslohe
2.2 Haus Hövener in Brilon
2.3 Eversberg Heimatmuseum
3 Skulpturenweg
3.1 Rotaarsteig Ranger
4 Hallenberg Bürgermeinster & Kump Kunsthaus Hallenberg, Bürgermeister sehr aktiv, Ausstellungen
5 Wormbach Heiligkreuzkappelle Kyrill
6 Gasthoff Schütte und Landgasthof Seemer
7 Hollenweg Legenden, Hollenstein, Märchen, Mythen aus dem Sauerland, Figuren die helfen
8 Besteckfabrik in Schmallenberg / Skurrile selbstverwaltete Museen / Westdeutsches Wintersportmuseuem, Stertschultehof (leider geschlossen), Brennpunkt Feuerwehrmuseum, Drechselmuseum (immer Donnertags)
10 Gibt es eine Sauerländerküche? Recherchereise kulinarisch in drei Teilen, Oben, Mitte, unten, Whisky&Schnäpse,
11 Eisenbahnverein Marsberg
15 Tiny Brouwers, der inoffizielle niederländische Honorarkonsul fürs Sauerland 17 Schmallenberger Dichterstreit, Lesungen Kunstverein Schmallenberg, Kulturgut Haus Nottbeck
18 Jugendkunstschule Schmallenberg / Roman Schauerte Kameramann WDR
21. Immobilienmakler – „Ich such ein Häuschen“
22. Dokufiktion Ort und Menschen
23. Von Kloster zu Kloster wandern
24. Peter Bürger, Mundartforschung
25. Stolpersteine, jüdische Geschichte Schmallenberg
26. Meditatonshaus Sundern
27. Schieferbergbau kulinarisch
28. Sauerlandradring – Mit dem Rad von Dortmund ins Sauerland
29. KUMA Kunst und Malzenrum Oberschledorn
30. Mondscheinmesse Wormbach Heiligkreuzkappelle Kyrill
31. Architektur: das unfassbar große, hässliche Haus vom Klempner in Siedlinghausen
32. Draußen: Ebike Tour, Barfusswandern, Survival, Bergwiesenyoga, Freilichtbühnen, Messe unter freiem Himmel, Geo-Caching
33. Kunsverein Sauerland in Sundern und Eslohe, verstehen sich als Reisende ZU Kunst, machen selten auch eigene Ausstellungen und Krimilesungen an seltsmen Orten
34. Filme im Sauerland (Kulisse Sauerland, Locationscout, Filme ÜBER das Sauerland)
NOTIZEN&FRAGMENTE
*Wein, Schützenkönig kann jeder: das Sauerland kürt seit 2012 die Regentschaft einer Weihnachtsgans, entsdchuldigung eine Weihnachtsbaumkönigin. Das muss man mal nachfragen.:Bundesverband der Weihnachtsbaum und Schnittgrünerzeuger. Den größten Baum haben wir in Dortmund. Meine Mutter schickte mir dazu, als ich im Ausland wohnte, sogar den Zeitungsausschnitt – ob ironisch oder ernst gemeint, darüber haben wir nie gesprochoen. (Kesting, Oedingerberg als Anlauf, Tochter Stephany Kesting war die erste Weihnachtsbaumkönigin). Recherche Weihnachtsbäume im Spätsommer. Wo fahren die hin?
Gespräch mit TW: Die Leute sind lustloser heute, und erfahren nicht viel vom Nachbarort. Die Strecken können auch mal 40 Minuten oder mehr sein, im Winter sogar gefährlich. Die wirklich Kultur wollen, holen sich, was sie brauchen – und fahren nach Köln oder Dortmund oder Kassel, je nach Sauerlandlecke. Es gibt kein Stadttheater im Sauerland, kein Orchester, keine Oper, 3 Kinos die alle den gleichen Film zeigen, kaum Off Kultur, weil es ja kaum Mainstream gibt, – alles ist ehrenamtlich, selbstorganisiert, manchmal gefördert, lebt von Enthusiasten.
