Grenzwerte

Bergbau war für mich immer Kohle, war Steigerlied, Bochum, Ruhrgebiet, war dunkle tiefe Nacht. Und heute frage ich mich oft, warum habe ich nicht mehr darin gesehen, zu Beispiel einen magischen Prozess, mit dem man Eisen und Stahl herstellt. Die Arbeit der Zwerge war für mich lange ein Geheimnis, dass sich während meiner Regionsschreiberzeit in Südwestfalen nach und nach gelüftet hat.

Die für die Verhüttung von Eisen und Stahl notwendige Kohle kam über die Ruhr-Sieg Strecke aus dem Ruhrgebiet nach Südwestfalen. Diese Strecke steht praktisch symbolisch für die Beziehung beider Regionen. So haben der Regionsschreiber des Ruhrgebiets, Brandstifter und ich beschlossen, diese zu bereisen, um Grenzwerte zu sammeln. Im Gegensatz zum Ruhrgebiet mit seinen großflächigen Komplexen ist die Industrielandschaft in Südwestfalen kleinteiliger und verwinkelter.

Also machen wir uns an einem Tag im Juli auf die Strecke. Unterstützt werden wir bei unserer Aktion von Tanja Roolfs, Brandstifters Lebens- und Kunstpartnerin. Die beiden sind seit 1999 das Performanceduo horstundireneschmitt. Glück auf, würde der Bergmann sagen, mit so einem tollen Künstlerpaar zusammenzuarbeiten.

Der erste Streckenteil der Ruhr-Sieg, von Hagen bis Letmathe wurde bereits 1859 eröffnet, Letmathe bis Altena und Altena bis Siegen folgten 1860 bis 1861. Es ist eine schöne Strecke von 106 km, die überwiegend durch das Tal der Lenne führt. Die Regionalbahn fährt an vielen Stellen durch scharfe Kurven, wenn es an diesem Nebenfluss der Ruhr entlang oder durch einen der vielen Tunnel geht. Wir haben den Eindruck durch eine naturbelassene und in großen Teilen noch verwilderte Landschaft zu fahren. Dabei ist das historisch überhaupt nicht so. Die Lenne wurde an vielen Stellen für Strom- und Wasserversorgung aufgestaut. Und da es weitflächig Kläranlagen erst nach dem zweiten Weltkrieg gab, gelangte, was für die Kanalisation bestimmt war, in die Bäche und Flüsse. Die Lenne soll an vielen Tagen eine gelbe Brühe gewesen sein.

Davon ist an diesem Tag nichts zu spüren, als wir auf Plettenberg zu fahren, spiegelt sich im Wasser glitzernd der Sonnenschein wieder.

Es ist ein schöner Platz, ein Café, Menschen sitzen draußen und unterhalten sich. Einer Frau reiche ich unseren Flyer, lade sie zu der Veranstaltung am nächsten Abend ein. Sie lächelt, meint aber, dass sie bis nach Altena fast eine Stunde Fahrzeit hätte, da käme sie selten hin. Ich reagiere überrascht, denn die Fahrt mit dem Zug dauert nur eine viertel Stunde. Die Frau schiebt ihre Mülltonnen vor dem Haus zusammen, antwortet, Abends führe die Regionalbahn nur noch stündlich, und die Strecke mit dem Auto habe eben viele Kurven, deswegen dauert es auch so lange.

Dass sie unsere Kunstaktion auch demnächst im Internet anschauen kann, sage ich der Frau noch zum Abschied. Sie nickt freundlich, bevor sie in ihrem Hauseingang verschwindet. So bleibt doch nur der Bildschirm, das wordlwideweb, um sich nicht nur mit dem Geschehen der Welt, sondern auch der Region zu vernetzten.

Einige Meter weiter findet Brandstifter eine verlorene Botschaft, einen Keeper, wie er die gefundenen Zettel nennt, die nicht nur einen Augenblick, ein momentum wiedergeben, sondern eine ganze Ära, eine eigene Geschichte schreiben. Aus der Notiz öffnen sich Türen, wie bei diesem Zettel mit aufgelisteten Telefonnummern aus dem Krankenhaus.

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Wir kommen an mehreren Fahrschulen vorbei, das scheint gut hier zu laufen, das mit dem Führerschein, ohne den geht es wohl kaum in der Region.

Am Bahnhof Finnentrop steigen zwei Reisende mit Fahrrad zu uns in die Bahn. Ansonsten sieht das Gelände leer aus. Früher, als die Finnentroper Hütte noch in Betrieb war, war hier reger Verkehr, und im ersten Weltkrieg eine Feldküche und Sanitätskolonne eingerichtet.

