A45 Stories

THE READER IS PRESENT

Lasst uns anfangen mit diesem schönen Text, von einer jungen Frau zur Mitternacht:

Um Mitternacht mit dem Schützenzug zum Markplatz marschieren und dann dieser eine Moment, wenn der Zug in der Schützenstraße am „Kump“ anhält. Diese ganze Masse an Schützen und Feiernden bleibt stehen und es kehrt völlige Stille ein.

Der Spielmannszug spielt dieses wunderbare Stück (Gebet an die Liebe oder so ähnlich) und im letzten Takt jubeln wir alle und die Schützen schmeißen ihre Kappen in die Luft.
Das ist Glückskribbeln pur, mehr Heimatgefühl geht nicht. Das passende Video dazu gibt es hier!

Jemand schreibt von der Vorstellung, Sauerland und Südwestfalen wären eines und von dem sauren Geschmack auf der Zunge als Kind, wenn es dorthin in die Ferien ging.

Eine Frau erzählt von ihrer Wanderung  Auf der Autobahn:

Mit dem Bau A45 von Dortmund über Siegen, Wetzlar nach Aschaffenburg wurde in den 1960er Jahre begonnen.

Das Teilstück Dortmund – Gießen wurde im Jahr 1971 dem Verkehr übergeben.

Wir wohnten damals in Olpe, nicht allzu weit entfernt von der Autobahn. Im Juli 1971 wurde mein erstes Kind geboren.

Nachdem ich die Klinik verlassen hatte, sind wir am Sonntagnachmittag mit dem Kinderwagen Richtung Autobahn

spaziert, und haben uns, wie viele andere Menschen auch, auf der Autobahn amüsiert.

Kurze Zeit später war dann die offizielle Eröffnung der Autobahn.

Immer wieder, wenn ich über die A45 fahre, kommt mir dieser Sonntagnachmittag in den Sinn.

 

Ein Anderer schreibt über seine Eindrücke zu Südwestfalen: Was wird aus Kulturen bitterster Armut und strikter Egalität unter der Knute des strafenden Gottes und des in seiner Wolke strafenden Wetters? Vornehm tun und Vornehmheit sind zu verachten. Aber auch die kirchliche Autorität zersplittert nach charismatischer und meritokratischer Maßgabe, vor allem lokalisiert sie sich. In Tälern, in Nischen, in Zerklüftungen.  Man blickt aus dem Tal in die Welt, aber erst einmal nicht sehr weit. Auf der Schwäbischen Alb, im Siegerland, in der deutschsprachigen Schweiz. Wenn jetzt der Reichtum ausbricht, wie zeigt er sich dann? Zuerst einmal muss alles sehr solide sein, und unaufdringlich, und effizient. Das hilft auch der Industrie. Dann kommt lange Zeit gar nichts, denn daß die Welt betrogen werden will, ist kein guter Gedanke für das gläubige Gemüt. Und schon ein Blick ins Rheinland gibt einem den Eindruck, daß das alles sehr unsolide und unehrlich ist. Der Widerstand gegen Mode und gegen das Fluktuierende der Kultur ist deswegen so unermesslich, weil er sich auf der besten Seite der Bürgerlichkeit weiß: der Trennung von Zweckrationalität und Wertrationalität. Für das eine ist nur der Glaube zuständig, für das andere bleibt alles andere. Beide Kriterien setzen auf Beharrlichkeit: die Beharrlichkeit des Glaubens, und die Beharrlichkeit der Effizienz. Hartnäckigkeit bleibt selbst eine hartnäckige Eigenschaft. Eine westfälische. Für die Ästhetik blieb zu wenig Lücke, denn das Banausentum ist immer entschuldigt: vormals durch Armut, danach durch Bürgerlichkeit, und gegenseitig bestärkt im Fehlen von Neugier. Die Fremdheit ist noch ganz traditionell: Wenn man vom einen Tal ins nächste wechselt, ist man zugewandert und bekommt das das ganze Leben lang zu spüren.

