Häuschen im Grünen

Wer träumt nicht von einem Häuschen im Grünen? Ein Ort jenseits der Stadt, fern vom Lärm, unberührt von der täglichen Unruhe, frei vom Stress. Ein Zufluchtsort auf dem Land, umgeben von Wiesen und Wäldern, ist schon seit der Industrialisierung Traum vieler Städter.

Nicht wenige der Pariser Banlieue sind so entstanden: Vor der Stadt flüchtende Wochenendpendler aus dem 19. Jahrhundert haben das Dorf zur Stadt gemacht.

Ein Wochenendhaus  auf dem Land zu haben, ist ein großes Abenteuer und kostet Zeit, denn auch das Haus will Aufmerksamkeit und muss gepflegt werden. Davon erzählt Sarah Khan amüsant in ihrem Roman, der bei dem Verlag mikrotext 2019 erschienen ist.

Aber man kann es auch viel leichter haben und einfach auf dem neu eröffneten KulturFlecken-Weg zu dem Häuschen im Grünen wandern. Die Installation des Siegener Autors Crauss lädt zum Verweilen ein, und gibt dem Vorübergehenden sogar Textfutter mit auf dem Weg. Dabei ist es eine völlig nachhaltige Einrichtung. Ein Häuschen im Grünen für ALLE!

       (c) Crauss                  (c) Sebastian Richter

Das Beitragsbild ist von Crauss, vielen Dank dafür!

Mehr von Barbara Peveling

Südwestfalen, mon amour

Im Sommer riechen Felder nach Stroh, nach trockener Erde und Gülle. Für Menschen aus der Stadt ist das bei einer Autofahrt manchmal unangenehm.

Mach das Fenster zu! Ruft mein Beifahrer, der auch mein Mann ist, er ist aus Paris gekommen, um uns nach Hause zu holen. Er hat keine Zeit gehabt, sich an den Geruch auf dem Land zu gewöhnen. Dabei will ich es gerade jetzt auflassen, um genau diesen Geruch zu riechen, der eine ganz eigene Art von Sommer transportiert, meinen Sommer, so wie ich ihn schon immer kenne, voller kleiner grüner Frösche und Kaulquappen, die ich schon beobachte, seit sie schwarze Punkte waren im Laich. Irgendwann war der Sommer vorbei und auf der Kellertreppe fand ich dann meist noch einen kleinen, vertrockneten Frosch. Ich trug ihn hinaus, legte ihn in den Bach und versprach ihm, dass er im nächsten Frühjahr wiederkommen dürfte, als kleiner schwarzer Punkt und dann sollte er nur aufpassen, und nicht wieder den Weg hinunter in die Kellertreppe nehmen. Das weißt du ja jetzt, sagte ich und sah zu, wie der kleine, leblose Körper zwischen den Steinen hin und hergetrieben wurde.

Das mit den Fröschesammeln war vorbei, als ich auf eine Schule in die Stadt kam. Amphibien waren albern und der Geruch von Feldern nur Gestank, Gucci-Brillen waren wichtig und Levis Jeans oder Schuhe von Converse. Ich kannte das alles nicht. Ich trug pinke Radlerhosen und neongelbe T-Shirts, hatte Fönfrisur. Noch heute erröte ich, wenn ich alte Fotoalben durchblätter. Ich war das Mädchen aus dem Hinterland. Warum auch hätte ich was anderes tragen sollen, bei uns zu Haus liefen alle so rum. Es gab keine Läden, in denen Levis, Gucci, Hilfiger verkauft wurde. Es gab auch kein Amazon. Anzüge gabe es von der Stange, oder gleich vom Schneider, ein Sommerkleid von Esprit, das war das höchste der Gefühle. Die Leute im Dorf fuhren nach der Arbeit im Betrieb mit dem Traktor hinaus aufs Feld. Sie holten die Kühe rein oder scherten die Schafe. Daran kann ich mich so gut erinnern, an die Felder, ihren Geruch, die Frösche, überhaupt die Tiere. Ich habe auch nicht vergessen, wie in den ersten Wochen über mich gelacht wurde, wie eine Mitschülerin mit in den Hintern trat, mitten auf den Schulhof und einfach nur so. Weil ich blöd war.

Ich war nicht blöd, ich war anders.

Aber das wussten sie nicht und ich habe es bis heute nicht vergessen. Ich habe auch nicht die Jungs vergessen, die mir hinterherliefen, wie man so sagt, und über die ich so froh war, weil, wenigstens die interessieren sich für mich. Dass ich nur gerade gut genug war, um mir mal an die Brust zu fassen, mit mir rumzuknutschen, ignorierte ich anfangs. Ich dachte, sie fänden mich hübsch, ich glaubte, sie würden mich mögen, wenn sie vorbeikamen, um mich auf ihren schicken Maschinen eine Runde durch die Stadt zu fahren. Alles war da in dieser Stadt. Kleiderläden und Schuhläden, nicht nur ein Kino, sondern viele, Discos und Cafés, mit Wänden, die nur aus Spiegeln waren, in denen man saß und Café au lait trank, keinen Milchkaffee, wie bei uns auf dem Dorf.

Und weil dieser Café au lait in der Großstadt so lecker war, dachte ich sehr lange, Frankreich wäre das beste Land, um Milchkaffee zu trinken. Ich glaubte, in Frankreich müsste der Café au lait genauso schmecken wie in der Großstadt, wo er cremig war, mit viel aufgeschäumter Milch. Aber das stimmt gar nicht und wer in Frankreich einen Café au lait bestellt und denkt, er würde jetzt einen Milchkaffee bekommen, der wird bitter enttäuscht werden, so wie ich damals mit den Jungs. Die ließen mich nämlich schneller wieder fallen als das töte Fröschlein im Bach davon schwamm, wenn ich sagte, sie sollten mich unten rum nicht anfassen.

