14:20 Uhr, Recklinghausen Stadtgarten

„Esra! Esraaaa!“ Ein Mädchen, klein, die Haare in zwei Zöpfe aufgeteilt, rennt oberhalb des Ruhrfestspielhauses schreiend über die Wiese. Die Zöpfe schwingen freudig im schnellen Trott ihrer kurzen Schritte, ihre Ärmchen stehen ab. „Esra, komm zurück! Ich liebe dich über alles!“
Esra steht hinter einer Baumgruppe – den Blick zur Seite gerichtet, die Arme erst verschränkt, dann herabhängend, eine Choreographie des Abwartens. „Esra! Es tut ihm leid!“, ruft das Mädchen. Hinter ihm geht ein Junge, einen Ball kickend. „Gar nichts tut ihm leid!“, schreit Esra, nun den Rücken zur Kleinen und dem Jungen gewandt. Die beiden bleiben stehen, schauen sich an, die Kleine zuckt mit den Schultern, sagt: „Ach bitte.“ Der Junge rollt mit den Augen: „Na gut.“ Dann gehen sie zur Baumgruppe, verschwinden hinter ihr. Im nächsten Augenblick ist Esra zu sehen, sie kniet im Gras, umarmt das Mädchen. Der Junge kickt seinen Ball. Ein Paar, das in der Mitte der Wiese auf einer Decke liegt – sie die Hand unter seinem Shirt, er die Beine angewinkelt – beobachtet die Szenerie. Als die Kinder verschwunden sind, legt sie ihren Kopf in seine Beuge: kann weitergehen jetzt. 14:31 Uhr



>Junger Westen, Ruhrfestspiele und der Stadtgarten von Recklinghausen<

Zechen-Schwibbogen vor dem Eingang zum Stadtgarten. ©mhu
Zechen-Schwibbogen vor dem Eingang zum Stadtgarten. ©mhu
Einen klassischen Sonntag kann man hier verbringen: Im Stadtgarten von Recklinghausen gibt es neben großen Wiesenflächen auch das Ruhrfestspielhaus, einen Tiergarten und eine Sternwarte. Bekannt ist Recklinghausen vor allem als Festspielstadt für internationales Theater, das einmal im Jahr im Mai/Juni stattfindet. Das merkt man dem Süden der Stadt auch an. Der Stadtgarten ist Sonntagsausflugsziel und Kulturort. Seit März diesen Jahres begrüßt ein Schwibbogen, der an die Zeche König Ludwig – benannt nach König Ludwig II., dem Märchenkönig – erinnert, die Parkbesucher*innen. Die Zeche spielt eine tragende Rolle in der Entstehungsgeschichte der Ruhrfestspiele: Im Winter 1946/1947 versorgten Beschäftigte der Zeche Hamburger Theaterleute auf illegalem Wege mit Heizkohle. Zum Dank gab es im folgenden Sommer ein Gastspiel in Recklinghausen – seither gibt es die Festspiele.

Kunst und Theater in einer Stadt

Eng mit den Ruhrfestspielen verbunden ist auch die Geschichte der Kunsthalle, die direkt am Hauptbahnhof in einem ehemaligen Hochbunker angesiedelt ist. Die Künstlergruppe „Junger Westen“ hat sich hier 1950 niedergelassen und Recklinghausen zu einem wichtigen Standbein der Bildenden Kunst aufgebaut. Der Kunstpreis „Junger Westen“ verfügt nach wie vor über internationales Renommee – die Ausschreibung für den diesjährigen Preis im Bereich Skulptur und Installation läuft noch bis 17. September.

 

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08:16 Uhr, U47 Richtung Dortmund Aplerbeck

Hallo Frau Schulte, Frau Schulte! … Wir kennen uns doch! … Natürlich! Frau Schulte vom Finanzamt! … Nicht? … Wirklich nicht? … Sie kommen aus Leipzig? Das kann nicht sein! Sie sind doch Frau Schulte? … Tatsache? … Was machen Sie hier? … Fußball? Achso. … Aber warum Dortmund? … Sie sind BVB-Fan? Eine Leipzigerin? Wie geht das? … Warum sind Sie nicht für Leipzig? … Kann nicht sein. … Ich bin auch kein BVB-Fan. Ich komm aber auch nicht aus Dortmund, ich wohn hier bloß. Ich bin ja für Werder Bremen – kennen Sie Werder Bremen? … Auch. Dann waren Sie hier auch mal im Stadion? … Nicht? … Ist schwierig, Karten zu kriegen? Warum? … Kann nicht sein. … Aber das Spiel gestern – die hätten besser sein können. … Sehen Sie auch so? Ja, ja. Und der Lewandowski, also wirklich, was da abgeht. … Sehn Sie auch so? … Ja. Leipzig. Warum sind Sie nicht für Leipzig? … Ist was anderes mit dem BVB? So? … Wie kommt das? … Können Sie auch nicht sagen, ja. … Früher war Energie Cottbus mal in der ersten Liga, wussten Sie das? Aber, dass Erzgebirge Aue in der zweiten Liga ist, das versteh ich nicht. … Sie müssen hier raus? So geht das. Nach Leipzig geht’s, ne? …  Ja, tschüss dann.“ 08:19 Uhr


>DFL Supercup 2017: Borussia Dortmund – FC Bayern München, 4:5 n.E. (2:2, 1:1)<

Ein einziges Hörspiel: Dortmunder Stadtbahn. Hier leer. ©mhu
Ein einziges Hörspiel: Dortmunder Stadtbahn. Hier leer. ©mhu
Schon Tage vor dem Spiel liefen die Dortmunder wieder vermehrt mit BVB-Trikots durch die Stadt. Wann die Mannschaft trainierte, konnte man an Vollfanbekleidung und an großen, bunt verzierten Trommeln, die mit äußerster Vorsicht in den Stadtbahnen transportiert wurden, ausmachen. Obwohl die Bundesliga-Saison noch nicht wieder begonnen hat, gibt es etliche Spiele nebenher. So wie der DFL Supercup 2017. Und für BVB-Fans ist Pause anscheinend ein Fremdwort.
Fußballfankultur hautnah erleben kann man deswegen vor allem, wenn man mit Bus und Bahn unterwegs ist. Für alle gemäßigteren Gemüter gibt es das Deutsche Fußballmuseum direkt gegenüber des Dortmunder Hauptbahnhofes.