Und weiter geht es, schreibt mir…

 

Mehr von Barbara Peveling

Gedenken ohne Gedächtnistheater

Die letzten Jahre, als ich noch ausschließlich in Deutschland lebte, waren nicht leicht für mich. Das lag auch, aber nicht nur, an der Weltmeisterschaft von 2006, in der die Deutschlandflagge wieder salonfähig wurde. „In Deutschland“, schreibt Michael Ebmeyer, ruft die „Flaggenseligkeit (…) Abscheu hervor“. Die historische Hemmschwelle, sich mit Schwarz-Rot-Gold zu identifizieren, gehört zum Selbstbild von uns nachgeborenen Deutschen. Wir sind nicht stolz auf unser Vaterland, denn wir wissen, „der Sonderweg des deutschen Nationalstolzes ist der Weg in die Katastrophe“, so Ebmeyer. Darüber ist sich meine Generation so bewusst wie keine andere. Wir haben Stolz mit Scham ersetzt. Dahinter steht das pädagogische Konzept der Betroffenheitspädagogik. Diese Form der Lehrmetode entstand in den siebziger Jahren, beeinflusst aus Erlebnispädagogik und Gestaltpädagogik, untermauert von den Schriften Theodor Adornos zur Erziehung nach Auschwitz.

Dass sich diese Form der gesellschaftlichen Bildung immer auch auf dem Schneideweg zwischen Scham und Schuld befindet, habe ich selbst als Kind erlebt.

Während heute meine eigenen Kinder und ihre Freunde mit dem Begriff Hitler als Inkarnation des Bösen aufwachsen, wurde er in meiner Jugend diese Persönlichkeit noch als der, dessen Name man nicht ausspricht, gehandelt.

Bevor wir von Hitler lernten, lasen wir Bücher wie „Damals war es Friedrich“ in der Schule. Die Erzählung von Hans Peter Richter von einem jüdischen Jungen, der sich selbst überlassen wird, weil sein ganzes Umfeld Systemtreu reagiert und der am Ende qualvoll stirbt, hat mich als Kind aufgewühlt zurück gelassen. Ich hatte das Buch schon zu Ende gelesen, bevor wir es in der Schule überhaupt fertig besprochen hatten und ich weiß noch genau, wie ich danach zu meiner Großmutter ging, um sie zu fragen, ob sie Juden gekannt hatte. Juden in Südwestfalen, oder Juden in unserer Heimatstadt, in Olpe.

Natürlich hatte sie, da waren Geschäfte gewesen, die von Juden geführt wurden und Mädchen, die mit ihr in eine Klasse gegangen waren. Und irgendwann waren sie nicht mehr da gewesen, alle. Mehr erfuhr ich nie von ihr.

Danach richtete ich mich an meine Mutter, sie hatte den Krieg nie erlebt, war erst an zu Kriegsende überhaupt geboren worden, hatte aber viel mehr zu sagen. Und an diesen Moment der Aufklärung habe ich eine sehr deutliche und einschneidende Erinnerung. Ich kann den Raum, indem meine Mutter mich über die Verbrechen des Nationalsozialismus aufgeklärt hat, noch genau vor mir sehen, in meinem Gedächtnis kann ich ihn abrufen wie einen auswendig gelernten Text, da war in ihrem Arbeitszimmer, eine weiße Wand, ein heller Teppich am Boden, die Blumenkästen vor den Fenstern und alles voll mit ihren Worten und das Grauen, über das Unvorstellbare der Vergangenheit einer Nation, der ich angehörte.

Dieser Moment wurde schließlich einer von vielen in meiner persönlichen Konfrontation mit der deutschen Vergangenheit. Eine historische Realität, die ich als immer erdrückender erlebte, und auch immer weniger aushaltbar, je mehr Fahnen und je mehr Nationalismus wiederaufkam. Schließlich, das muss ich mir doch eingestehen, habe ich die Flucht ergriffen.

Heute bin ich sehr glücklich, wenn ich, in dem Pariser Vorort, indem meine Familie zu Hause ist, unsere Nachbarn am Samstagmorgen, wie jeden Sabbat (sofern kein Corona ist), zusehen darf, wie sie in die Synagoge gehen.

Doch muss ich mir eingestehen, dass es vor der allgegenwärtigen Anwesenheit der deutschen Vergangenheit, eben vor dem, was in Auschwitz geschah, keine Flucht gibt. Ich bin Deutsche und bleibe es, da hilft auch keine zeitliche oder räumliche Distanz.

