RUTHCHEN MADE MY DAY

donnerstag vor dem corona-erlass: heute nachmittag scheint volle kanne die sonne und ich beschließe an der frischen luft in den dortmunder westpark zu flanieren. überall sitzen oder laufen menschen mit bierflaschen in den händen herum und laben sich an den ersten warmen sonnenstrahlen. ich suche mir eine einsame sonnenbank und bin gerade dabei visuelle poesie in meine kladde zu kritzeln, als sich ein weißhaariges mütterchen zu mir setzt.

da mein rucksack fast die gesamte sitzfläche beansprucht, räume ich ihn schnell auf die andere seite und schon eröffnet die etwa 1,60 m kleine dame das gespräch: lassen se nur – ich will nuur kurz verschnaufen – von wegen! sie rückt nun fast bis auf tuchfühlung an mich heran, so dass ich ihren süßlichen milchkaffeeatem rieche, und plaudern will se, aber dass ist mir gar nicht so unrecht. sie wohnt hier umme ecke, ist 93 jahre jung und führt immer noch ihren eigenen haushalt. ihr mann, also der willie, der lebe nich mehr und sei schon mit 59 an speisenröhrenkrebs verstorben, der hätte bei der bundesbahn gearbeitet und immer so viel geraucht.

ab und an stupst sie mir beim erzählen burschikos ihren ellenbogen in die seite. ja ihr gedächtnis, das lasse sie jetzt manchmal im stich, aber man sei ja schließlich schon 93. als junges mädchen habe sie bei der westdeutschen drahtseil verkaufsgesellschaft gelernt und gearbeitet. das sei ein langer fußweg gewesen: jeden tag bis runter in den hafen und abends wieder zurück ins unionsviertel. dann kamen die kinder, zwei mal jungs – macht ja nix -, und als die aus dem haus waren, da habe sie wieder angefangen zu arbeiten bei waldschmidt.

der willi habe ihr immer viel von den wichtigen entscheidungen überlassen und sei auch sonst ein ganz lieber gewesen. manchmal, wenn sie dran waren mit dem putzen, habe er schon den boden und keller fertig gehabt, wenn sie vom arbeiten kam, das sei ihr gar nicht recht gewesen: was sollen denn die anderen im haus denken. wenn er gleich auf spätschicht mußte, dann hing der willi schon im fenster, wenn sie nach hause kam: gehste wieder schwofen? fragte er dann. dass war ihm gar nicht so recht, aber sie ging trotzdem zum tanztee und er gewöhnte sich irgendwann daran. die besten tänzer hätte sie immer abgekriegt. 44 hat der willi sich mit siebzehn freiwillig als soldat gemeldet und war in italien in der nähe von rimini gewesen, da hamm se nach dem krieg auch immer urlaub gemacht. und dann isser er so weit rausgeschwommen, bis sie nur immer noch seine haare sah, da habe sie angst gekriegt und gedroht sofort nach zu hause zu fahren, wenn das nicht aufhören tut. im nachherein sage sie sich immer: och ruthchen, hätte alles schlimmer kommen können. hauptsache die kinder sind gesund und lieb zu einem.

hier im park hätten sie immer im sandkasten gespielt. wie schnell doch so ein leben vergeht. und als dann die tommies mit ihren flugzeugen kamen, diese ganze bombenschmeißerei! bei alarm sei sie hier in den bunker gerannt, schnellschnell die treppe runter. der sei heute ein museum. sie erinnere sich noch an einen männerarm, der aus den trümmern des völlig zerstörten dortmunder hauptbahnhofs herausgeschaut hatte, nee, das könne sie nicht vergessen…

als ich sie frage ob sie denn keine angst vor corona habe, muss sie nicht lange überlegen: warum soll ich denn angst haben? wenn ich dran bin, dann bin ich dran. ich bekomme gänsehaut: haargenau das gleiche, hatte vor einer stunde meine 92jährige mutter, die von papa brandstifter (93) auch manchmal ruthchen genannt wird und meiner parkbekanntschaft gar nicht so unähnlich ist, ihrem besorgten sohn auch gesagt am telefon.

mittlerweile ist die schöne warme sonne wech. ich habe kalt und muß mal. auch ruthchen macht weiter und verabschiedet sich von mir mit einem knappen aber herzlichen: tschüß, woll! ob ich sie wohl noch mal wieder sehen werde? auf dem weg zum berühmten dortmunder U unter dem dach der ehemaligen union-brauerei komme ich bei waldschmidt haushaltwaren vorbei, ja die gibst tatsächlich noch hier.

