Resident:innen 2022
Sie erkundeten die Jugendkultur und queeres Leben auf dem Land, literarische Fahrradtouren und Wanderungen auf der Straße der Arbeit unternehmen, sie erzählten nachhaltig und schrieben über Zusammenhalt und Trennung in urbanen und ländlichen Räumen: Zehn Autor:innen überzeugten die Jury mit ihren Projektskizzen und sicherten sich die Residenzplätze für die dritte Ausgabe von stadt.land.text NRW.
Erstmals konnten sich auf die Ausschreibung für 2022 auch Literaturschaffende bewerben, die nicht auf Deutsch schreiben. Diesem Aufruf folgten Rabab Haidar, Neïtah Janzing, Tanja Maljartschuk und Álvaro Parrilla Álvarez.
Ein Überblick über die Regionsschreiber:innen 2022.
Kadir Özdemir (Aachen)
Aachen
Kadir Özdemir (*1977) studierte Neuere Geschichte und Soziologie und arbeitet an der Schnittstelle von LGBTIQ* und Migration. Er hat in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht und schreibt regelmäßig Kolumnen. Als Schauspieler und Performer gründete er die Theatergruppe Die Migrationserb:innen, ein Kollektiv aus Schauspielenden mit Flucht- und Migrationserfahrung. Özdemir ist Preisträger des CLINCH FESTIVAL AWARDS 2021 und Stipendiat bei Occupy Kultur! Mentoringprogramm für neue Perspektiven im Kulturbereich. Mit seinem Projekt Bubbles möchte er in der Kulturregion Aachen den Fragen nachgehen: Was hält uns zusammen und was trennt uns in urbanen und ländlichen Räumen? Und wer ist überhaupt ‚uns‘? Dabei wird er die Region in seinen Kurzgeschichten mal als Arena der Interessenkonkurrenz, mal als Mosaik von Lebensentwürfen darstellen und sich mit Künstler:innen, Aktivist:innen, Bürger:innen vernetzen.
Ulrike Anna Bleier (Bergisches Land)
Bergisches Land
Ulrike Anna Bleier (*1968) lebt in Köln und in der Oberpfalz. Für ihre literarische Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit einem Arbeitsstipendium der Kunststiftung NRW und einem Writer-in-Residence-Stipendium in Quebec, Kanada. Ihr Debütroman Schwimmerbecken stand 2017 auf der Hotlist der zehn besten Bücher aus unabhängigen Verlagen. Sie betreut das Projekt Kölner Kulturpaten und bringt Menschen an der Schnittstelle von Wirtschaft und Kunst zusammen. Im Bergischen Land lädt Ulrike Anna Bleier dazu ein, mit ihr auf der historischen Straße der Arbeit zu wandern und von der eigenen Arbeit zu erzählen. Warum arbeiten wir, was wir arbeiten? Welche Bedeutung hat Arbeit für uns, welche Verbesserungen wünschen wir uns? Aus den Porträts und Interviews entsteht eine digitale Straße der Arbeit durch das Bergische Land.
Dorian Steinhoff (Hellweg)
Hellweg
Dorian Steinhoff (*1985) ist Deutscher und Österreicher. Er studierte Philosophie, Rechtswissenschaften und Germanistik an der Universität Trier. Seit 2010 arbeitet er als freier Autor, veröffentlicht Prosa und schreibt für Bühne und Radio. Als Gründer und künstlerischer Leiter des Inkubators für erzählende Medien phileas FESTE entwickelt und kreiert er neue Formen des Storytellings und fördert Autor:innen. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, Texte von ihm liegen in fünf Sprachen vor. Während seines Aufenthalts wird er die Kulturregion Hellweg auf dem Rennrad erkunden — und immer wieder anhalten. Die Dokumentation der Fahrten dient als Ausgangspunkt für das Schreiben über Orte und Begegnungen. Strecken, Fotos und die dazugehörigen Texte veröffentlicht er auf der Outdoor-Plattform Komoot. So entsteht ein literarisches Streckennetz, das Region und Menschen portraitiert, und dazu einlädt, den Routen und Texten selbst auf dem Sattel zu folgen.