In seinem Werk zu „Geschichte und Gedächtnis“ schreibt der französische Historiker Jacques Le Goff: „Die Beziehungen, die eine Nation zu ihrer Vergangenheit unterhält, die historischen Traumata, die sie erlitten hat, die Eigentümlichkeiten ihrer Historiographie, sind wesentliche Bestandteile ihrer kollektiven Identität. Der eigenen Geschichte ins Angesicht zu blicken, ist eine Pflicht, sowohl für Nationen wie auch für Individuen.“

Einer, der nicht davor geflohen ist, ist Tom Kleine. Seine, mit Hartmut Hosenfeld gestartete, Initiative „Jüdisch in Attendorn“ wurde 2019 ausgezeichnet. Die Hansestadt Attendorn kann stolz auf diese Initiative sein, die sich 2018 mit der Aktion „Shalom Attendorn“ und der Eröffnung des ersten jüdischen Themen-Wanderweges hervortat. Wenn, wie ich zuvor geschrieben habe, von unserer Generation der Stolz mit Scham ersetzt wurde, bringen Menschen wie Tom Kleine und Hartmut Hosenfeld diesen Stolz auf das, was man im allgemeinen Wortschatz Heimat nennt, in anderer, neuer Form zurück.

Tom Kleine und Harmut Hosenfeld

Auf ihrer sehr ausführlichen Internetseite „Jüdisch in Attendorn“ gibt es eine Vielfalt an Informationen und Geschichten zu entdecken, aus der Vergangenheit und Gegenwart der Hansestadt. In der es jüdisches Leben seit dem Jahre 1451 dokumentiert ist. Die jüdischen Familien der Stadt waren Metzger, Händler, Fabrikbesitzer und die vielen zusammengetragenen Dokumente, wie ein Lehrlingsvertrag aus dem Jahre 1926, zeugen von einem auf gegenseitigen Respekt beruhenden Zusammenleben unterschiedlicher Gemeinschaften, das leider durch den Nationalsozialismus ein brutales Ende fand.

Ein Mensch, der zu dieser Gemeinschaft aus Vielen davor gehörte, war Julius Ursell, ihm ist der Themenweg gewidmet. Sein Lebenslauf liest sich, wie der eines typischen Bewohners Südwestfalens jener Zeit, der das Metallunternehmen eines Vorfahren übernahm, das, wie so viele in der Region, von einem „Fabriksen“ zu einem anschaulichen Unternehmen wurde. Julius Ursell war begeisterter Wanderer, Mitglied im Schützen- und Turnverein. Er starb an einer Erkrankung auf einer Geschäftsreise 1936. Sein Grab liegt noch heute in Attendorn. Viele seiner Nachfahren sind schon in die Region gereist, um den Themenweg zu besuchen.

Einweihung der Gedenkstele

Aber das ehrenamtliche Engagement von Tom Kleine hört nicht bei „Jüdisch in Attendorn“ auf, beruflich als Pressesprecher der Stadt Attendorn, ist er auch der muslimischen, katholischen und evangelischen Gemeinden nahe. Die Moschee in Attendorn wurde 2017 eröffnet. Der Moscheeverein hat zu Beginn der Coronakrise noch eine Blutspende-Aktion durchgeführt.

„Aber natürlich“, erzählt mir Tom Kleine bei unserem Videointerview lachend, „ist bei uns in Attendorn auch nicht nur heile Welt, aber wir kommen hier sehr gut miteinander aus.“

Er begleitet selbst viele Gruppen, die den Julius Ursell Weg entdecken. Das Angebot wird vor allem von Lehrern genutzt, auch aus Olpe.