Von alledem sind nur noch ein paar alte Bäume Zeugen, die am Rand der Strecke stehen. Selbst die alten Gebäude sind nicht mehr da.

Auch der Kulturbahnhof Lennestadt wirkt an diesem sommerlichen Tag verlassen. Dabei hatte ich mich auf den besonders gefreut. Von dort werden für den literarischen Herbst immer zwei Autoren durch die Schulen der Gegend auf Lesereise geschickt. Aber an diesem Tag ist das Café geschlossen. Nicht mal Kinder spielen auf der alten Look, die zu einem Spielplatz umgebaut wurde. Auf einem Schild steht 1861, das Datum, an dem die Ruhr-Sieg-Strecke eingeweiht wurde und hier in Grevenbrück war es auch, dass der Zug bei der Eröffnungsfeier entgleiste.

In Kreuztal am Kulturbahnhof schließlich sind Ausstellungsräume und Café geöffnet. Dort steht der Kofferturm von Annette Besgen und Ulrich Langenbach. „Ich habe noch einen Koffer in Kreuztal“, ist die Inspirationsquelle, angelehnt an das Lied von Marlene Dietrich „Ich habe noch einen Koffer in Berlin“. Mit der Darstellung des Sammelns über die Anhäufung der Koffer, und gleichzeitig der Darstellung der lokalen Verankerung ist der Kofferturm auch eine Metapher für die Werkprojekte von Brandstifter und mir, das Sammeln, Bleiben, Wiederkommen und Aufbrechen manifestieren sich hier in einer Landmarke, bei uns in Text und Wort.

horstundireneschmitt vor dem Kofferturm

Im Kulturbahnhof wird eine Ausstellung von Eberhard Stroot gezeigt, einem lokalen Künstler, über den in meinem Text Understatement berichtet wird. Die Ausstellung backstage- on the stage greift die Thematik der Bewegung auf, mit der sich Eberhard Stroot bereits ein Leben lang beschäftigt. Auf den Bildern sind Menschen, Sportler und Tänzer zu sehen. Durch die dahinterliegenden Spiegel wird die Dynamik ins Unendliche vervielfacht. Brandstifter macht eine freundliche Übernahme, stellt ein paar vor Ort gefundene Botschaften aus, der Kunstraum kommt in Bewegung, verändert sich, wird zu einer kreativen Zone.

backstage- on the stage

Auf der Ruhr-Sieg sind Bergbau und Hüttenförderung längst Vergangenheit geworden, dafür säumen nun kulturelle Hotspots mit Literatur- und Kunstförderung die Strecke. Um die Mobilität der Bewohner zu vereinfachen und das Klima zu schonen, könnte der Bahnverkehr sicherlich intesiviert werden, den schönen und ambitionierten Kulturbahnhöfen würde es sicherlich nützen.

Aus den Fundzetteln der performativen Begehung ist eine Asphaltbibliotheque Südwestfalen entstanden. Eine Dokumentation über die Poesie des Alltags, entstanden aus einer fallen gelassenen Notiz, ein Vorüberflattern der Zeit, die doch immer viel zu schnell vergeht und von der am Ende nur die stillen Zeugen bleiben. Ein Gebäude, eine Zahl, eine Botschaft, eine Strecke des Lebens.

Mehr von Barbara Peveling

Understatement

„…wie sehr es mich immer gefreut, einen gewissermassen Geistesverwandten, engeren Landsmann zu haben- denn bis jetzt ist es sehr selten, dass unter Eisen u. Kohlen unserer Vaterstadt künstlerische Elemente sich entwickelt haben.“

Ida Gerhardi an Karl Ernst Osthaus

 

Halbzeit, und damit der Moment gekommen, Bilanz zu ziehen und darüber zu schreiben, warum Südwestfalen der beste Ort der Kultur-Förderung sein kann.

Wenn ich meinen Eindruck über die Region mit einem einzigen Wort zusammenfassen sollte, dann wäre es dieses: UNDERSTATEMENT.

Südwestfalen ist mit Sicherheit eine Region, die im Außen- und Eigenbild völlig unterschätzt wird.

Südwestfalen, das ist auf den ersten Blick eine Industrieregion mit viel Wald. Die viele und üppige Präsenz der Natur, lässt einen leicht an Landwirtschaft denken. Man stellt sich dann Bauern vor, die Kühe hüten, Frauen mit Kopftüchern, die mit Eimern in den Händen zum Melken ausziehen. Man meint, es wäre eine Gegend, in der die Menschen von ihren Händen leben, indem sie das Feld bestellen, man glaubt, sie seien abhängig vom Wetter, würden gelernt haben, sich dessen Willen beugen, wie der eines alles beherrschenden Gottes. Aber das stimmt nur zu Hälfte. Von der Landwirtschaft allein haben die Menschen in Südwestfalen nie leben können.