Gespräch mit GS: Brauereien / Entzugskliniken im Sauerland in Kontrast bringen. Verkehrstote am W.E., Fahrdienste, Nachtbusse, Kneipensterben.
*Kneipen abfahren, Erinnerungen: Mit Opa im Keller in Attendorn, Bierverlag und Spirituosen, Sinalco, Krombacher, VW Bus T1 über die Dorfkneipen. Mein Studium der Volkskunde: Hausarbeit zu „Soziologie der Kneipe“. Wollte da nie arbeiten, weil immer einer nicht nach Haus will und in sein Bier heult, Durst hat, hofft, dass gleich die Tür aufgeht und seine zukünftige oder ehemalige Freundin vorbeikommt – beides gleich illusorisch aber mit jedem Strich auf dem Deckel mehr wahrscheinlich.
*Camping und die Holländer: Cernterparks bei Winterberg, Landal Park bei Winterberg, Kulturverein, Central Cafe Siedlinghausen, Rob Meurs, Inhaber und Betreiber des Hotels Brabander, ein niederländisches Refugium mitten im Sauerland! + Nico Brinkmann, Winterberg, Holländer Hof (der aus ganz anderen Gründen so heißt), Züschen bei Winterberg. Holländer mögen Sauerländer Städtchen, weil sie wie ihre Städte sind, nur mit Bergen, statt Ebene und Schieferfassade statt Backstein. Aufbau, gelegentliche Leere, Langsamkeit und Langeweile sehr ähnlich.
*Alles Slogans und Claim der Städte und Gemeinden zusammencutten und assoziieren, was sie bedeuten könnten: Winterberg, komm rauf zu uns…; ALLES echt! – Wir in Südewestfalen.
This is the end, beautiful friend – verfrühtes Fazit – UPDATE
16. Oktober 2017
(Dies ist eine ergänzte und erweiterte Version, Details siehe Infobox unter diesem Text)
Die Straße ist wie mit gelbem und rotem Konfetti übersät, der Fahrtwind tost ins Gesicht, das Sonnenlicht bricht so grell durch die verfärbten Baumwipfel, dass vor mir einige Sekunden nur Licht und Dunkel ist, Blindflug mit 100 km über eine Sauerländer Bergstraße – und trotzdem ein großes Gefühl von sicher und gut und hier.
Ein spektakulärer 15. Oktober 2017 war das: 24 Grad, blauer Himmel, von den Bergstraßen und Gipfeln Fernsicht und Waldhorizonte, wie ich sie im Kunstunterricht mit verschiedenen Grüntönen bis ins hellgrau immer malen sollte, Seen glitzern und strahlen, die Segelboote wie Rosenblätter auf einem Teich. Die Wiesen entlang der Strecke gemäht, die Felder geerntet, Maisstängel stehen vertrocknet hunderte Meter neben der Straße in Reih und Glied, die Kolben leuchtend gelb wie Überlebende. Das Jahr geht zu Ende und gleichzeitig in zwei Wochen auch der Schreibauftrag. Ich kann nach so einem unfassbar schönen Tag wie gestern nur hoffen, dass das Sauerland auch von mir etwas bekommen hat, außer einen neugierigen, manchmal erstaunten, immer wohlwollenden Blick. Zeit für ein Fazit.
Auch halbes Sauerland ist zu viel
„Sauerland“ bedeutete ja im Sinne der „Regionalen Kulturpolitik“ nur den Hochsauerlandkreis. Kreis Olpe und der Märkische Kreis, die auch Ur-Sauerland sind, laufen als Kulturregion „Südwestfalen“. Ich war froh über die Zweiteilung, denn schon der HSK war in seiner Fülle von Orten und Themen und Entdeckungen in vier Monaten niemals zu bewältigen. Obwohl „Bewältigung“ und erschöpfend umfassende Erzählung mein Ziel nicht war. Nur ein Kratzen an der Oberfläche dessen, was „das Sauerland“ ist. Bloß einen Bogen spannen, Momente erzählen und hoffen, dass alles zusammenhält.