Fast wünsche ich mir, dass es zu meiner Schulzeit schon solchen Initiativen gegeben hätte, die mir damals hätten helfen können, das historische Traumata zu bewältigen. Doch die Dinge brauchen ihre Zeit, oder wenigstens ihre Geschichte. In Attendorn wohnt auch wieder eine Familie jüdischen Glaubens, verrät mir Tom Kleine. Diese, so entnehme ich seinen Worten, ist Teil der Gemeinde, ohne als jüdische Minderheit von dieser für die eigene Läuterung missbraucht zu werden. Diese „Läuterung“, wie der deutsch-jüdische Lyriker Max Czollek sie nennt, besteht darin, dass jüdische Minderheiten in Deutschland oft mit einem „Gedächtnistheater“ instrumentalisiert werden, um den lebenden Beweis zu liefern, dass die deutsche Gesellschaft ihre mörderische Vergangenheit gut verarbeitet hat. In seiner Streitschrift warnt Czollek davor, dass nach den Moscheen, auch wieder die Synagogen brennen.

Die Gefahr besteht in Deutschland, doch Menschen wie Tom Kleine setzen ihr Engagement dagegen und indem sich „Jüdisch in Attendorn“ aktiv mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt, müssen keine neuen Minderheiten im Gedächtnistheater instrumentalisiert werden. Das ist schön, und das hätte auch ich gar nicht so gedacht, und ich hoffe, dass mir, Corona zum Trotz, noch Gelegenheit gegeben wird, gemeinsam mit Tom Kleine die Geschichte „Jüdisch in Attendorn“ zu entdecken.

Jüdischer Friedhof in der Hansestadt Attendorn

 

Die Bilder in diesem Beitrag wurden von Tom Kleine zur Verfügung gestellt, Herzlichen Dank dafür!

 

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The READER is PRESENT!

Mit dieser interaktiven Schreibperformance THE READER IS PRESENT! sind alle Leser eingeladen, die in Südwestfalen zu Hause sind, oder nicht, die es gerne wären, oder auch überhaupt nicht wollen, einen Beitrag zu leisten für stadt.land.text NRW 2020.

Und zwar geht es so: Am 25.April 2020 um 0 Uhr 01 werde ich einen Blogbeitrag auf der Seite von stadt.land.text NRW 2020 öffnen. In diesem Beitrag lasse ich alle Nachrichten fließen, die mir bis zum 26. April 2020 um 0 Uhr zukommen.

Pe Mail an: peveling@kulturregion-swf.de

Auf Facebook per Pin an: Barbara Peveling

Instagram: Barbara Peveling

Twitter: Barbara Peveling

Alle Leser sind eingeladen, einen Beitrag zu schicken, der direkt in den Text fließt.

Bitte mitteilen, wer anonym bleiben möchte!

Der Text wird sich auf diese Weise über 24 Stunden ständig verändern. Schaut gerne mal rein, wie er aussieht und lasst euch inspirieren!

Nachdem der Text auf der Seite von stadt.land.text NRW 2020 25. April um Mitternacht online gegangen ist, werde ich eine kurze Liveschaltung auf Facebook machen.

Jeder Beitrag ist willkommen, auch wenn es nur ein Satz ist, ein Haiku, ein Sonett!

Wenn Ihr mal auf der A45 abgefahren seid, oder eure Ferien am Biggesee verbracht habt, schreibt mir einfach Eure Eindrücke! Wir lassen daraus gemeinsam ein Patchwork an Beobachtungen, Eindrücken und Geschichten entstehen.

Ich freue mich auf Euch!

Inspiriert ist die Aktion von „The Artist is Present“ der Performance Künstlerin Marina Abramovic, die 2010 im MOMA stattfand. Schaut euch das Video von ihrer Aktion an, lasst Euch inspirieren und sei dabei!

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Oh Lord, let me go, Gesänge aus dem Lockdown

Den Semmelsegen schaue ich mir auf dem Klo an. Mir hat vorher die Zeit gefehlt, mit Homeoffice, Homschooling, Homestipendium, Homeputzen, Homekochen, Homebacken, überhaupt all dem Home, rennt mir die Zeit weg, was sonst geteilt, oder Häppchenweise, vielleicht auch als feine Schnittchen meinen Alltag gliedert, schlägt nun voll rein, überlastet und überfordert mich. Also, Klo. Die Ratschen, der Turmbläser, mit fällt wieder das Kommentar ein, das ich irgendwann mal auf Twitter geliket und sogar geteilt habe, indem eine Mutter schrieb, dass sie, seitdem sie Kinder hat, kapiert, dass sie schneller scheißen kann, wenn jemand von außen gegen die Tür trommelt. Ein Witz, den wahrscheinlich nur Mütter verstehen, einfach die, die täglich parat stehen, die Care-Arbeit machen.