Neïtah Janzing (Münsterland)
Münsterland
Neïtah Janzing (*1997) organisierte während ihres Studiums des Kostüm- und Bühnenbilds monatliche Lesebühnen in der Bibliothèque St-Germain in Saint Hyacinthe, Kanada. 2019 wanderte sie nach Deutschland aus und schloss sich in der Hauptstadt dem Résau des Autrices francophones de Berlin, dem Netzwerk französischsprachiger Autorinnen in Berlin, an. Gemeinsam realisiert das Netzwerk Lesebühnen, Lektorate und Textwerkstätten. Janzing war zweimal Web-Residentin im Hôtel des Autrices und stellte 2021 im Rahmen der Initiative Cultura en Vena Kurzgedichte in einem Krankenhaus in Madrid, Spanien, aus. Im Rahmen ihrer Briefprojekte lädt sie Teilnehmende dazu ein, Briefe an ihnen unbekannte Personen zu schreiben. Das Format erprobte sie bereits in Tschechien und Deutschland und entwickelt es nun für ihre Residenz weiter: Im Münsterland erstellt sie aus ihren Fotos von der Region Postkarten und verschickt ihre Eindrücke in wenigen Worten an unbekannte Leute.
Während ihrer Residenz werden Neïtah Janzings Texte von Odile Kennel übersetzt.
Álvaro Parrilla Álvarez (Niederrhein)
Niederrhein
Álvaro Parrilla Álvarez (*1983) ist Drehbuchautor, Autor und Regisseur mit einer Leidenschaft für Musik, Film und Literatur. Er studierte Medienwissenschaften an der Universität von Sevilla, wo er seine ersten Kurzfilme drehte und schrieb. Für die Arbeit an seinem Kurzfilm Goldfische kam er 2014 nach Deutschland und absolvierte ein Studium in Drehbuch und Regie an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Hiernach drehte er die Kurzfilme Interkosmos (2020) und Viereinundfünfzig (2022). Unter dem Titel Zwei Andalusier im Wilden Westen will er während seiner Residenz den Spuren seines Großonkels Manolo nachgehen: Über 50 Jahre lang lebte er in der Region und wurde für seine Familie ein Fremder. Wer war Manolo? Warum hatte er sich NRW ausgesucht? Jetzt, zehn Jahre nach seinem Tod, sucht Parrilla Álvarez Antworten am Niederrhein, einer Grenzregion mit fernen Horizonten und weiten Landschaften, wie ein Western in der Dämmerung.
Während seiner Residenz werden Álvaro Parrilla Álvarez‘ Texte von Freyja Melsted übersetzt.
Tobias Schulenburg (Ostwestfalen-Lippe)
Ostwestfalen-Lippe
Tobias Schulenburg (*1987) lebt in Köln, dann jetzt aber natürlich in Ostwestfalen-Lippe. Er schreibt und zeichnet. Seit 2018 ist er Diplomstudent an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Im Jahre 2020 erschien sein Debütband es sich schön machen. Aus einem früheren Leben hat er auch noch einen Abschluss als Automobildesigner. Während der Residenz fertigt er durch die Erlebnisse vor Ort inspirierte Texte und Zeichnungen unter dem Arbeitstitel Ich kannte niemanden und alle waren nett an. Ihn interessieren dabei, ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit: Wie wir mit unserer Zeit umgehen und durch die Tage kommen, außerdem: Einkaufszentren, Parkplätze, queeres Leben, Motorsport, semi-romantische Waldwege, Fashion, Glaubensgemeinschaften, System-Gastronomie, Flohmärkte (na klar), Bürogebäude, Gewässer aller Art und ihre Ufer, Tiere, Müllkippen, Siedlungen, Tankstellen, Querfeldein-Gehen, Seniorenheime, Dämmerungen, Eisdielen, Kraftwerke, Alkoholkonsum, Werksverkäufe.