Es war Arbeit, auch wenn das für Außenstehende oft so nicht ausschaute. Da fährt einer mit Motorrad und Auto rum, geht Wandern und Radfahren, trifft Leute aus der Region zum Gespräch, besucht bekannte und weniger bekannte Orte, schleppt sein Notizbuch herum, sitzt manchmal auch auf einem Berggipfel oder seiner Terrasse – und schreibt Texte fürs Internet. Manchmal handeln die von Dingen und Leuten, die ihm begegnet sind, manchmal auch von ganz anderen Sachen: eine Haustür, eine Kurve, eine leere Telefonzelle, ein Aufkleber oder ein aufgeschnapptes Gespräch, das mit „Davon träum ich!“ endete.
„Das Programm will die zehn Kulturregionen dabei unterstützen, sich auch im zusammenwachsenden (ja?, Anm.d.Verf.) Europa zu profilieren und ihre Attraktivität und Identität nach innen und außen zu stärken.“
Was man in solchen Broschüren eben schreibt.
Das mit „Identität nach Innen und Außen stärken“ passt noch am ehesten aufs Sauerland-Schreiber Stipendium. Jedenfalls dann, wenn die Texte in der Region für Zustimmung oder auch Kritik gesorgt haben, wenn sie Gespräche gestiftet oder den Blick auf das vermeintlich Bekannte hinterfragt haben. Wenn.
Klassische Kulturberichterstattung – das war mir von Anfang an klar – sollte der Westfalenpost oder dem WOLL Magazin überlassen bleiben. Meine Aufgabe sah ich stattdessen darin, in der Doppelrolle aus Bewohner und Buiterling (Zugezogener), mit begrenzter Zeit und festem Wohnsitz in der Region, das zu beschreiben, was ich bei meinen geplanten Zufallsbegegnungen erlebt habe. Nicht weniger und nicht mehr.
Und so wird es sicher auch enttäuschte Erwartungen gegeben haben, durch die Art und Weise, wie ich meinen Auftrag erfüllt habe, aus der Region zu berichten. StadtLandText war ein Pilotprojekt, ich der erste Sauerlandschreiber, der seine Rolle erst allmählich fand, die zentrale Orga erschien an manchen Stellen ausbaufähig und unterfinanziert – alles ganz normale Vorgänge in einem Projekt diser Größenordnung also.
Entäuschungen mögen aber auch durch die Inhalte entstanden sein: Manchmal führt so eine Spiegelung der eigenen Heimat, wie es die Sauerlandtexte ja auch sind, eine Beschreibung also des ganz Nahen und Gewohnten durch einen Fremden, zu der unangenehmen Frage, ob es denn so sein muss. Oder ob es auch anders sein kann. Und was „das Sauerland“ eigentlich ausmacht – jenseits der Klischees (stur, bodentständig, heimatverbunden, geraderaus…). Die Spiegelung kann andererseits auch dazu führen, stolz auf etwas zu sein, das man gar nicht als so besonders begriffen hat. Da bekommt man dann von Außen gezeigt, dass es einem gut geht, dass das Leben hier gut ist und die Sauerländer zum Bespiel gar nicht stur, sondern im Gegenteil neugierig, auskunftsfreudig und offen sind. Da interessiert sich einer, das ist doch immer ein gutes Gefühl, oder?
Doku-Fiktion
Überraschungen, Sackgassen und Zufallsfunde, längst Bekanntes und Abseitiges nebeneinander, Kritisches und Affirmatives – manchmal alles in einem Text. Das ist mal besser, mal gar nicht gelungen. Ob ein paar Sauerländer nach vier Monaten dieser punktuellen Berichterstattung und subjektiven Schreiberei ihre Region ganz anders sehen? Ob Leute, die noch nie im Sauerland waren, wegen meiner Textes herkommen – nun, bestimmt nicht. Das wäre vermessen.