Jetzt aber ist es endlich mal ruhig, und ich höre dem Pfarrer zu, wie er seine einführenden Worte spricht und dann, allein in der Kirche, das Lied „Lobet den Herrn“ anstimmt. Er hatte mir vorher schon im Interview erzählt, dass ihm das besonders fehlen würde, die vielen Menschen, die sonst gemeinsam beim Semmelsegen dieses Lied laut anstimmen.

Die Musik hat Johann Sebastian Bach zu dem Lied von Joachim Neander kombiniert.

Als ich es höre, habe ich sofort das Bild meiner Mutter vor mir, die, neben mir stehend, das Lied singt, weil sie es so gut kennt, und weil ich in meinem Leben meistens, wenn ich in der Kirche, mit ihr zusammen war.

Jetzt im Corona-Lockdown, ist dies der Moment, an dem ich zu weinen anfange. Vielleicht, weil die Kantate von Bach so schön ist, vielleicht, weil ich an all die Momente denken muss, in denen ich Menschen gemeinsam habe singen höre und wenn viele Menschen laut zusammen singen, entsteht immer ein Gefühl von Gemeinschaft, aber ganz sicher, weil ich endlich hier raus will, nicht mehr eingesperrt weiterleben, wie eine Pflaume im Haus oder auf dem Klo sitzend, um mal ein klein wenige Ruhe zu bekommen, ich will endlich wieder mein Leben zurück haben. Das Gefühl individueller Entmachtung überrennt mich, ich möchte meine Existenz wieder irgendwie selbst bestimmen, wenn auch nur mit so einfachen Dingen, wie am Flussufer zu sitzen, Enten beim Baden zu zu sehen, mit Freunden im Wald zu spazieren, ein Konzert zu besuchen oder einfach auf einer Party zu tanzen. Ich will die Normalität zurück, über die Paolo Giordano in seinem Buch In Zeiten der Ansteckung schreibt. Selbst, wenn sie diffus ist und noch ungenau.

Aber jede Normalität ist weit weg, sie ist mir abhandengekommen wie eine Gleichung, an die ich mich plötzlich und unerwartet nicht mehr erinnern kann. Und ich bin sicher nicht die Einzige, der Pfarrer im Lifestream auf Youtube aus Attendorn, der gerade in einer von der Leere hallenden Kirche, allein mit sich und seinem Glauben einen Segen abhalten muss, wünscht sich mit Sicherheit auch in eine andere Normalität als diese zurück. Und noch bevor er den Semmel segnet, hält er eine kurze Rede:

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.

Damit zitiert er Jesus, der diese Worte nach vierzig Tagen in der Wüste zum Teufel gesagt hat und damit selbst aus dem Deuteronomium zitierte. Nicht nur Brot, sondern auch Nahrung fürs Herz.

Wir sitzen im Lockdown, unser Alltag ist heruntergefahren auf das, was als systemrelevant gilt, was wir zum Überleben brauchen. Aber das ist eben nicht nur unser tägliches Brot, das ist, in Wahrheit, so unendlich viel mehr. Dabei bin ich mit dem Pfarrer und seiner Rede völlig einig.

Als ich aus dem Badezimmer trete, heule ich aber nicht mehr, weil ich jetzt nun sehr fest hoffe, dass wir uns später, nach dem Lockdown, auch daran erinnern werden, dass wir nicht nur vom Materiellen allein leben, von Klopapier und Nudeltüten, sondern von soviel unendlich viel mehr, Herznahrung eben.

Ein Lied, das die Welt und auch Religionen verbindet, hier singt auch die Queen die Bach- Kantate in London.

 

Und damit ihr die Botschaft auch nicht vergesst, an dieser Stelle das Herznahrung- Lied dazu von Janis Joplin dazu, denn die großartigsten Sängerinnen hören niemals auf zu singen!