ich überquere die unionstraße und schau erstmal in den dortmunder kunstverein herein. dort ist die sehr poetische art brut ausstellung von anne-lise coste LA LA CUNT zu sehen. sogar danach noch, da sie täglich von 11-18 Uhr beleuchtet wird und über die rundum laufende fensterfront von außen sichtbar ist. weil es dort keine toilette gibt, geh ich rasch ins dortmunder U und schaue mir bei der gelegenheit auch gleich WELCOME TO THE FLUX INN an: im vierten stock hängt die überlebensgroße reproduktion eines fotos vom fotografen wolfgang träger, auf dem er den fluxus mitbegründer ben patterson abgelichtet hat, wie dieser gerade dazu ansetzt, eine geige auf dem pickelhaubenbewehrten kopf des dortmunder kulturdezernenten jörg studemann zu zerschlagen.

BEN hatte bis zu seinem tod 2016 in wiesbaden, der nachbarstadt meiner homebase mainz, gelebt und wir hatten in beiden städten zwei wunderbare aktionen zusammen durchgeführt. die zweite, SILENT REFUGEE NIGHT, war leider sein allerletzter liveauftritt gewesen. schön zu sehen, dass BEN hier als fluxus pop star gewürdigt wird.

an einer pinwand werde ich museumspädagogisch aufgefordert eine handlung durchzuführen, die sich ein vorheriger besucher ausgedacht hat, sowie mir eine neue handlungsanweisung für den nächsten zu hinterlassen: ich lächel ein kind an und hinterlasse einen weißen zettel auf den ich mit bleistift RUTHCHEN, MAKE MY DAY! geschrieben habe…

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WTF is DADADO?

an meinem ersten MERZmorgen in DO – corona schien noch weit… – stoße ich im internet auf eine ausstellungsankündigung: VIVA DADAˈ20. DADA – ja gibt’s das denn überhaupt noch? und warum in DO? der deutsche spießer ärgert sich doch schon lange nicht mehr… oder etwa doch? heute letzter tach: also nix wie hin ins künstlerhaus dortmund, da war ich doch mit meinem brandbeschleuniger gestern vorbeigedüst, und schon laufe ich dieter gawol, dem mastermind der internationalen DADAmesseDO, direkt in die arme…

DADADO im künstlerhaus

wir stellen uns einander vor und schnell eine gemeinsame schnittmenge über das zauberwort mit den vier buchstaben her: dein schaukelpferd sei mein schaukelpferd. schnell füllen sich die mit einer flut von von originellen bildern, dokumenten, objekten und installationen jenseits und diesseits der zeitgenössischen kunstszene bestückten räumlichkeiten mit ihren symphatischen schöpfer*innen, einem illustren POTTpourrie aus künstlerischen laien, dilettanten und profis, theaterleuten, filmemachern, musikern, autoren, einem juristen und sogar einer schreibenden pfarrerin, die mir vespricht ein gutes wort gegen das laute bimmeln um halb acht vor meinem schlafzimmer in der adlerstraße einzulegen.

DADO bin ich also gerade richtig und mein projekt asphaltbibliotheque ruhrgebiet wird prompt bei der intermezzi/after show – wer kommt, der kommt! gesinnungszwangsverpflichtet und für die nachwelt auf zelluloid gebannt.

dada einhorn guido schlösser

dann ist DADAmucke angesagt: vor hans-ulrich heusers lyrikpott 100 wörter huelsenbecks und dem wunderbar stoisch schifferklavierenden mitglied des hampelstern-terzetts guido schlösser schießt sein bandkollege das innere schaukelpferd bei mir ab:  erhitzt wasser, mahlt bohnen, brüht live on stage frischen kaffee und amalgamiert die dabei hervorgerufenen schrot&blubber- GERAUESCHE mit wasserdichten tonabnehmern und selbstgebauten tonerzeugern zu einer konkreten soundcollage. abschließend bläst er uns keck frischen kaffeeduft mit einem miniventilator, wie ich ihn auch gerne selbst live benutze, um die nase. hmmm! ich und die gesamte erste reihe bekommen einen pappbecher des etwas dünnen aber sehr originellen fluxiven performancerelikts von ihm kredenzt.