In vier Monaten konnte ich nicht mehr beschreiben, als zwei, drei Bojen im Meer aus regionalen Eigenheiten, Traditionen und Geschichten. Ich habe ohne Anspruch auf regionale Vollständigkeit, journalistische Korrektheit und überprüfbare Schlussfolgerungen geschrieben. Das ganze ist eher eine Art Doku-Fiktion geworden als ein Portrai oder gar eine auch nur in Ansätzen erschöpfende Beschreibung. Im Zweifel für den Zweifel, wie Tocotronic mal gesungen haben.
Überhaupt habe ich nach den ersten Wochen mit dem Gefühl „Ich muss über dies&jenes schreiben, das haben die sich gewünscht, das ist ein Highlight, hat jemand gesagt“ einfach nur noch über das geschrieben, was mich packte. Das heißt, was mich tatsächlich animierte, es aufzuschreiben. Ganz. Nicht was repräsentativ oder offensichtlich interessant war. Und so müssen mehr als 30 weitere Ideen, Themen, Orte oder Menschen auf den nächsten Sauerlandschreiber warten – der dann aber ganz andere Dinge suchen und finden wird.
Bloß ein Blog
Hinzu kommt: ein Blog, selbst wenn er so viel gute Presse bekommt und auf so viel Interesse stößt wie StadtLandText, erreicht trotzdem nur eine sehr (sehr!) begrenzte Zahl von Menschen. Kleine fiktive Rechnung: Hier leben nur rund 200.000 potentielle Leser (habe als Zahl mal die Wahlberechtigten genommen). Von denen dürften vermutlich die üblichen etwa 10-15% prinzipiell Interesse an kulturellen Themen haben. Von den 10-15% wollten vielleicht 50% wirklich auch mal hineinlesen in den Blog, nachdem sie aus der Zeitung oder dem Fernsehen davon erfuhren und lesen überhaupt auch mal Blogs. Und von denen haben das dann 50% auch wirklich gemacht: Bleiben rechnerisch 8000 Leute. Ich glaube, es waren weit weniger.
Was mir oft passierte in den vergangenen Monaten, war das Folgende: Ich stellte mich als der Regionalschreiber Sauerland vor. Viele hatten dann tatsächlich vom Projekt gehört und sagten: „Finde ich super. Bin aber noch nicht dazu gekommen mal reinzulesen.“ Wie das Projekt außerhalb, im Rest von NRW, wahrgenommen wurde? Ich habe da nach Jahren als Zuarbeiter und Redakteur von Onlinekulturmagazinen so eine Ahnung.
Stille Tage in Kultur Trotz Berichterstattung in allen Westfalenpost Regionalausgaben, in der WDR Lokalzeit, dem Woll Magazin und dem Westfalium, trotz der fleißigen Arbeit des HSK Kulturbüros: Auffällig fand ich, dass ich in vier Monaten keine einzige Anfrage aus der Sauerländer „Kulturszene“ oder sagen wir, von den Kulturmachern der Region, für ein Gespräch bekommen habe, keine einzige Einladung zu einer Veranstaltung, kein „komm doch mal auf einen Kaffee vorbei“, nichtmal ein Hinweis, das und das könnte interessant sein – und natürlich auch keine Einladung zu einer Lesung.
Das ist aber nicht schlimm und vielleicht nichtmal überraschend. Denn die Projekte, die ich kennenlernte, wurden ausschließlich durch ehrenamtliches Engagement am Leben gehalten. Und da hat man vermutlich einfach zu sehr mit der eigenen Arbeit zu tun als auf Öffentlichkeit durch ein Projekt wie StadtLandText zu hoffen, das selbst kaum Öffentlichkeit hat – außer die virtuelle in den Medien. An der Menge von Kulturplayern kann es wohl nicht gelegen haben, die sind, trotz der Vertreutheit zählbar. Wen ich dann in den vergangenen Wochen kennenlernte, hatte ich entweder vom Kulturbüro HSK empfohlen bekommen, selbst entdeckt oder von Gespärchspartnern ans Herz gelegt bekommen.