Heute weiß ich, das Café au lait kein Milchkaffee ist, denn wer einen deutschen Milchkaffee will, muss in Frankreich einen Café Crème, bien blanc bestellen. Aber die Jungs von damals, die wissen es wahrscheinlich immer noch nicht, wenn sie mit ihren schicken Schlitten durch die Straßen fahren, in denen sie Frauen herum kutschieren, denen sie nicht mehr nur an die Brüste fassen, sondern von denen sie sich auch Kinder gebären und großziehen lassen.

Was mich damals gerettet hat, war das dicke Buch über Surrealisten, dass mir meine Mutter geschenkt hatte. Sie schenkte es mir, anstelle der Calvin Klein Sonnenbrille um die ich gebeten hatte. Eigentlich hatte ich mich hinter einer Sonnenbrille in den Pausen verstecken wollen, aber meine Mutter fand, ich sollte mich eben in dem Kunstbuch verstecken, so hell, sei die Sonne doch nicht in der Stadt bei den vielen Häusern. Das Surrealisten-Buch war sehr schwer, umfangreich sagen gebildete Menschen. Mit dem Buch fühlte ich mich geschützt. Ich konnte damit meinen Hintern gegen Tritte schützen, es den Jungs auf den Kopf hauen, wenn sie mir wieder an den Busen griffen, konnte darin lesen. Ich hatte viel Zeit, um in den Pausen auf dem Schulhof zu sitzen und darin zu lesen. So fiel es niemanden auf, dass ich für mich allein war. Es gab einen Grund über mich zu lachen, denn wer liest, ist eben allein mit den Wörtern. Ich war nicht mehr blöd, sondern komisch. Es war sehr schön, komisch zu sein.

Besonders mochte ich die Geschichte von Salvador Dali, wie er mit Melonen in einen Baum klettert, den Frauen auf einem Feld in Spanien zusieht, seinen Körper gegen die Melonen presst, bis sie platzen, nur um sich vorzustellen, die Melonen seien die Brüste der Frauen. Ich mochte die Stelle, wegen der Felder, und auch wegen der Brüste, die aus der Ferne betrachtet wurden.

Jedenfalls hatte ich nun meine Ruhe und damit konnte ich leben. Also las ich und wenn ich ins Kino ging, dann nur um mir Literaturfilme anzusehen, so wie Homo Faber. Die Literatur und Kunst wurden eine Zuflucht, ein wenig, wie es auch Marcel Reich-Ranicki beschreibt, Worte waren Türen, die mich in fremde Welten zogen.

Ich lache nie über Menschen. Ich lache nicht, wenn mir Kleidung oder Verhalten fremd sind. Ich weiß nicht, aus welchem Kontext sie kommen, ich kenne nicht ihre Wirklichkeit, sie steht für sich, nur weil sie mir unbekannt ist, habe ich kein Recht darüber zu urteilen. Educate yourself.  Indem wir Grenzen ziehen, zwischen uns und den anderen, schieben wir die anderen nicht nur fort von uns, sondern werfen sie auch zurück auf das, was sie haben oder sind, wir zwingen sie, sich an dem festzuhalten, was ihnen bleibt, und wenn es nur ein Frosch ist.

Heute weiß ich, dass ich nicht gebildet bin, nur weil ich mir einen Café au lait, statt einem Milchkaffee bestelle, ich muss den Kontext kennen. Und die abschätzigen Blicke der Anderen erreichen mich nicht mehr, ich habe Worte, die mich schützen, und selbst wenn sie mal austrocknen, meine Worte, dann muss ich sie nur aufheben, wie den kleinen Frosch auf der Treppe, seinen leblosen Körper zum Wasser tragen, hineinlegen und ihm zusehen, wie er zwischen den großen Kieselsteinen noch einmal aufsprudelt. Ich rufe ihm hinterher: Bald sehen wir uns wieder!

Au revoir, Südwestfalen!

Bild von Dirk Vogel

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Grenzwerte

Bergbau war für mich immer Kohle, war Steigerlied, Bochum, Ruhrgebiet, war dunkle tiefe Nacht. Und heute frage ich mich oft, warum habe ich nicht mehr darin gesehen, zu Beispiel einen magischen Prozess, mit dem man Eisen und Stahl herstellt. Die Arbeit der Zwerge war für mich lange ein Geheimnis, dass sich während meiner Regionsschreiberzeit in Südwestfalen nach und nach gelüftet hat.

Die für die Verhüttung von Eisen und Stahl notwendige Kohle kam über die Ruhr-Sieg Strecke aus dem Ruhrgebiet nach Südwestfalen. Diese Strecke steht praktisch symbolisch für die Beziehung beider Regionen. So haben der Regionsschreiber des Ruhrgebiets, Brandstifter und ich beschlossen, diese zu bereisen, um Grenzwerte zu sammeln. Im Gegensatz zum Ruhrgebiet mit seinen großflächigen Komplexen ist die Industrielandschaft in Südwestfalen kleinteiliger und verwinkelter.

Also machen wir uns an einem Tag im Juli auf die Strecke. Unterstützt werden wir bei unserer Aktion von Tanja Roolfs, Brandstifters Lebens- und Kunstpartnerin. Die beiden sind seit 1999 das Performanceduo horstundireneschmitt. Glück auf, würde der Bergmann sagen, mit so einem tollen Künstlerpaar zusammenzuarbeiten.