dada melitta mann achim zepezauer

ich selbst habe auf meinem künstlermusiklabel FLUX ON DEMAND eine CD mit geraeuschen von fiepsenden thermoskannen & röstgeraeuschen in handgemachten kaffeeringhüllen veröffentlicht und stelle gerade eine ausstellung mit kunst aus gebrauchten kaffeefiltern für den mainzer kunstverein walpodenstraße 21 e.v.  mainzer kunstverein walpodenstraße 21 e.v. zusammen. der melitta-mann aus DO, der kaffee zum hörgenuss macht, ist dafür vorgemerkt! wie ich am weltfrauentag erfahre, hat die berühmte kaffeefiltererfinderin melitta bentz ihr unternehmen ab 1929 im ostwestfälischen minden geführt.

in DO dagegen ist der berühmte DADAist, arzt, schriftsteller und mitbegünder des cabaret volataire richard huelsenbeck beigesetzt. er hat viele dortmunder freigeister, wie den autoren, schauspieler, pädagogen und DADADOguru jürgen KALLE wiersch inspiriert, der direkt neben dem grab huelsenbecks auf dem südwestfriedhof seine letzte ruhe finden sollte. geboren und aufgewachsen war huelsenbeck in der elterlichen apotheke im hessischen frankenau. weil aber die geizigen bauern ihre medizin nicht zahlen und die mutter in der einöde trübsinnig geworden sei, war die ganze familie kurzerhand nach dortmund und bochum gezogen und richard von dort aus erst als schriftsteller & DADAist, dann als arzt und psychoanalytiker in die große weite welt hinaus bis nach new york gezogen.

südwestfriedhof dortmund huelsenbeck grab

auf einladung von birgit & alex, dem sohn der gründerin des frankenauer huelsenbeck museums hildegard feidel-mertz, hatte ich ich 2014 in der alten apotheke übernachtet und fotos und fieldrecordings aufgenommen. mit einem gläsernen aschenbecher, auf dem angeblich die letzte zigarre huelsenbecks am comer see ausgeglüht war, hatte ich ambiente feedbackgeraeusche erzeugt und alles als WHEN HULBECK’S LAST CIGAR GENTLY WEEPS veröffentlicht.

when hulbeck's last cigar gently weeps

am 11. mai soll nun meine klangkompositon bei der veranstaltung DADA, punk und huelsenbecks letzte zigarre im rahmen von musikland hessen hr2-kultur, in der alten apotheke aufgeführt werden: eintritt nur einzeln auf rezept und doc feidels vortrag mit mundschutz?! die letzte zigarre soll man besser nicht herbeireden… time will tell!

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04:27 Uhr, Großmarkt Dortmund

Nachts sind alle Städte schön. Nur nachts möchte ich sein, durch Straßen streifen, Fahrtwind spüren und keinen Gegenverkehr. Kälte in Zuneigung verwandeln und in ein Ich, das schaut, sammelt und sich lässt. Alles mit sich machen lässt – und die Welt annimmt, wie sie ist.

Auf dem Großmarkt in Dortmund muss man die Welt annehmen, wie sie ist. Diese Welt aus Fischen und Früchten, aus Hubwagen und Kisten. Aus Männern hinter Pulten und Männern unterm Scheffel. Stilisierte Frauen werben still für Äpfel, Physalis und Bananen. Das Eigentliche findet in den Hinterzimmern statt. Geschäftiges Misstrauen in den Blicken, wer sind die, was wollen die, Großkunden sehen anders aus. Anekdoten über Händler, die sich mit Kunden streiten. Ich habe dich beim Nachbarn gesehen, zu mir musst du nicht mehr kommen. Streng reglementierte Besitzverhältnisse und ein Verständnis von Jovialität, das dem Jetzt nicht mehr entspricht. Jede Halle ist einem eigenen Regiment unterworfen, das Obst ist träge. Es wird in Kulturen unterschieden, gedacht und gehandelt – eine vertane Chance; auch Suppe ist eine Option, um fünf Uhr morgens. Gegen die Entwicklungen in der Branche fühlt sich niemand mehr gewappnet. Allein sitzt der Mann in seinem Häuschen im Containerverschlag, der für die Wertstoff-Sortieranlage genutzt wird. Er sitzt schon lange da, und wird es noch eine Weile tun. Hinter den Hallen erinnern Gleise an einst genutzte Transportwege. Verkehrsschilder hängen schief. Und dann ist da der Wendekreis.