 

 

Mehr von Barbara Peveling

Osterspaziergang in #metoo Variationen

An das Ratschen der Messdiener auf den Straßen konnte ich mich kaum erinnern. Sie mussten schon da gewesen sein, als ich noch Kind war, denn es ist eine sehr alte Tradition. Mir war sie aber nie aufgefallen und so ignorierte ich lange auch das Schweigen der Glocken zu Ostertagen.

Da war dann dieses Familienfest. Ich überlegte lange abzusagen, schließlich war ich schwanger, es blieben nur noch einige Wochen bis zur Geburt. Die Vorstellung in Südwestfalen womöglich mein Kind zu bekommen, schreckte mich ab. Ich wollte nicht in der Provinz gebären.

Doch die Frauenärztin beruhigte mich, der Muttermund sei geschlossen, es könnte nichts passieren, alles im grünen Bereich und eine Bekannte erklärte, sie würde eine gute Hebamme in der Gegend kennen, die könnten wir kontaktieren, sollte es doch unerwartete Komplikationen geben.

Es war noch drei Tage bis Ostern, doch schon in der ersten Nacht wurde ich von einem intensiven Harndrang geweckt. Was sich anfühlte, wie eine plötzlich und unerwartet ausgebrochene Nykturie, war in Wirklichkeit eine geplatzte Fruchtblase.

Auf die Geburt war ich nicht vorbereitet. Kleider, alle für das Neugeborene besorgten Gegenstände, hatte ich zu Hause in der Großstadt gelassen. Ich wollte ja nichts provozieren, keine frühzeitige Geburt, das Kind sollte dort geboren werden, wo seine Entbindung geplant war, in einem schönen und modernen Krankenhaus, nicht auf Reisen im Hinterland. Ich hatte die Möglichkeit ausgeblendet, dass es auch ungeplant laufen könnte, verdrängt, so, wie Europa die letzten Monate und vielleicht sogar Jahre, die potentielle Möglichkeit verdrängt hat, dass irgendwann eine globale Pandemie ausbrechen könnte.

Wenn man nicht will, dass etwas passiert, dann kann man einfach so tun, als würde es nicht geschehen können, bis einen die Wirklichkeit dann einholt, oder nicht.

Mich hatte sie eingeholt. Die Geburt hatte begonnen, stellte die Hebamme fest, als sie kurz nach meinem Anruf bei uns auftauchte. Sie musste damals schnell handeln, sich entscheiden.

Sie sagte, sie hätte an diesem Tag eigentlich etwas Anderes vorgehabt, aber sie war bereit, eine Hausgeburt mit uns zu machen.

Noch heute stelle ich erstaunt fest, dass alle Beteiligten ruhig und entspannt blieben. Niemand regte sich auf, verfiel in Panik oder schrie. Nach Abschluss der Untersuchung wurde mir beim Aufstehen übel und ich kotzte auf dem Wohnzimmerteppich. Eines meiner Geschwister eilte herbei, um das Erbrochene aufzuwischen. Eine Nachbarin brachte einen Weidenkorb mit Decken, eine Bekannte besorgte Babykleidung. Während die Hebamme anfing, ihr Material aufzubauen, einen Gummiball verlangte, wurden im Haus Eier gekocht und angemalt, Spargel geschält, Sekt kaltgestellt.

Ob ich nicht etwas spazieren gehen wollte, schlug mir die Hebamme vor, das könnte die Geburt weiter in Gang bringen. Die Sonne schien, einige mutige Bienen waren bereits unterwegs, hielten Konversation mit den Narzissen im Beet und als ich auf der anderen Straßenseite in das Bachbett schaute, konnte ich sehen, dass die Kaulquappen schon Beine hatten.

Bei einer Geburt ist der Körper wie auf Drogen, die Wahrnehmung ist um ein Tausendfaches verstärkt, es ist, als wären Kopf und Körper eins, jede Empfindung, jede Bewegung, jeder Laut dringt gleichzeitig auf alle Sinne. Ein gebärender Körper fühlt sich an wie eine generelle Empfangsstörung, alles läuft gleichzeitig, durcheinander, viel zu schnell und doch hinkt jede Wahrnehmung hinterher.