Der erste Streckenteil der Ruhr-Sieg, von Hagen bis Letmathe wurde bereits 1859 eröffnet, Letmathe bis Altena und Altena bis Siegen folgten 1860 bis 1861. Es ist eine schöne Strecke von 106 km, die überwiegend durch das Tal der Lenne führt. Die Regionalbahn fährt an vielen Stellen durch scharfe Kurven, wenn es an diesem Nebenfluss der Ruhr entlang oder durch einen der vielen Tunnel geht. Wir haben den Eindruck durch eine naturbelassene und in großen Teilen noch verwilderte Landschaft zu fahren. Dabei ist das historisch überhaupt nicht so. Die Lenne wurde an vielen Stellen für Strom- und Wasserversorgung aufgestaut. Und da es weitflächig Kläranlagen erst nach dem zweiten Weltkrieg gab, gelangte, was für die Kanalisation bestimmt war, in die Bäche und Flüsse. Die Lenne soll an vielen Tagen eine gelbe Brühe gewesen sein.

Davon ist an diesem Tag nichts zu spüren, als wir auf Plettenberg zu fahren, spiegelt sich im Wasser glitzernd der Sonnenschein wieder.

Es ist ein schöner Platz, ein Café, Menschen sitzen draußen und unterhalten sich. Einer Frau reiche ich unseren Flyer, lade sie zu der Veranstaltung am nächsten Abend ein. Sie lächelt, meint aber, dass sie bis nach Altena fast eine Stunde Fahrzeit hätte, da käme sie selten hin. Ich reagiere überrascht, denn die Fahrt mit dem Zug dauert nur eine viertel Stunde. Die Frau schiebt ihre Mülltonnen vor dem Haus zusammen, antwortet, Abends führe die Regionalbahn nur noch stündlich, und die Strecke mit dem Auto habe eben viele Kurven, deswegen dauert es auch so lange.

Dass sie unsere Kunstaktion auch demnächst im Internet anschauen kann, sage ich der Frau noch zum Abschied. Sie nickt freundlich, bevor sie in ihrem Hauseingang verschwindet. So bleibt doch nur der Bildschirm, das wordlwideweb, um sich nicht nur mit dem Geschehen der Welt, sondern auch der Region zu vernetzten.

Einige Meter weiter findet Brandstifter eine verlorene Botschaft, einen Keeper, wie er die gefundenen Zettel nennt, die nicht nur einen Augenblick, ein momentum wiedergeben, sondern eine ganze Ära, eine eigene Geschichte schreiben. Aus der Notiz öffnen sich Türen, wie bei diesem Zettel mit aufgelisteten Telefonnummern aus dem Krankenhaus.

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Wir kommen an mehreren Fahrschulen vorbei, das scheint gut hier zu laufen, das mit dem Führerschein, ohne den geht es wohl kaum in der Region.

Am Bahnhof Finnentrop steigen zwei Reisende mit Fahrrad zu uns in die Bahn. Ansonsten sieht das Gelände leer aus. Früher, als die Finnentroper Hütte noch in Betrieb war, war hier reger Verkehr, und im ersten Weltkrieg eine Feldküche und Sanitätskolonne eingerichtet.

Von alledem sind nur noch ein paar alte Bäume Zeugen, die am Rand der Strecke stehen. Selbst die alten Gebäude sind nicht mehr da.

Auch der Kulturbahnhof Lennestadt wirkt an diesem sommerlichen Tag verlassen. Dabei hatte ich mich auf den besonders gefreut. Von dort werden für den literarischen Herbst immer zwei Autoren durch die Schulen der Gegend auf Lesereise geschickt. Aber an diesem Tag ist das Café geschlossen. Nicht mal Kinder spielen auf der alten Look, die zu einem Spielplatz umgebaut wurde. Auf einem Schild steht 1861, das Datum, an dem die Ruhr-Sieg-Strecke eingeweiht wurde und hier in Grevenbrück war es auch, dass der Zug bei der Eröffnungsfeier entgleiste.

In Kreuztal am Kulturbahnhof schließlich sind Ausstellungsräume und Café geöffnet. Dort steht der Kofferturm von Annette Besgen und Ulrich Langenbach. „Ich habe noch einen Koffer in Kreuztal“, ist die Inspirationsquelle, angelehnt an das Lied von Marlene Dietrich „Ich habe noch einen Koffer in Berlin“. Mit der Darstellung des Sammelns über die Anhäufung der Koffer, und gleichzeitig der Darstellung der lokalen Verankerung ist der Kofferturm auch eine Metapher für die Werkprojekte von Brandstifter und mir, das Sammeln, Bleiben, Wiederkommen und Aufbrechen manifestieren sich hier in einer Landmarke, bei uns in Text und Wort.

horstundireneschmitt vor dem Kofferturm

Im Kulturbahnhof wird eine Ausstellung von Eberhard Stroot gezeigt, einem lokalen Künstler, über den in meinem Text Understatement berichtet wird. Die Ausstellung backstage- on the stage greift die Thematik der Bewegung auf, mit der sich Eberhard Stroot bereits ein Leben lang beschäftigt. Auf den Bildern sind Menschen, Sportler und Tänzer zu sehen. Durch die dahinterliegenden Spiegel wird die Dynamik ins Unendliche vervielfacht. Brandstifter macht eine freundliche Übernahme, stellt ein paar vor Ort gefundene Botschaften aus, der Kunstraum kommt in Bewegung, verändert sich, wird zu einer kreativen Zone.

backstage- on the stage

Auf der Ruhr-Sieg sind Bergbau und Hüttenförderung längst Vergangenheit geworden, dafür säumen nun kulturelle Hotspots mit Literatur- und Kunstförderung die Strecke. Um die Mobilität der Bewohner zu vereinfachen und das Klima zu schonen, könnte der Bahnverkehr sicherlich intesiviert werden, den schönen und ambitionierten Kulturbahnhöfen würde es sicherlich nützen.