Am Wendekreis endet die Welt, und sie beginnt. Jemand hat sein Fahrrad dort abgestellt, ein anderer Paletten. Danach geht es zurück, immer wieder. Der Gedanke daran ist das schönste Bild. 04:58 Uhr



>Großmarkt Dortmund<

Pförtnerhäuschen mit Atmosphäre. Die Anlage wurde 1951/52 gebaut. ©mhu
Pförtnerhäuschen mit Atmosphäre. Die Anlage wurde 1951/52 gebaut. ©mhu
Vielleicht muss man bald von einem Relikt sprechen, denn die (inter-)nationalen Marktstrukturen sprechen mittlerweile eine andere Sprache: Wie ein Großmarkt im wörtlichen Sinn fühlt sich der Großmarkt Dortmund nicht mehr an. In eine andere Welt taucht man trotzdem ein.
So, wie der Großmarkt heute ist, gibt es ihn seit 1951/1952 auf dem Bundesgelände am Bahnhof Dortmund Süd. 1976 gründete sich die Großmarkt Dortmund Genossenschaft, seither betreiben ansässige Unternehmen den Markt selbstständig. Der Dortmunder Großmarkt ist einer der zehn größten Märkte in Deutschland (es gibt insgesamt 25), aktuell sind 23 Händler dort tätig. Bei dem Großmarkt handelt es sich um einen Frischemarkt. Es werden Obst und Gemüse, Frischfisch, Fischwaren, verpackte Lebensmittel, Frischfleisch, Kartoffeln und Zwiebeln verkauft. Daneben gibt es eine Bananen-Reiferei, Kühlhäuser und Lager. Der Großmarkt versorgt nach eigenen Angaben in einem Radius von 200 Kilometer etwa 3 Millionen Einwohner.

 

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21:51 Uhr, Essen PACT Zollverein

In den Mulden liegen Seifenreste, fein trapiert für Staunende. Sauberkeit als sinnliches Moment, weißkachelige Emotionen – ein Ort für Menschen ohne Makel, weiche Haut und fließenden Bewegungen. Im Aufführungssaal wird Kontrast gewollt: absolute Dunkelheit, bizarre Schreie, Reenactement am fremden Leib. Eine Verausnahmung des Körpers, des Frauseins, der Witz damit und Brüste, die, schmerzhaft rotierend, Bezüge aushebeln wollen – aber so ganz gelingt es nicht; selbst darin sind die Menschen schön.

Der Weg nach draußen wird fast zur Flucht, eine Flucht aus dem ästhetisch Perfekten, aus der weißfarbigstrahlenden Reinheit. Einkacheln könnte man sich hier, der Wille ist stark, die Umgebung natürlich – aber man selbst? Schweiß, Schmutz, schwarze Gedanken. Was auf der Bühne heraufbeschworen werden wollte, wird nie wirklich ankommen in dieser Welt, nur noch namentlich bekannt als Waschkaue. Die Reinkarnation ist bereits vollzogen, egal, wie oft Canaille gerufen wird.

Wie traurig das Aufatmen nach dem Verlassen des schönsten Ortes, die unbedingte Suche nach dem alltäglichen Kontrast. Der auch eintritt, unmittelbar: In einem matt-grauen BMW vor dem Eingang sitzt ein Mann, der bei heruntergelassenem Fenster Clubmusik hört, dabei nervös mit dem Kopf wippt, während – filmisch perfekt – weitere sechs Männer um die Ecke kommen, Bauarbeiterhelme und Sicherheitswesten tragen, und an dem fein gekleideten Premierenpublikum vorbeigehen. Niemand schaut, jeder ist für sich in seiner Gruppe und doch berühren sie einander. Das ist Schönheit. 21:58 Uhr


Waschkaue

Umkleide- und Waschraum auf einer Zeche. In der Regel besteht eine Waschkaue aus zwei etwa gleich großen Räumen, der Weißkaue und der Schwarzkaue. In der Weißkaue kam die Straßenkleidung der Bergleute unter, in der Schwarzkaue die Arbeitskleidung. Entsprechend kann man sich den Sauberkeitsgrad der Körper der Bergleute (vor der Schicht, nach der Schicht) vorstellen.