Stefanie de Velasco (Rheinschiene)
Rheinschiene
Stefanie de Velasco (*1978) wuchs als Kind spanischer Einwander:innen in Oberhausen und Bonn auf. Ihr Debütroman Tigermilch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt. Aus ihrem Streik vor der Akademie der Künste Berlin für eine gerechtere Klimapolitik entstand 2020 der Gedanke, aus Schrott ein Wohnfahrrad zu bauen und damit durch die Republik zu fahren. Ihr Konzept: Nachhaltiges Erzählen – eine Ästhetik des Nachhaltigen als künstlerische Praxis in Anlehnung an ressourcenschonende Handlungsprinzipien. Während ihrer Residenz kehrt sie an die Orte ihrer Kindheit und Jugend zurück: Sind die Pfützen in Sankt Augustin im Frühjahr immer noch voller Kaulquappen? Und wenn nein, warum? Sie will sich mit Akteur:innen, Landschaften, Bäumen und Räumen verbinden und nach einer Sprache suchen, die nicht nur die Brüchigkeit der Verhältnisse im Anthropozän nachweist, sondern gleichzeitig neue Kreisläufe, Existenz- und Erzählformen herausstellt.
Rabab Haidar (Ruhrgebiet)
Ruhrgebiet
Rabab Haidar (*1977) lebt in Berlin und wuchs in Syrien und Bahrain auf. Sie studierte Englische Literatur an der Tishreen Universität Latakia, ist vereidigte Übersetzerin und arbeitete als freie Journalistin. Ihre Reisen in zahlreiche Länder in Südasien, Europa, Nord- und Ostafrika und im Mittleren Osten halfen ihr, „Gesellschaften als Kontinuum zu verstehen“. 2012 erschien ihr erster Roman Land des Granatapfels. Seit 2017 schreibt sie für deutsche Medien, u. a. für Zeit Online, Vogue und weiterschreiben.jetzt. Mit einem Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung kam sie 2019 nach Deutschland und trat seither bei verschiedenen Festivals und Lesungen auf. Mit ihrem Essay-Projekt Barfußlaufen in kleinen Gärten möchte sie ein Mosaik des ganz normalen Lebens im Ruhrgebiet erschreiben, den Geschichten der Menschen durch Bars, Cafés, Museen, Parks, Märkte folgen, den Rivalitäten zwischen Biersorten und Fußballclubs lauschen und unsere Hobbys und Quarantäne-Routinen beobachten.
Während ihrer Residenz werden Rabab Haidars Texte von Freyja Melsted übersetzt.
Tanja Maljartschuk (Sauerland)
Sauerland
Tanja Maljartschuk (*1983) lebt als Autorin in Wien. Sie studierte Philologie an der Prykarpattia National Universität in ihrer Heimatstadt Iwano-Frankiwsk in der Westukraine und arbeitete einige Jahre als Fernsehjournalistin in Kiew. Seit 2011 ist sie wohnhaft in Österreich. Ihr letzter Roman Blauwal der Erinnerung erschien 2019 in deutscher Sprache. Sie veröffentlichte zahlreiche Essays, u. a. in der FAZ und in Die Zeit sowie Hörfunkbeiträge im ORF. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie mehrmals ausgezeichnet, u. a. 2016 mit dem Preis Buch des Jahres der BBC Ukraine und 2018 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis für die Erzählung Frösche im Meer. Im Rahmen ihrer Residenz möchte sich Tanja Maljartschuk mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs im Sauerland beschäftigen, Unterlagen zu osteuropäischen Zwangsarbeiter:innen in den umliegenden Archiven recherchieren und somit eine Brücke zwischen verschiedenen Modellen der Erinnerungskultur in Form von kurzen Essays bauen.
Tobias Siebert (Südwestfalen)
Südwestfalen
Tobias Siebert (*1993) ist Autor und Absolvent des Deutschen Literaturinstituts Leipzig. Zuvor studierte er Komparatistik und Sprachkunst in Mainz und Wien. Er veröffentlichte in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien und ist Mitveranstalter der interdisziplinären Lesereihe anemonen. 2021 war er Finalist beim Literaturförderpreis der Landeshauptstadt Mainz. Er lebt in Leipzig. In seinem Projekt Komm, lass rausgehen möchte er sich in Südwestfalen auf die Suche nach subkulturellen Phänomenen begeben und deren Sichtbarkeit im Kontext der Digitalität betrachten. Welche neuen Möglichkeiten und Chancen bietet eine digitale Infrastruktur im ländlicheren Raum und welche Bedeutung kommt den größeren Städten dabei noch zu? Welche Hobbys, für die es in der Stadt gar keinen Platz gibt, werden auf dem Land ausgelebt? Die dabei gewonnenen Eindrücke werden auf dem Blog zu literarischen Miniaturen und Kurzessays verarbeitet.