Viele Vorurteile existieren bezüglich dieser Gegend, die kulturell gesehen, nicht viel von sich reden macht. Die zahlreichen Schützenvereine lassen an die Vorliebe für Tradition und Folklore denken. Heimat ist ein wichtiges Wort. Und das alles erinnert schmerzhaft doch auch an eine andere Zeit in Deutschland, die wir gerne vergessen wollen. So wurde ich zu Beginn des Stipendiums auch oft gefragt, was ich denn in Südwestfalen erforschen wolle, vielleicht Nazis? Rechtsradikale? AFD-Mitglieder? Den Rechtsdruck gibt es leider aktuell in sehr vielen Regionen Deutschlands und meines Wissens nach nicht herausragend mehr in Südwestfalen als in anderen Gegenden.

Religion ist ein anderes Stichwort, das immer wieder fiel. Dies oft im selben Atemzug mit Max Weber genannt, der ausführlich über den Geist des Kapitalismus im Zusammenhang mit religiöser Tradition geschrieben hat. Es wird nicht selten vermutet, der Reichtum der Region läge an einer gewissen pietistischen Lebensweise. Selbstverständlich hängt religiöse Praxis und Akkumulation von Reichtum zusammen. Dies nicht nur auf Seiten des Protestantismus.

Der Reichtum der Region kommt aber nicht vom Beten, sondern ursprünglich aus den Bergen. Er war lange versteckt in dem unterirdischen Labyrinth, einer Welt, die der des Minotaurus gleicht.

Es gibt überhaupt sehr viele versteckte Schätze in der Region. Vielleicht liegt dieser Zustand an der Gegenwertigkeit der Bergwerke, sie sind zwar stillgelegt, aber immer noch da, wenigstens im kulturellen Gedächtnis der Region. Bergwerke haben es so an sich, das man tief graben muss, um, was Leuchtet ans Licht zu bringen. Vielleicht haben sich die Menschen in Südwestfalen deswegen angewöhnt, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen, sich genügsam zu geben, nicht auffällig jedenfalls, denn sie kennen sich aus mit vergrabenen Werten.

Während im Rheinland Kohle abgebaut wurde, waren es in Südwestfalen Erz, Kupfer und Silber. Hier wurde Eisen und Stahl produziert. Altena gilt als die Wiege der Drahtproduktion.

Die Historiker Peregrine Horden und Nicholas Purcell haben in ihrem Werk „The Corrupting Sea“ die Beziehung zwischen Menschen und ihrer Umwelt im Mittelmeer über gut dreitausend Jahre hinweg analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass es eine lokale Form der „langen Dauer“ gibt. Traditionen, die sich mit der Zeit zwar verändern, aber auch eine lokale Hartnäckigkeit aufweisen. Der Begriff der „langen Dauer“, longue durée ist von Ferdnand Braudel geprägt worden, einem Historiker der Annalen Schule.

Für Braudel verläuft die menschliche Geschichte nicht gradlinig, sondern auf verschiedenen Ebenen, wobei die Ereignisse, die für uns meist zu den wichtigsten historischen Zeitmessern werden, wie der 11. September oder die aktuelle Coronakrise, eben nur Wellen auf der Oberfläche des langen Stroms der Geschichte sind, und der viel tiefere Grund darunter meist verborgen liegt.

Wenn ich nun diese von Braudel geprägte, und von Horden und Purcell weiter entwickelte Theorie auf Südwestfalen anwende, so erklärt sich das lokale verankerte „Understatement“ als ein zeitloses Phänomen, als ein historischer Tatbestand, der in den lokalen geographischen Besonderheiten und im kulturellen Gedächtnis seiner Bewohner verankert ist. Bereits die Kelten sollen dort den Wald gerodet und das Erz aus den Bergen geholt haben. Lange muss man nicht überlegen, um sich vorzustellen, wie diese Art der lokalen Produktion die Menschen formt. Die Schätze der Region befinden sich in der Tiefe ihres Seins.

Die nachhaltige Tradition der Waldrodung (Hauberge) ist eine der vielen Schätze der Region, von denen kaum jemand über die Grenzen hinaus Notiz nimmt. Südwestfalen ist still und unauffällig, mit nicht wenigen Global Players im Unternehmensbereich, ist es auch eine reiche Region. Reich und verschwiegen, wie Heinrich Vormweg in seinem Film „Siegen, Notizen einer Stadt“, erzählte. Der Film entstand 1966 und wurde nur einmal im Fernsehen gezeigt, er ist unerkannt geblieben, wie die Region, über die er berichtet.