Die Straße führte einen kleinen Hang hinauf, dahinter lag eine weitere Siedlung, eine Fabrik und danach kam der Wald. Weiter als fünfhundert Meter bin ich nicht gekommen. Schon an der nächsten Ecke brach ich nach vorn, stützte die Hände auf die Knie, bemüht, in die nächste Wehe zu atmen, so wie es mir die Hebamme geraten hatte. Jede neue Wehe löste das Gefühl aus, die Schmerzen würden nie weggehen. Ich fühlte mich wie eine Ertrinkende, die verzweifelt bemüht war, wieder an Sauerstoff zu bekommen. Zuerst hörte ich dieses aufdringliche Klappern nur in meinem Kopf.

Dann schaffte ich es, mich umzudrehen und da standen sie.

Ich hatte sie vorher nicht bemerkt, sondern das Kreischen meinen Gehirnwindungen zugeordnet.

Sie waren von hinten gekommen, wie die Wehen, und als wollten sie denen noch Mut machen, mich weiter, tiefer, fester zu quälen, drehten sie aufgeregt ihre Ratschen im Kreis.

Das Kreischen in meinen Ohren war plötzlich stärker, als die Wehen in meinem Unterleib.

Mir gelang es irgendwie, wieder ruhig zu atmen, mich aus meiner gebückten, lächerlichen Haltung aufzurichten und so sahen wir uns direkt in die Augen. Von Angesicht zu Angesicht. Die Messdiener und ich. Sie waren drei, etwa zwölfjährige Jungen, die wahrscheinlich noch nie eine Gebärende live gesehen hatten. Denen diese weiblichen Krämpfe eines behäbigen Körpers unbekannt waren und fremd. Vielleicht würden sie sich, irgendwann später einmal in ihren Leben an diesen Moment erinnern. Bis dahin aber drehten sie weiter nervös ihre Ratschen und hatten aufgerissene Münder. Sie standen und starrten mich an, als glaubten sie, sie könnten so einfach mich und meine Wehen aus ihrer Zielgeraden wegratschen.

Ich biss mir auf die Zähne. Ich wollte schreien, sie anbrüllen, doch endlich zu verschwinden oder wenigsten mit diesem Gerassel aufzuhören.

Aber das konnte ich nicht. Die Messdiener hatten ihre Aufgabe, sie ratschten die Gebetszeiten und ich hatte die meine, ein Kind zu gebären. So schleppte ich mich zurück ins Haus.

Es war ein heißer Apriltag und die Fenster standen offen. Noch bis zum Abend hörte ich sie immer wieder mit ihren Ratschen durch die Straßen ziehen. Ich hörte sie, als ich auf dem Ball lag. Und auch kurz bevor ich in die Wanne stieg, konnte ich sie hören. Als ich laut aufschrie, meinte die Hebamme, sie könnte jetzt den Kopf sehen.

Später, auf dem Bett, als ich zum ersten Mal in meinem Leben mein eigenes Kind im Arm hielt, die blutigen Flecken auf seiner Stirn bemerkte und erstaunt feststellte, dass die Fingernägel noch ganz rot und gar nicht weiß waren, hörte ich die Ratschen nicht mehr und auch nicht am Tag darauf, obwohl es immer noch vierundzwanzig Stunden dauerte, bis Ostern war.

 

… und so hört sich das Ratschen an.

Bild von Susanne Thomas, Herzlichen Dank!

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concursus

Eine Einführung.

Am Freitag Ratschen sie wieder. So wie immer, wie jedes Jahr, in den symbollischen Stunden, die für die Gläubigen zwischen Tod und Auferstehung liegen. Dieses Jahr aber ist ein besonderes Jahr und die Messdiener müssen, Corona wegen, von zu Hause aus Ratschen. Damit die Menschen, für die das Ratschen bestimmt ist, die das laute und klappernde Rasseln an die Gebetszeiten erinnern sollen, die Messdiener mit ihren Ratschen trotzdem hören können, ratschen die Messdiener vom Balkon auf, im Garten oder auf der Straße. So ist es jedenfalls in diesem Jahr in Attendorn, damit die Menschen den Osterbrauch dort trotzdem erleben können.

