Neue Legenden für alte Karten: Stoff
26. Juni 2020
26. Juni 2020
14. Juli 2016
Wolfszähne fressen sich durch weiße Wolle. Es quietscht und rumort. Live dabei bei einem Mord? Keineswegs! Hier im Euskirchener LVR-Museum macht nur die Krempelwolfmaschine ihre Arbeit wie in alten Zeiten. Inzwischen regnen weiche Wolleschneeflöckchen aus der Maschine, der Wolf ist fertig. Doch damit ist es noch längst nicht getan, weiß Museumsführerin Sabine Gerhardt. Von der Krempelmaschine muss die Wolle nun zum Färben. Anschließend machen mächtige Spinnmaschinen daraus Fäden bis schließlich die Verarbeitung auf donnernden Webstühlen erfolgt: Geschichte zum Anfassen – „Wir haben oft Schulen zu Besuch, die in unserem Gästehaus schlafen und mehrere Tagen hier vor Ort Geschichtsunterricht erleben“, erklärt Gerhardt. Sie hat selbst Lehramt studiert, aber schließlich im Museum Wurzel geschlagen: „Ich bin von Beginn hier in Euskirchen mit dabei gewesen – es ist einfach eine tolle Arbeit.“
Seit 16 Jahren können Schaulustige die Tuchfabrik Müller als Museum besichtigen. „Nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf wurde die Tuchfabrik, die eigentlich 1961 wegen mauen Geschäften geschlossen wurde, wieder zum Leben erweckt“, sagt Gerhardt. Als in den 80ern der Prinz – in diesem Falle der Landschaftsverband Rheinland – kam, um die Fabrik wieder zum Leben zu erwecken, stieß er auf einen ungeahnten Schatz: „Alle Maschinen sind noch vollständig erhalten und viele funktionieren sogar heute noch.“ Und tatsächlich hat man das Gefühl, dass gerade erst ein paar Arbeiter die Maschinen hätten verlassen können; so authentisch wirkt hier alles. „Das Museum ist einfach einer der wenigen verbliebenen Orte, die uns einen unverstellten Blick in die Vergangenheit geben“, sagt Gerhardt. Selbst die alte Körmelecke des sammlungswütigen Besitzers ist noch erhalten geblieben. „Hier ist alles noch so, wie es damals auch war!“
Die Wollroute
Detlef Stender ist Leiter des Industriemuseums Euskirchen und stolz darauf, dass die Tuchfabrik heutzutage in dieser Art einzigartig in Europa ist. „Die Tuchindustrie hat einfach eine große Bedeutung für unsere Region“, sagt er. Deshalb hat Stender 2004 die „Arbeitsgruppe Wollroute“ mitbegründet. Denn in den vergangenen 300 Jahren war nicht nur Euskirchen, sondern auch Aachen, Eupen, Monschau, Vaals und Verviers Hochburgen der Wolltuchproduktion. „Hier wurden Tuche für die ganze Welt gewebt“, erklärt Stender. Heute gebe es zwar kaum noch aktive Tuchproduktion, doch dafür zahlreiche herausragende Denkmäler und Museen, die deren Geschichte erzählen. Um diese Tradition zu erhalten, und auch um eine Verbindung zwischen den verschiedenen Standorten herzustellen, haben sich die Städte in einer Arbeitsgruppe vernetzt: „Zunächst wollten wir unsere gemeinsame Wirtschaftsgeschichte zusammenfassen.“ In der Arbeitsgruppe versammeln sich regelmäßig Vertreter unterschiedlichster Gebiete: Historiker, Museumsleute, Tuchwerkbesitzer, Beamte vom Kulturamt, der Gemeinden und Städte und Mitarbeiter der Tourismuszentrale kamen zusammen, um die gemeinsame Geschichte zu erörtern.
Warum hat die Region die Tuchindustrie verloren?
Die Öffnung der Zollgrenzen, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in den 50er Jahren mit sich brachte, führte zu starker Konkurrenz – vor allem aus Italien. Zwischen 1952 und 1982 mussten aufgrund dieser Konkurrenzsituation alle Tuchfabriken der Region schließen. Der Absatzmarkt ist zusammengebrochen, da sich die Textilindustrie zunächst nach Italien und schließlich von der Türkei nach Asien verlagert hat.
Doch bei aachenstricktschön geht es nicht nur um’s Gutaussehen und Funktionalsein, nein, vielmehr geht es auch um eine Spur Protest. „Beispielsweise die Sitzklötze aus Stein“, sagt Martin Görg. „Als diese in der Innenstadt installiert wurden, war das Geschrei groß.“ Die Steine seien zu teuer und sowieso viel zu kalt zum Draufsitzen und dann auch noch ideal in Hundehöhe zum Dranpinkeln. Sowas aber auch! Görg lacht. „Wir haben damals ein paar Klötze eingestrickt und wollten die Leute mal daran erinnern, dass es „nur“ um ein paar Sitzklötze geht“, erzählt er. Mit Erfolg, denn nach der Strickaktion war das Thema aus dem öffentlichen Stadtgespräch verschwunden. Die Wolle hatte geschlichtet.
Aber auch Schöngeistiges gehört mit dazu. „Wir haben zum Beispiel Waldtiere für das Kukuk zum Thema Grenzrouten gestrickt“, erzählt Nordhausen. Das Gestrickte dauerhaft draußen zu lassen, findet sie allerdings nicht richtig: „Wir lassen unsere Aktionen meist nur zwei, drei Tage vor Ort, danach sieht es nicht mehr schön aus.
Oma-Image lächelnd umstrickt
Die meisten der Streetart-Strickereien übernimmt zwar eine eigene kleine Strickmaschine. Trotzdem kostet das Projekt Zeit und auch Geld. Doch Martin Görg ist es das Wert: „Es macht nicht nur Spaß, sondern gibt uns auch unfassbar viel zurück.“ Ein Beispiel: Die Görgs haben für eine Ausstellung im Rahmen des Karlsfestes eine riesige Europakarte gestrickt. „Am Tag der Ausstellung kam eine Familie vorbei und der Vater hat sein Kind hochgehoben und gesagt: ‚Fühl mal, so ist Europa‘.“ Görg schaut auf. „Das Kind war blind.“
Und sie hat recht, fährt man mit den Fingern über die Wollknäule in den Auslageregalen, kratzt es nicht mehr auf der Haut. „Es gibt sogar Garne aus Bambus, Wolle mit Stahlfasern oder sogar Papier“, sagt sie. Altbacken sei gewiss etwas Anderes. Genau deshalb setzten sich die Görgs und Nordhausen auch für die Aufnahme der Wolltradition in das Register des immateriellen Kulturerbes der UNESCO ein. Man müsse so ein ausgeprägtes Netzwerk der Industriekultur würdigen. „Immerhin besteht es seit Mitte des 18. Jahrhunderts – das darf nicht in Vergessenheit geraten“, finden Görg und Nordhausen. Mit der Wollroute und Strickaktionen hoffen sie darauf, dass es weitergeht. Auch Detlef Stender sieht das so: „Es ist zwar ein sehr spezieller Tourismus, aber es ist unsere gemeinsame Geschichte.“ Ein Thema von Relevanz. Eben der rote Faden der Region.