Aus den Fundzetteln der performativen Begehung ist eine Asphaltbibliotheque Südwestfalen entstanden. Eine Dokumentation über die Poesie des Alltags, entstanden aus einer fallen gelassenen Notiz, ein Vorüberflattern der Zeit, die doch immer viel zu schnell vergeht und von der am Ende nur die stillen Zeugen bleiben. Ein Gebäude, eine Zahl, eine Botschaft, eine Strecke des Lebens.

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Arbeit, Essen, Liebe

Was vielleicht sicher ist, und war und auch wohl morgen noch sein wird, ist, dass wir sehr an einer Normalität hängen, sie brauchen, wie wir den Sauerstoff brauchen, Nahrung und Liebe. Und wie sehr uns diese Normalität und vor allem wie schnell sie uns fehlt, dass haben wir in Corona gelernt. Nun ist sie doch zurück, nach dieser so außergewöhnlich schwierigen Zeit hat sich ein Alltag in Form von wechselnden Vorschriften, Masken, Lockdowns eingeschlichen. Aber über diesen Moment der Ausnahme hinaus, ist doch auch das Stipendium vorbeigegangen, zum Teil fast schon geschlichen, als wollte es nicht sichtbar sein, und dann, als die Normalität im neuen Kleid ihren Einzug nahm, richtig davon gelaufen. Über die Aktion the reader is present sind Leser im Blog Südwestfalens sichtbar geworden. Daraus hat sich viel mehr ergeben. Gespräche und Projekte und vor allem dieser Text von Lene B.:

Bis vor fünf Minuten habe ich mich noch an dem Teig für mein drittes Reibekuchenbrot in Folge abgearbeitet, das nun in der Rührschüssel ruht und hoffentlich bald geht. Ob ich den Reibekuchen diesmal richtig hinbekomme? Meine ersten beiden Backversuche vor ein paar Tagen sind zwar nicht total gescheitert, das Ergebnis reicht aber an den Reibekuchen meiner Mutter noch lange nicht heran. „Schmeckt gut, aber anders als der von Oma“ – so lautete das kenner- und irgendwie auch gönnerhafte Urteil meiner Jüngsten, die den Reibekuchen vorkosten musste. Mir ist schon klar, was sie mir mit diesem Urteil sagen wollte. Obwohl ich mich ziemlich genau an das Rezept meiner Mutter gehalten habe, nicht ganz, aber ziemlich – ziemlich kann aber die ausschlaggebende Nuance sein. Meine Mutter backt unserer Auffassung nach den weltbesten „Sejerlänner Riewekooche“, obwohl sie „nur“ gelernte Siegerländerin ist. Mit 19 Jahren verließ sie aus Liebe zu meinem Vater ihre Heimatstadt Völklingen im Saarland, um sich im Siegerland eine neue Heimat einzurichten. Mit ihrer Aussteuer brachte sie auch  die berühmte von vielen Einflüssen bestimmte und sehr offene Saarländer Küche mit ins Siegerland. Eines ihrer Heiligtümer ist bis heute ein Saarländer Kochbuch, das sie zur standesamtlichen Trauung in Völkingen vom Standesbeamten überreicht bekam. Ich vermute insgeheim, dass ein Plan hinter dieser heute reaktionär anmutenden Geste steckte: speziell Auswanderinnen wurden mit diesem Geschenk ausgestattet, auf dass sich die Saarländer Küche in der ganzen Welt verbreite. „Wirf das Kochbuch niemals weg“, gemahnte mich meine Mutter bereits des Öfteren, „und bewahre es für deine Töchter auf“. Ja, es steckt definitiv ein geheimer Plan dahinter, in den alle „echten“ Saarländer (die es so auch nicht gibt) eingeweiht sind.

Die richtige Siegerländer Küche musste sich meine Mutter als frisch gebackene Ehefrau allerdings selbst beibringen. Zwar lebten meine Eltern nach ihrer Hochzeit einige Zeit in dem gemeinsamen Haushalt meiner Großeltern in Siegen, da aber meine Siegener Großmutter eine eher bescheidene Köchin abgab, konnte meine Mutter von ihr wirklich nichts dazulernen. Gewiss ist das auch der Grund dafür, dass mir „Pälzer Grumbeersupp´“, eine schön dicke, kräftige sämige Kartoffelsuppe, die eigentlich zusammen mit Zwetschgenkuchen gegessen wird, oder die Saarländer „Zwiwwelsupp´“ mit reichlich Weißwein, Knoblauch und Gewürzen und insbesondere das Saarländische Nationalgericht „Dippelappes“, ein sehr variables Kartoffelgericht das je nach Zutaten zwischen deftig und pikant variieren kann (wenn auch alles in der vegetarischen Variante, die Saarländer mögen mir verzeihen) leichter von der Hand gehen als eben die Siegerländer Spezialitäten, also wie z. B. der Reibekuchen.

Ebenso wie Pflanzen und Tiere ist Essen eine Art Kulturfolger: wenn Menschen auswandern, dann nehmen sie ihre Essensgewohnheiten mit, pflegen sie an anderen Orten weiter, vermischen sie mit der Essenskultur, die sie vor Ort vorfinden. Auf diese Weise entsteht etwas Neues. Die meisten, wenn nicht fast alle Familiengeschichten handeln vom Weggehen und Ankommen, vom Entwurzeln und neuem Verwurzeln und darum, warum Menschen ihre Heimat verlassen und ihr Glück woanders versuchen. Wenn nicht gerade Krieg und Gewalt im Spiel ist, so gibt es zwei übergeordnete Gründe: Arbeit und Liebe. Liebe geht bekanntlich durch den Magen und über den Zusammenhang von Essen und Arbeit besagt eine uralte Saarländer Weisheit: „Haupsach´gudd gess – geschafft hann mir schnell“.