>PACT Zollverein<

Das choreographische Zentrum in der ehemaligen Waschkaue von Zeche Zollverein: PACT Zollverein in Essen. © Axel Hartmann
Das choreographische Zentrum in der ehemaligen Waschkaue der Zeche Zollverein: PACT Zollverein in Essen. © Axel Hartmann
Seit Anfang der 1990er Jahre wird die ehemalige Waschkaue der Zeche Zollverein als Aufführungsort für zeitgenössischen Tanz genutzt. Es ist das choreographische Zentrum NRWs, und das merkt man auch. Toller Ort, tolle Atmosphäre – und gute Stücke. Bei meinem Besuch habe ich die Uraufführung aus der Monument-Reihe von Eszter Salamon gesehen: „Monument 0.5: The Valeska Gert Monument„, eine historisch-empirische Aufarbeitung des Lebens der avantgardistischen Tänzerin und Kabarettistin Valeska Gert (1892-1978). Foto Titelbild: Ursula Kaufmann

 

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Wie Kiezgrößen entstehen – Eine Gebrauchsanweisung

Nimm ein Viertel, nicht groß. Ein Viertel kann schon eine Straße sein. Das ist legitim, ist mir mehrfach untergekommen. Wer das Ziel hat, schnell Bekanntheit zu erlangen, der suche sich am besten ein Ein-Straßen-Viertel. In der Straße sollte man aber nicht wohnen. Man hat ja nicht immer Muße, erkannt zu werden. Eine Wohnung in einer Nebenstraße ist oft günstiger und verstärkt das Mysterium um einen selbst (wo wohnt er/sie bloß?) und damit – natürlich – den Bekanntheitsgrad.

Wichtig ist es, so schnell wie möglich andere Kiezgrößen ausfindig zu machen. Den Kontakt sollte man nicht scheuen, es geht um alles. Und dann geht es auch erst mal so: Andocken, integrieren, absorbieren lassen. Dabei sein, also oft. Sich aber auch rar machen. Nicht zu oft, aber oft. Empfehlenswert ist es, sich in zeitlichen Schüben zu zeigen: Mal eine Woche täglich, dann wieder Tage nicht mehr. Zu Veranstaltungen oder Kneipeneinladungen erst auftauchen, wenn die anderen bereits angeheitert, aber noch nicht allzu betrunken sind. So entstehen Freundschaften, das hat etwas mit Spatien zu tun. Das ist lateinisch und bedeutet Zwischenräume. Kommt nicht von mir, hab ich mir von einem Freund geliehen. Was den Sympathiewert erhöht: Wortschatz des anderen annehmen. Aber: nicht alles. Gerne auch mal ironisch brechen, aber nicht übertreiben. Gleiches gilt für das Angehen gemeinsamer Projekte: Entgegenkommen, zum Teil. Dann klar formulieren, was man will. Dann machen.

Für den Nervenkitzel und vor allem für den eigenen Spaß: Improvisationsmomente zulassen. Nicht alles durchdenken, nicht alles verplanen. Dinge passieren lassen. Vom Hörensagen leben, das kommt dann schon.

Die anderen Kiezgrößen nicht verdrängen. Man lebt in friedlicher Koexistenz, eine Unterscheidung in den Künsten ist zu empfehlen. Nicht das gleiche machen wie die etablierte Größe. Was auch immer die jeweilige Kiezgröße so Besonderes kann, das kann nämlich alles sein. Von der Marke „verkannter Musiker“ über „verkannter Kunstlehrerkünstler“ bis hin zum Viertel-Juristen, der aussieht wie ein französischer Schauspieler und auch so guckt und der auch noch genauso leger über die Straße läuft in seiner ockerfarbenen Bluson-Jacke und diesem melancholisch-kecken Ausdruck in den Augen und seinen Haaren und … Nun gut.

Man sollte in jedem Fall genau beobachten und dann: was zusammen machen. Funktioniert nicht immer mit dem Wunschkandidaten, aber man sollte am Anfang nicht wählerisch sein. Das gleiche gilt für Straßen-Bekanntschaften: Alle Menschen grüßen, die man kennt und an einem im Viertel vorbeilaufen. Kurz quatschen. Drei Minuten aber maximal, dann weiter.

Das alles durchziehen für eine x Zeit, dann aber auch wissen, dass man gehen muss. Auch, wenn es schwer fällt. Sehr schwer. Zum Heulen schwer.