Fazitfazit
Ich habe in vier Monaten 1000 km Strecke im HSK zurückgelegt, habe das erste Heimatmuseum meines Lebens besucht, habe beim Löschen eines Brandes geholfen, habe Kirchen und Kapellen und Kreuzwege durchschritten, habe viele offene, neugierige, auskunftsfreudige Menschen getroffen, war auf Lesungen, Vernissagen, Konzerten, ich bin Flüsse entlang und Berge rauf und runter gewandert und gefahren, habe Klöster und Kunsthäuser von Innen gesehen, habe Menschen gesprochen, die ihre Region lieben, aber auch um die sozialen Probleme (Öffentlicher Nahverkehr, Kneipensterben, Dorfgemeinschaftsverödung, wenig tägliche Kulturangebote, Jugend geht weg…) wissen.
Ich stellte fest, hier ist fast alles aus Bürgersinn und Eherenamt. Jedenfalls die Kultur zu großen Teilen und selbst der Kulturjournalismus. Bei Zeitungsatikel-Honoraren der WP und WR von 12-20 Euro macht man das aus Lust und Laune, nicht aus Verdienstabsichten.
Was habe ich noch gelernt?
Hier sind die Sonntage oft alles andere als geruhsam, wenn das Wetter im Sommer und Herbst stimmt: Dann wird 14 Stunden bis in den späten Abend hinein gearbeitet, die Trecker dröhnen die Straßen hinauf und hinunter, abends wird noch mit Flutlicht auf den Wiesen Heu gewendet. Hier wird am Samstag der Gehweg mit Spatel, Drahtbürste und Besen bearbeitet, hier spricht kaum einer gern und gut über die Holländer, die hier viele Häuser und Hotels kaufen, aber ohne sie gäbe es die Hälfte des Tourismus nicht. Hier sieht man keine Polizei, so gut wie keine Menschen mit irgendeinem „Migartionshintergrund“, hier fahren fast nur Kinder und Alte Bus. Hier macht man regelmässig Abendspaziergänge durch die Feldwege, mit Hund oder Mann oder Freunden, sagt Hallo zum Entgegenkommenden. Hier gibt es eine Weihnachtsbaumkönigin, sehr viele Fliegen trotz angeblichem Insektensterben und es gibt um ein Vielfaches mehr Hochsitze als Theater- und Kinositze. Hier lässt man die Kirche im Dorf, aber geht auch seltener hinein. Und wenn man die Kirche kritisiert, dann wird vielleicht auch mal ein olles Plakat abgehängt, aber angesprochen wird man auf den Text nicht. Auch wenn man später hört, dass er nicht sehr gemocht wurde. Außerdem: Wer regelmäßig Hoch-Kultur schätzt, fährt ins Ruhrgebiet oder nach Köln, wohnt trotzdem gern hier. Wer liest, findet viele, tolle, eigentümergeführte Buchhandlungen, mehr als im Ruhrgebiet. Hier ist jeder in irgendeinem Verein und spricht über Heimat – und trotzdem scheint keiner mehr zu glauben, es geht einfach immer so weiter.
Hier begegnete ich Menschen, die ein gutes Leben führen, längst nicht mehr „hinterwäldlerisch“ abgetrennt von den Entwicklungen außerhalb. Ganz im Gegenteil: Viele der ganz großen Themen, wie die Digitalisierung, die Umbrüche in der Landwirtschaft, der Klimawandel, veränderte Familienstrukturen, Zuwanderung und Abwanderung, überalternde Gesellschaft sind hier sogar früher als anderswo sichtbar – mit allen Konsequenzen. Und der Sauerländer macht weiter. Weil er immer noch weiß, was er hat. Und ich weiß es jetzt auch.
Sauerland Haikus IV – fast vergangene und untergegange Dörfer, wartende Grillen
13. Oktober 2017
Ein paar letzte Miniaturen der letzten Wochen. Herbst ist, und die Sauerlandzeit geht zu Ende. Für mich. Das Leben hier wird weitergehen wie zuvor. Gut zu wissen.
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