Meine Siegerländer Sippen bevölkert tatsächlich seit 300 Jahren die Gegend. Das familiäre Gedächtnis setzt allerdings erst bei meinen Urgroßeltern ein, einer streng protestantischen kinderreichen Siegerländer Bergmannsfamilie, in der Arbeit und Anstand augenscheinlich die höchste moralische Instanz darstellte. Mein Vater kannte seine Großeltern nur noch von Bildern und aus Erzählungen, sie haben sich um ein bzw. zwei Jahre verfehlt. Auch mein Großvater, mein „Opa Albert“, ist zumindest aus meiner Sicht viel zu früh verstorben, denn die, die man liebt, gehen immer zu früh. Dabei war er zu dem Zeitpunkt seines Todes bereits 77 Jahre alt. Jahrgang 1899 – für mich wirkt dieses Datum irreal, wie aus der Zeit gefallen, eine Ewigkeit zurück. Diese 77 Jahre Lebensspanne zwischen Deutschem Kaiserreich und Deutschem Herbst umfasst eine Ära, die den Geschichtsunterricht zweier Jahrgänge füllt. Er starb, als ich fünf Jahre alt war und eigentlich kann ich mich nur noch an einzelne wackelige Bilder und an verwaschene Sequenzen im Kopf erinnern, aber die Gefühle sind sehr klar. Ich sehe in meiner Erinnerung einen nicht sehr großen, zierlichen, aber drahtigen Herrn, von dem man nicht glauben mochte, dass er einst einen Schmiedehammer hat schwingen können. Allerdings habe ich mir von jemanden sagen lassen, der es wissen musste, dass es nicht auf die Kraft, sondern auf die Technik ankam. Ob Kraft oder Technik, viel war nicht mehr übrig von meinem kranken Großvater, der ständig an einer Sauerstoffflasche hing, die mir damals so riesig erschien wie ich klein war. Manchmal hat mein Vater mich mitgenommen, wenn er Großvater eine neue Flasche medizinischen Sauerstoffs besorgen musste – der Beschaffungsrhythmus wurde schnell im kürzer. Heute weiß ich, dass mein Großvater an COPD litt, einer chronischen Atemwegserkrankung, die einem langsam aber sicher die Luft wegnimmt. Als Kind habe ich natürlich schon gesehen, wie krank mein Großvater war, ich habe aber auch gespürt, wie er alle seine Kraft aufwendete, um Contenance zu wahren. Vor allem, wenn seine kleine Enkelin den Raum betrat – dann straffte sich der ausgezehrte Körper und er lächelte – ein aufrichtiges, kein gequältes Lächeln. Die mit dem Schweißen verbundenen Dämpfe und der hohe Zigarrenkonsum mögen eine der Ursachen für die Erkrankung gewesen sein. Für meinen Vater steht jedoch fest, dass es meinem Großvater aus Enttäuschung den Atem verschlagen habe, als er aus dem Haus ausziehen musste, in dem er eigentlich seinen Lebensabend verbringen wollte.

Meine Großeltern wohnten in einem Haus mitten auf dem Betriebsgelände einer alteingesessenen Weidenauer Firma, bei der mein Großvater fast sein ganzes Arbeitsleben verbracht hatte. Sein Arbeitsleben begann mit 12 Jahren wie damals üblich früh. Als Schmiedehelfer verdiente er zunächst was zum Familieneinkommen dazu, um dann mit 14 Jahren seine Ausbildung zum Schmiedeschweißer zu beginnen. Später machte mein Großvater dann noch seinen Meister obendrauf. Zu welchem Zeitpunkt er genau zu dem besagten Unternehmen wechselte, weiß auch mein Vater nicht mehr. Da meine Großeltern zunächst in einer Doppelhaushälfte direkt neben der Fabrikantenvilla und nach 1945 in einer schönen, verschieferten Fachwerkvilla mit Garten, die direkt auf dem Betriebsgelände der Firma stand, wohnten, versteht sich der enge Kontakt zu der Unternehmerfamilie und zum Betrieb von selbst. Von meiner Warte aus auf diese Epoche blickend, sehe meinen Großvater eher als „Leibeigenen“, dem zwar auf der einen Seite großes Vertrauen entgegengebracht wurde und der durch seine technischen „Tüfftler-“Talente, seinem Verhandlungsgeschick und Ideenreichtum ein hohes Ansehen genoss und sich unabkömmlich machte, der aber auf der anderen Seite immer für seinen Arbeitgeber sprungbereit war. Meine Großmutter beschwerte sich oft, dass er ständig für die Firma sprungbereit sei. Selbst das Telefon, das meine Großeltern besaßen, war nicht mit der Außenwelt, sondern lediglich mit der Firma verbunden. Solange meine Eltern noch dort wohnten, musste meine Mutter jedes Mal mit der Tasche voller Münzen den öffentlichen Fernsprecher aufsuchen, wenn sie mit ihren Eltern telefonieren wollte.