Industrie bedeutet Kreativität und Produktivität, doch was ist mit der anderen Produktion, die eigentlich auch systemrelevant ist, die der Kunst? Auch darüber wurde bereits im Film von Vormweg reflektiert, dort ist von Verachtung gegenüber jener Produktivität die Rede, die nichts Verwertbares hervorbringt, also Kunst.

Dabei kann Südwestfalen auf eine eigene glorreiche Epoche in der Kunstgeschichte zurück schauen, der sogenannte „Hagener Impuls“, der hauptsächlich von Karl Ernst Osthaus (1874-1921) beeinflusst wurde. Zu dieser Epoche gehört auch Ida Gerhardi (1862-1921), die in Hagen geborene Künstlerin wurde von mir bereits in einer Youtube-Lesung vorgestellt. Sie ist, genauso wie Karl Ernst Osthaus, das weibliche Beispiel für die Modernität und Aufgeschlossenheit der Region. Ohne Ida Gerhardi hätte Karl Ernst Osthaus zu deutlich weniger französischen Künstlern Kontakt gehabt.

Osthaus-Museum-Hagen, Bild von Simone Scharbert

Von den ambitionierten künstlerischen Projekten des Karl Ernst Osthaus in Südwestfalen sind die architektonisch herausragenden Gebäude geblieben, wie der Hohenhof, das von Henry Van de Velde geplante Wohnhaus der Familie.

Der „Hagener Impuls“ ist kaum über den ihm eigenen Begriff des Antriebs hinausgegangen. Es ist bei einem Anstoß geblieben, das weltweit bekannte Folkwang-Museum steht heute im Ruhrgebiet, das aus diesem Impuls entstandene Bauhaus glänzt heute nicht in Südwestfalen. Dabei hatte Karl Ernst Osthaus angeregt, das soziale Leben durch Kunst zu gestalten. Er wollte die Versöhnung schaffen von Kunst und Sozialem. Eine Künstlerkolonie, Werkstätten und ein Lehrinstitut sollte gegründet werden, sie alle sind nur noch Teile eines Museums. Aber auch davon ist nichts geblieben, als die Gebäude, leere Räume, die heute dort ausgestellt sind wie Sammelstücke, schön anzusehen, beeindruckend sogar, aber leblos. Eine heute tote Utopie.

Osthaus schreibt, dass im Westfalen des 19. Jahrhunderts die künstlerische Tradition nicht wirklich veranker ist: „Kleine Malertalente, die hie und da auftauchten, verließen den Boden der Heimat und suchten in Düsseldorf oder Italien ein Milieu, das ihnen Anregung und Förderung gab.“

Doch ist die künstlerische Produktivität Südwestfalens nicht nur Vergangenheit. Auch heute noch gibt es in der Region viele Perlen künstlerischer Produktion, die still und leise vor sich hin glitzern.

Unter Eisen entwickeln sich auch künstlerische Elemente, wie Ida Gerhardi an Karl Ernst Osthaus schreibt.

Ein Künstler, der Eisen zu seinem künstlerischen Element gemacht hat, ist Eberhard Stroot. Der ehemalige Olympiasportler lebt schon lange in Kreuztal. Viele seine Kunstwerke sind aus Stahl. Das Grundmetall für Stahl ist Eisen.

Kunstwerke von Eberhard Stroot, mit freundlicher Genehmigung vom Künstler

Zu Eberhard Stroot gehört seine Frau, Karin Stroot. Die ist Tänzerin und ist im Siegerland mit ihrem Tanztheater bekannt geworden.

Tanztheater Karin Stroot, mit freundlicher Genehmigung von der Künstlerin

Das Besondere an den Stroots ist auch, dass sie als Künstlerpaar vier Kinder haben. Ich erinnere mich noch genau, wie ich, schwanger mit meinem ersten Kind, bei Karin Stroot in der Küche saß, und mir von ihr erzählen ließ, wie das so geht, Künstlersein und Kinderhaben. Es ist nicht leicht. Die Stroots sind als kinderreiche Künstlerfamilie eine Ausnahme.

Die Performance-Künstlerin Marina Abromavic beispielsweise wurde schwer angegriffen, als sie in ihrer Biographie schrieb, sie habe in ihrem Leben drei Abtreibungen gehabt. Abromavic hat nicht Unrecht, wenn sie behauptet, eine Karriere in der Kunst und Kinder seien nicht vereinbar. Ihre Aktion „The Artist is Present“ stand für meine Aktion „The Reader is Present“ in diesem Blog Pate.