Je Viertel schaffen es immer nur ein bis zwei Kiezgrößen auf Dauer. Man kann davon ausgehen: Man selbst ist es nicht. Deswegen: fluktuieren, andere Viertel finden. Noch mal von vorne anfangen.

Bis dahin, eigene Erfolge wie folgt feiern:

den Kleidungsstil ändern, leicht aber nur. Bloß nicht zu viel. Das gleiche bei Bewegungsabläufen, Mimik und Gestik. Menschen in die Augen schauen. Scham ablegen. Draußen essen. Alleine unterwegs sein. Promenieren, im wörtlichen Sinn. Lesen. Schweigen.

Und: sich in Ruhe anschauen lassen.

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03:16 Uhr, Handy Lampe Boden

Keine Erinnerung verdrängt die Nacht.

Es regnete, und es regnete nicht. Feuchte Paletten und beige-braune Duschvorhänge vor Klospülungen, derbe Wassermotive. Aus den Containern elektronisches Wummern. In der Handynotiz steht „03:16 Uhr Handy Lampe Boden“. Es muss eine Geschichte dazu gegeben haben. Sie wurde mit der Notiz auserzählt. Ich möchte sie füllen, mit weiteren Notizen, bei denen es keiner weiteren Ausführung bedarf.

Etwa Stunden zuvor in der Kokerei Zollverein. Literaturgestalten bei Burger und Bier. Auf 23:34 Uhr terminiert, der Eintrag:

Gegenüber von Robert Menasse sitzen und Robert Menasse nicht erkennen, sich aber fragen, warum der Mann ein Buch von Robert Menasse vor sich liegen hat. Kurze Zeit später darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dem Mann um Robert Menasse handelt. Robert Menasse aus Höflichkeit fragen, wie seine Veranstaltung war. Auf seinen Satz: „Woher soll ich das wissen? Das kann ich ja schlecht einschätzen“ antworten: „Also bitte, haben Sie denn keinen persönlichen Eindruck?“ Eine Schriftstellerfreundschaft wird das wohl eher nicht.

Vorgespult, Tage später, Nachtrag:

22:28 Uhr Als ich einmal Robert Menasse traf, den ich nicht als Robert Menasse erkannte und der dann drei Tage später mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.

Zurück zur Nacht:

04:45 Uhr Die rechte Hand hebend, Handinnenflächen, -außenflächen im Wechsel drehend, seltsamer Move, ist das schon politisch? Der Boden hart wie Stein und Krümel von Zerbrochenem

Absatz (wahrscheinlich auch zeitlich):

Nebel, Rauch, plötzlich wieder Gesagtes

Und gestückelt, in den Wochen zuvor (Auswahl):

21:40 Uhr Dauergeweitete Pupillen und zorniger Zynismus

08:57 Uhr Nach drei Monaten alles sehen wollen, laufe ich nun an den Dingen vorbei.

22:56 Uhr Hornby sitzt mit BVB-Schal da, halb Jubel-, halb Buhrufe, Typ neben mir schläft, zu viel Fußball, Arsenal, obsessions or passions, Have you a clue about women now?, Hornby, der „Männererklärer“

21:25 Uhr Ab Dortmund: Iserlohn, 17:23 Uhr Gleis 3 oder ab Gelsenkirchen: 16:29 Uhr, Gleis 6, umsteigen in Dortmund auf den 17:23er. Zurück: 21:51 oder 22:51. Klempner anrufen

17:24 Uhr Eving, Brechten, Brambauer: Je weiter es raus aus dem Dortmunder Stadtgebiet und rein in die einst angelegten Arbeitersiedlungen geht, desto mehr Menschen stehen an offenen Fenstern. Postindustrielles Romantik-Motiv?

Ist postindustriell der richtige Begriff oder klingt es nur gut?

14:44 Uhr Wenn du dich an einen anderen Ort wünschst: Wer willst du dort sein?

21:55 Uhr Rosa Kotze

20:26 Uhr … und dann erschüttert es mich, dass es dunkel ist draußen.

21:51 Uhr – ist, glaub ich, Fußball, kein Sex

 


>Die Katze Erinnerung<

Nachts; Hof. ©mhu
Was war und was ist? Und was will Wirklichkeit? Manchmal ist es auch gut so. Für den Rest gibt es die Notizfunktion im Handy.  ©mhu

 

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