Der damalige Firmenchef hatte meinen Großeltern das Versprechen gegeben, dass sie zeitlebens in dem Haus wohnen bleiben könnten. Ein Handschlaggeschäft, an das sich die Nachfolger nicht mehr halten konnten. Das Haus musste abgerissen werden, damit die Produktionshallen vergrößert werden konnten. Aus wirtschaftlicher und unternehmerischer Sicht eine nachvollziehbare Entscheidung, aus menschlicher Sicht eine wenig wertschätzende Haltung gegenüber einem Menschen, der sich immer mehr als Loyal gegenüber seinem Arbeitgeber gezeigt hat. Warum aber mein Großvater an diesem Haus gehangen hat, kann ich, die schon so oft umgezogen ist, nur vermuten: Vielleicht symbolisierte das Haus eine Art Selbstvergewisserung, Geborgenheit und Sicherheit, vielleicht konnte er sich auch nicht von der Firma lösen, die so zu seinem Zuhause, seiner Wurzel dazugehörte. Meine Eltern waren bereits in ihre eigenen vier Wände umgesiedelt, endlich, denn meine Mutter hatte es im Haushalt ihrer Schwiegermutter alles andere als leicht gehabt. Im Jahr meiner Geburt mussten oder konnten meine Großeltern in eine Genossenschaftswohnung in einem für sie ganz neuen Viertel in unmittelbarer Nähe meiner Eltern umziehen. Die Wege waren damit sehr kurz, so dass sich mein Großvater um mich kümmern und meine Mutter entlasten konnte und umgekehrt unterstützen meine Eltern meine Großmutter bei der Pflege als die Krankheit meines Großvaters schlimmer wurde. Mein Vater hat übrigens jahrzehntelang in demselben Unternehmen gearbeitet, bis er mit fünfzig Jahren den Absprung schaffte. Tradition bedeutet halt nicht, unflektiert Gewohnheiten zu übernehmen, sondern diese zu überdenken, anzupassen, sie anders zu gestalten und wenn notwendig über Bord zu werfen.

 

In der Zwischenzeit ist der Reibekuchen fertig gebacken, das Urteil meiner Liebsten über Konsistenz und Geschmack fällt positiv aus – bis auf die zu hart gewordene Kruste. Ich bin auf einem guten Wege. Trotzdem hätte ich besser meine Mutter angerufen, um mir ihren fachfraulichen Rat einzuholen. Der noch nicht ganz so perfekte Riewekoche wird dann gleich auf unserer Terrasse in Lüdenscheid zu der nahezu rundum gelungenen Zwiwwelsupp gereicht. Passt schon.

 

Text und Bild sind von Lene B.

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Besuch

Beim Eintreten klackern die Fliesen sehr leise, als hätten sie ein Geheimnis zu bewahren. Mit ihrem Muster aus ockerroten Kreisen und blauen Kanten sind sie bestimmt schon sehr alt, genau wie das ganze Gebäude überhaupt. Die weite ausladende Holztreppe knarrt schon beim Ansehen und die dicken Steinwände werfen eine beruhigende Kälte ab. Ich bewundere die blauweiß bemalten Fliesen in der Küche und lasse mir den Raum zeigen, indem sie als Jungs geschlafen haben.

Den Kamin gab es damals nicht. Es zog durch die Fenster und im Winter muss es sehr kalt in der Villa Haase gewesen sein. Viele Leute wohnten damals in dem Haus, die zum Arbeiten herkamen, weiterzogen, alle teilten sich ein Badezimmer. Duschen, das durfte man sowieso nur einmal in der Woche.

Ich laufe um das Gebäude herum, mache Fotos und stehe lange vor der schweren Eingangstür aus Massivholz. Heute ist der Eingang mit antiken Möbeln verbarrikadiert. Früher aber heißt es, sind sie immer dadurch hineingelaufen.

Ich stehe, knipse mit meinem I-Phone und versuche mir vorzustellen, wie er dort die paar Stufen hinaufgesprungen ist, die dicke braune Holztür zur Seite schob und über den Fliesenboden ins Haus lief. Von alten Bildern weiß ich, dass er immer viel lachte. Auf einem der vergilbten Fotos hält er ein Schwein an den Hinterläufen wie eine Schubkarre. Ob das wohl hier in Rönsahl aufgenommen wurde? Lange stehe ich vor dem Eingang, und bekomme trotzdem kein lebendiges Bild. Die Mauern halten die Erinnerung in sich gefangen, wollen das Mysterium nicht preisgeben, die Vergangenheit gehört ihnen, nicht mir. Sie haben das Vergangene auf immer in sich eingeschlossen. Die Historie sitzt in den kalten Wänden, klackert in den Fliesen, knarrt im Holz der Treppe und bleibt doch wo sie ist, gefangen im Lauf der Zeit. Sie weigert sich heraus zu kommen, auch nicht durch die Linse meines I-Phones. Sie will nicht in meine Bilder und so in meinen Kopf klettern. Sie gehört sich selbst, wie das Flüstern der Wellen im Meer, das Rauschen des Windes, der über das Wasser peitscht oder das Kreischen der Möwen, die über dem Kadaver eines toten Fisches kreisen. Die Erinnerung bleibt wo sie ist, und kommt nicht zu mir, um sich zu offenbaren. Mein Vater war hier an diesem Ort als Junge, fast noch ein Kind, um seine Lehre in der Landwirtschaft zu machen. Praktikum steht heute noch auf dem Zeugnis, das eines der wenigen Dokumente ist, die ich noch von ihm habe. Papier ist geduldig, sagt man, und so verrät mir das Papier, mehr als die Steine von sich geben wollen.