In seinem Gedicht Osterspaziergang reflektiert Goethe über den Neubeginn, der diesem Frühlingsritus innewohnt. Dabei beobachtet er eine Zusammenkunft an Menschen, und reflektiert, dass sich in dieser sozialen Nähe auch das Menschsein an sich spiegelt.

Der Osterbrauch in der Hansestadt Attendorn ist weit über Südwestfalen hinaus bekannt und dort gibt es außer dem Ratschen auch das Turmblasen, mit dem an die Gebetszeiten während des Schweigens der Glocken erinnert wird.

Für dieses Brauchtum läuft derzeit ein offizieller Antrag, um es als immaterielles Kulturerbe in das Verzeichnis der UNESCO einzutragen.

Bräuche sind Riten, die zeitliche Zäsuren markieren von zwischen untereinander verketteten Tätigkeiten, sie synchronisieren die Anstrengung der Gemeinschaft, bestärken ihrem Glauben an die Wirksamkeit der Gebete und steigern damit die optimistische Stimmung, in der sich der Übergang von Phasen der Ruhe zu konzentrierter Leistung vollzieht, schreibt der Ethnologe Fritz W. Kramer. Und eine optimistische Stimmung, die können wir im Moment brauchen, ob wir nun Christen sind, die das Osterfest feiern oder nicht.

Bereits Wochen vor Ostern werden in Attendorn die Osterfeuer vorbereitet, die am Abend des Ostersonntags brennen und am Samstag steht die gesamte Gemeinde auf dem Kirchplatz, um den Semmelsegen zu empfangen. Der Semmelsegen am Karsamstag in Attendorn markiert das Ende der Fastenzeit, er ist seit dem 17. Jahrhundert dokumentiert und die Stadt hat sich ihre Tradition erhalten, so ganz für sich und ganz eigen, als hätte sie jenseits der von Newton eingeführten Zeitmessung, noch ihre ganz eigene Zeit, die für sich und in ihrem eigenen Rhythmus tickt. Dazu gehören auch die vier Osterfeuer und die Prozessionen nach dem Osterfeuer, für die es spezielle Laternen gibt, die „Lüttchen“ genannt werden. Attendorn erlaubt sich, seine eigene Zeit in der Geschichte des Osterbrauchtums zu schreiben.

Riten des Übergangs nennt der Ethnologe Victor Turner Rituale, die wie der Osterbrauch, einen (Jahreszeiten)-Wechsel markieren. In ihnen bildet sich eine liminale Gemeinschaft, eine Zusammenkunft des Übergangs. Eine Gemeinschaft, die sich vom Alltag abhebt und eben dazu dient, im Alltagsgeschehen für mehr Zusammenhalt zu sorgen.

Eigentlich hatte ich vor, den Osterbrauchtum der Hansestadt in diesem Jahr selbst zu erleben. Ich wäre nach Attendorn gefahren, hätte mir einen Semmel gekauft, um ihn segnen zu lassen, hätte zugesehen, wie die „Poskebrüder“ die Fichtenbäume für das Osterfeuer aufstellen. Für den Moment des Rituals wäre ich Teil dieser Gemeinschaft gewesen, hätte mich darüber gefreut, und darüber geschrieben. Aber in diesem Jahr ist Corona und wir alle bleiben zu Hause.

Die Gottesdienste und der Semmelsegen werden per Livestream übertragen, so kann die Gemeinschaft doch noch irgendwie zusammen sein. Denn Zusammensein ist wichtig, wenn auch nur virtuell, ohne das, existiert eine Gemeinschaft nicht. Sie ist dann nicht mehr als eine Gesellschaft, so hat es der Soziologe Ferdinand Tönnies beschrieben, nur jeder seinen eigenen, individuellen, Willen verfolgt.

Es gibt in diesem Jahr einen „Semmelsegen to go“ damit man sich sein Brot zu Hause selber segnen kann. Segen ist ja ein bisschen wie Magie, man kann ihn aussprechen und hoffen, dass doch noch irgendwann alles besser, alles gut wird. Und leichter ist es natürlich, in Gemeinschaft zu hoffen, auch wenn sie gerade nur virtuell sein kann.

Semmelsegen in Attendorn, hochgehaltene Brote

Osterfeuer

 

 

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