Das Künstlerpaar Stroot hat nicht nur vier Kinder, sondern sich nie gescheut, damit auch offen in der Kunstwelt hervorzutreten. Als das Paar gemeinsam 1981 im Sportstudio auftrat, war ihr erstes Kind dabei und wurde von Bern Heller auf den Arm genommen.

Vierzig Jahre später sind Kunst und Kinder immer noch nicht besonders gut miteinander vereinbar. Frauen sind in der Kunst  weiterhin unterrepräsentiert. Stipendien, die Künstler mit Kindern fördern sind eher die Ausnahme. Es lässt sich nicht von einer familienfreundlichen Nachwuchsförderung sprechen, denn in der Landschaft der Preise, Förderungen und Stipendien wird oft 35 als Altersgrenze angesetzt. Erziehungszeiten werden nirgendwo angerechnet. 2014 hat Julia Franck darauf hingewiesen, dass es in Deutschland eigentlich keine Vereinbarkeit für Kinder und Kunst gibt.

Dies heißt, das Künstler, die sich eine Familie wünschen, sehr gut ihr Leben im Voraus planen müssen, was eigentlich unmöglich, und damit kontraproduktiv ist, denn weder Kinderkriegen noch Familienglück oder das Leben überhaupt sind wirklich planbar. KünstlerInnen zahlen oft einen hohen Preis für dieses familienfeindliche System der Kunstförderung.

In ihrem Roman schildert Isabelle Lehn berührend den Zustand der Zerrissenheit zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Karriere einer Autorin.

Heute würde eine Kusntperformance mit Kind wie die der Stroots im Sportstudio damals, als Beispiel der Vereinbarkeit gefeiert. Damals gehörte der Auftritt lediglich zum diskreten Charme der Stroots aus Südwestfalen.

Es ist also durchaus eine fortschrittliche Region, die sich wohl selbst unterschätzt und auch von außen unterschätzt wird. Dabei steht sie den urbanen Zentren mit wenig nach, wie religiöses Miteinander, Industrie, Kunst und Kultur zeigen. Aber doch hält sich die Region selbst hinterm Berg und dies hat sicher mit dem zu tun, was der Historiker Fernand Braudel „lange Dauer“ nannte.

Möglichkeit einer Region, so habe ich mein Projekt genannt und eine Möglichkeit ist für mich die Kunst- und Kulturförderung. Eine Option ist an die Ideen von Karl Ernst Osthaus anzuknüpfen. „Folkwang“ kommt aus dem nordischen und bedeutet so viel wie „Halle des Volkes“. Osthaus wollte Kunst allen zugänglich machen und auch Künstlerresidenzen schaffen.

Eine Möglichkeit wäre eine Künstlerkolonie zu gründen, eine, die explizit KünstlerInnen aller Sparten mit Kindern fördert und damit eines der ersten nicht nur in Deutschland, sondern auch Weltweit wäre. Dafür wäre die Region nicht mal auf den Staat angewiesen, eine von UnternehmerInnen gegründete Stiftung könnte dazu eine Alternative bieten. Ein Ort der sich dafür anbieten würde, wäre beispielsweise Altena, eine Stadt mit großer Abwanderung in der Region, aber auch eine Stadt mit einem bedeutenden künstlerischen Erbe, wie das Apollo-Kino.

Südwestfalen könnte Vorbild  und Vorreiter in Deutschland für eine familienfreundliche Kulturförderung sein. KünstlerInnen würden nicht nur eine Unterkunft und Förderung, sondern auch Kinderbetreuung geboten, indem die Kinder für die Zeit des Aufenthaltes in die lokalen Schul- und Betreuungseinrichtungen integriert werden. Daraus könnte eine Win-Win-Situation entstehen, denn indem die Kinder betreut werden, können sich Künstler selbstverständlich auch in das lokale Geschehen miteinbringen.

Ein ambitioniertes Projekt mit dem ich, mit einem großen Bogen zwar, an die Ideen von Karl Ernst Osthaus anknüpfe. Ein Projekt, das einer Region würdig ist, die viel leistet, sich aber selbst gerne unter den Scheffel stellt. Ein Projekt, mit dem aus einem Understatement, ein Statement werden könnte, auf das die deutsche Kulturlandschaft wartet.

Osthaus, Hagen, Bilder von Simone Scharbert, ganz HERZLICHEN DANK dafür!

 

Tanztheater Karin Stroot, Bilder von Karin Strooh, Herzlichen Dank dafür!

 

 

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