Das Leben meines Vaters ist ein Logbuch geworden, dessen eingetragene Orte ich zwar bereisen kann wie Station auf einem Fahrplan, aber seine erlebte Geschichte entschlüsselt sich mir nicht. Er ist schon so lange tot, trotzdem kann nicht aufhören an ihn zu denken, mir vorzustellen, was für ein Mensch er wohl war. Ich suche seinen Blick in den Augen meiner Kinder, sein Wesen in ihrem Lachen, seine Gestalt in der Farbe ihrer Haare, ihrer Haut, selbst bei der Form ihrer Hände, frage ich mich ob die seinen wohl auch so schmal waren, wie die meiner Kinder heute. Könnt ihr euch vorstellen, erzähle ich ihnen, dass mein Vater gerade erst von der Volksschule kam, als er von zu Hause fort und ganz allein zum Arbeiten bei Verwandten hierher nach Rönsahl geschickt wurde.

Dass dieses Fortschicken eine gängige Praxis war, habe ich erst jetzt, im Stipendium in Südwestfalen gelernt. Auch noch nach dem Krieg wurden Kinder von der Kernfamilie fort zu Verwandten geschickt. Nicht wenige Menschen sind mir begegnet, die erzählen, wie sie mit vierzehn, zwölf, sogar mit sechs von zu Hause fort zu irgendwelchen Tanten und Onkels geschickt wurden, um dort in die Schule zu gehen, eine Lehre, oder Ausbildung zu machen, oft, um in der Landwirtschaft zu arbeiten. Die heute so diskutierte Auslagerung der Care Chains bekommt dabei eine ganz neue Dimension. Die aufnehmenden Tanten und Onkels wurden wahrscheinlich mit der Arbeitskraft dafür bezahlt, noch einen weiteren Esser in ihr Haus aufzunehmen und an die Gewalt, physisch und psychisch, die diese Generation von Nachkriegskindern auf dem Land erfahren musste, will ich gar nicht denken. Es sind unsere Eltern und Großeltern. Menschen, die nach dem Krieg das Land mit ihrer Arbeit wieder aufgebaut haben.

Als sehr junge Frau habe ich mich oft dafür geschämt, keinen lebenden Vater mehr zu haben. Er hat mir gefehlt, als die anderen Mädchen mit ihren Vätern beim Abiball tanzten. Ich habe ihn vermisst, als sich Freundinnen im Studium bitterlich über ihre Väter beschwerten. Über ihre Verbote, Gebote, ihre ständige Abwesenheit in der Kindheit, sogar die Kritik am weiblichen Körper, wie es sich die anderen Väter bei ihren Töchtern erlaubten, hat mir gefehlt. Für mich gab es kein Gegenüber, an dem ich mich hätte reiben können. Keine Stimme, die mich lobte, ermutigte oder tröstete. Niemanden, den ich vorzeigen konnte, der vielleicht ein Reisebüro oder eine Versicherung hatte, der in der Politik war, Jurist, oder sogar Diplomat. Mein Vater war Agraringenieur, Landwirt, ein Bauer, mehr nicht, und das sogar ohne Hof. Aus heutiger Sicht würde man wohl sagen, es hat überhaupt nur Verlierer gegeben in der Landwirtschaft, alles was nach den fünfziger Jahren auf diesem Sektor überhaupt geschah und noch heute geschieht, war ein sehr großes Desaster und ist es noch immer, wenn wir weiter, zum Beispiel an die Verhältnisse in heutigen Schlachtbetrieben denken. Doch in Rönsahl ist an diesem Tag wenig von den großen Problemen der Welt zu spüren, der ehemalige Kälberstall der Villa Haase wird heute für Antik-Handel benutzt. Die Zeit scheint hier, wie an vielen Orten in Südwestfalen, auf eine angenehme Weise stehengeblieben. Als hätte jemand im schönsten Moment den Film angehalten und auf Standbild gestellt.

Die Villen zeugen von dem früheren Wohlstand, der glorreichen Zeit der Schießpulverindustrie in und um Rönsahl und Ohl. Seit dem Dreißigjährigen Krieg stieg die Nutzung von Schwarzpulver in der Region rapide an, auch beeinflusst durch in dieser Zeit aufblühenden Bergbau. Erst als die rauchlosen Pulver das Schwarzpulver ablösten ging die Ära der Pulvermacher vorüber, wurden die Fabriken stillgelegt und die Gebäude verlassen

In Rönsahl, heißt es, gab es noch vor Köln eine elektrische Straßenbeleuchtung. Zu der Villa Haase gehört die historische Brennerei, die von dem Landwirt Wilhelm Haase 1870/71 errichtet wurde. Die historischen Daten sind Hieroglyphen, die die Geschichte des Ortes entschlüsseln. Der preußische Einfluss in der Region, der Krieg mit Frankreich, das alles steht im Hintergrund dieser schönen und imposanten Gebäude. Die Gebäude und Orte zu besuchen, ist wie in einem Geschichtsbuch zu blättern. Roland Barthes definierte den geographischen Raum als „discours“, als „écriture“, aus der wir die Geschichte herauslesen können. Während ich durch die „Chronik aus Stein“ in Rönsahl spaziere, muss ich mir eingestehen, dass mir Orte, Landschaften und Gebäude die Geschichte nur über Strukturen und Daten kommunizieren. Die Emotionen der Menschen, ihr Lachen oder Weinen, alle Lebendigkeit ist im Laufe der Zeit verloren, verschlossen im Stein, vergangen im Lauf des Wassers, mit dem Wind davongetrieben wie ein Samenkorn. Die Gefühle bleiben eingeschlossen und können nur über Worte, geschriebene oder erzählte, wieder zurück in die Gegenwart geholt und kommuniziert werden. Und so lese ich, unaufhörlich, höre zu und schreibe, um alles, was sich noch unter dem Klackern der Fliesen, im Wind und den Steinen verbirgt, in die Gegenwart zu holen und lebendig zu machen.

Die Villa Haase

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Social Distancing statt Schützenfest

Auf der Wiese vor dem Haus wird Schützenfest gefeiert. Nicht wirklich. Nur homöopathisch. Ein den aktuellen Hygienevorschriften angepasstes Schützenfest eben. Wenige befreundete Familien mit Kindern haben sich um einen aufgestellten Grill versammelt. Sie stehen mit Abstand, auf der Wiese wird gespielt. Als ich aus dem Auto steige, weht mir der Geruch von Bier und erhitzten Körpern entgegen. Dabei bin ich mindestens fünf Meter vom Geschehen entfernt, und muss erleichtert an die Viren denken, die jetzt durch feuchte Gräser in den Abend tanzen, sich in den Büschen, den Wolken verlieren, statt sich unter einem dampfenden Bierzelt in der Nacht zusammenzubrauen. Die Kinder wollen wissen, was die grünen Hüte bedeuten und wo die herkommen. Viele der kleinen Jungs tragen sie, die jetzt aufgeregt schreiend übers Gras rennen.

Die werden sie wohl von ihren Vätern haben, antworte ich, weil die tragen sie ja auch zu diesem Fest, das in diesem Jahr nicht wirklich ein Fest ist. Meine Kinder bleiben stehen, schauen, was da passiert, wo Leute in ausgelassener Stimmung zusammenkommen. Singen, rufen, laut lachen. Nur mit schunkeln, schmusen, eng zusammenrücken ist nichts in diesem Jahr. Schützenfest im social distance modus. Ein Ball wird geworfen und wenn der die Flasche mitten auf der Wiese trifft, müssen die einen rennen, um die Flasche wieder aufzustellen, die anderen ihre Bierflasche in einem Zug leeren. Ein schönes Spiel, um schnell betrunken zu werden. Unter anderen Umständen. Für die Kinder wird mit Brause gespielt. Alles mit Distanz. Trotzdem schwirrt eine Konstante Unsicherheit durch die Luft, mischt sich unauffällig unter die vorhandenen Viren und Bakterien, die sonst so normal zwischen Menschen kursieren, eine Begegnung mit Fremden kann im Kontext der Auflagen, in denen soziale Kontakte zwingend nachvollzogen werden müssen, nur zu Distanz gegenüber dem Unbekannten führen. Für die Kinder bleibt ein erster Eindruck vom Schützenfest. Eine schöne Sache, glauben sie, aber sie haben ja lange noch nicht alles gesehen. Das Spiel gefällt ihnen, Mädchen gegen Jungs, es trifft ihren Geschmack, so wie es von zu Hause, aus der Schule, kennen.

„Ohne Mädchen geit es nit!“ ist der Titel eines Artikels von Barbara Stambolis, zu einer Ausstellung über Schützenwelten, die im Geschichtsmuseum Lüdenscheid von Dr. Eckhard Trox kuratiert wurde. Die Schützengesellschaften, sie seit dem 13. Jahrhundert entstanden, hatten zur Aufgabe, die Bevölkerung zu beschützen.

Das Schützenfest ist zwar ein historisch männlicher Raum, von dem Frauen weitgehend von der Handlung ausgeschlossen waren, doch gehörten sie und dies auch an grundlegender Weise, dazu. Die Auffahrt der Königin galt und gilt noch heute als Höhepunkt.

Die Narbe trage ich noch heute. Ein langer asymmetrischer Strich unterhalb des Knies. Ich habe unglaublich laut geschrien, das Fleisch war in zwei Teile geschnitten, die Haut klaffte auseinander und ich kann mich noch sehr genau an die weiß-rote Farbe der verschiedenen Zellschichten erinnern. Jemand hat mich in den DRK-Bus geschleppt.

Bis du heiratest, sieht man nichts mehr davon, prophezeite der Sanitäter. Das Desinfektionsmittel brannte. Aber die Narbe ist heute immer noch da, obwohl ich schon längst Kinder habe. Wir hatten kein Spiel mit spitzen Gegenständen gespielt, mit Flaschen, Scherben, etwas, bei dem ich mich hätte verletzen können, oder uns als Schützen versucht, nichts von alledem. Die Narbe habe ich mir als kleines Kind beim Blumenpflücken für die Königin geholt. Wir wollten der Schützenkönigin einen Blumenstrauß pflücken, sind über die Zäune auf eines der umliegenden Felder geklettert und dabei blieb ich im Stacheldraht hängen geblieben. Der Draht hatte sich mir tief ins Fleisch geschnitten.

Beim Wandern entdeckte ich Tage später einen Baum, durch den Draht gewachsen ist. Wir Mädchen waren als Kinder von den wilden Spielen ausgeschlossen. Wir hatten unser eigenes Handlungsfeld auf dem Schützenfest, das Blumenpflücken für die Königin zum Beispiel, während die Jungs mit ihren grünen Mützen auf dem Platz sich darin probten, den Vogel abzuschießen. Heute haben sich die Spielräume gelockert, ein wenig wie die Coronabestimmungen, mittlerweile gibt es auch Frauen unter den Schützen, nicht überall und in allen Vereinen, aber in Südwestfalen zum Glück immer mehr, 2019 schoss eine Frau den Vogel ab. In diesem Jahr hat es kein Schützenfest und keine KönigInnen gegeben. Bleibt zu hoffen, dass es, wenn die Schützenfeste wieder aufgenommen werden können, weiterhin mehr soziale Mischung gibt und nicht die Angst vor Kontakt, dazu führen muss, dass Menschen sich in Zukunft mehr gegenseitig aus- und abgrenzen. Die Hoffnung, so sagt man doch, bleibt.

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