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17:55 Uhr, „Bang Boom Bang“

Saatkrähen picken in einem Wohngebiet vor einer angefressen wirkenden Mauer Moos aus dem Boden. Hinter der etwa zwei Meter hohen Mauer mit abschließbarem Tor stehen zwei Dutzend Männer. Ordentlich aufgereiht pinkeln sie ins wildernde Gras. Grau aufragende Pfosten in der Mitte der Brachfläche komplementieren das Bild. Die Abendsonne zeichnet den Horizont weich. Blickt man nicht zu konzentriert in die Ferne, ist die Weite ganz nah.

„Das hier ist der Sportpatz“, sagt ein Mann, der ein T-Shirt mit der Aufschrift „Bang Boom Bang“ trägt. Er hält ein laminiertes Foto nach oben, auf dem eine Tribüne und ein Fußballplatz abgebildet ist.
„Uh, klasse!“, ist aus den Männerreihen zu hören. Dazu Nicken, anerkennende Blicke über Brennesselansammlungen.
Es folgen erhobene Zeigefinger: „Da muss Til Schweiger entlang gejockelt sein.“ Und vor der Brust verschränkte Arme, kombiniert mit breitem Stand: „Ja nee, is klar.“

Dann hat man sich satt gesehen. Es gibt noch weitere Sehenswürdigkeiten. Die Saatkrähen gucken von unten, ihre grauweißen Schnäbel erzählen eine andere Geschichte. 18:06 Uhr



>Bang Boom Bang – Kultfilm im Pott<

Busfenster mit KFZ-Kennzeichen für BBB-Insider. ©mhu
Busfenster mit KFZ-Kennzeichen für BBB-Insider. ©mhu
2011 war die Bustour noch ein Gag auf einem Junggesellenabschied. Dann kam das Interesse außerhalb des Bekanntenkreises. Seitdem bieten die Veranstalter von „Bang Boom Bang – Die Tour“ in regelmäßigen Abständen Fahrten zu den original Drehorten des Kultfilms „Bang Boom Bang – Ein todsicheres Ding“ an. In Unna und Dortmund kann man so neben dem Sportplatz auch Keeks Haus, „Franky’s Video Power“, Schluckes  Fundort, den Flughafen und die Pferderennbahn besichtigen.
Die Nachfrage ist groß, die Tour beliebt und die Veranstalter routiniert. Neben selbst recherchierten Hintergrundinfos zu Regisseur und Film gibt es Bier und Unterhaltung bis in die Nacht. Bei der Tour Ende Juli gehörte auch der Besuch des Films beim Open-Air-Kino im Westfalenpark und Party im Daddy Blatzheim dazu.

Kult, Kult, Kult – warum eigentlich?

Seit 18 Jahren läuft jeden Freitag im Bochumer Kino UCI die deutsche Action-Komödie „Bang Boom Bang – Ein todsicheres Ding“ von Regisseur Peter Thorwarth. „Bang Boom Bang“ ist der erste Teil der heute so schön benannten und beworbenen Thorwarth’schen „Unna-Trilogie“, dazu gehören „Was nicht passt, wird passend gemacht“ (2002) und „Goldene Zeiten“ (2006).
Wenn man fragt, warum es heißt, dass „Bang Boom Bang“ exemplarisch für das Ruhrgebiet stehe, dann folgen Sätze wie: „Das gibt es woanders nicht“, „Das ist typisch Ruhrpott“ und in Abwandlung: „Das ist nur hier möglich“, „So stellt man sich eben das Ruhrgebiet vor“. Dass die Menschen, die ich auf der Bustour getroffen habe, eben nicht so sind, zeigt allein schon die Frage nach schulischem und akademischem Werdegang, Beruf und Familienstand. Trotzdem konnten viele jede Zeile des Films mitsprechen, verbanden erste Dates oder ihre Jugend mit dem Film. Auch waren es überwiegend Männer, die an der Tour teilnahmen. Später im Westfalenpark waren auch mehr Männer als Frauen zugegen. Manch eine Frau wurde für ihre Teilnahme gelobt. Ein „Männerfilm“ also? Und wenn ja: Dann wird unterschlagen, dass Melanie – die einzige signifikate Frauenrolle im Film, gespielt von Alexandra Neldel – die Jungs am Ende alle linkt.

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Wie Aachen zu mir kam – Verzweiflung, eine Vorgeschichte (3)

Ach, Aachen

Folge 3 

Einer ist fast zwei Meter hoch, stechender Blick, kurzes dichtes dunkles Haar, Augenringe, tief gebeugt, um dem anderen besser folgen zu können. Der marschiert vorneweg, ist eine halben Kopf kürzer, dünnes Haar, spöttisches Lächeln und in den Hüften doppelt so breit. Er hat meine Handbewegung sofort registriert und nach einer kurzen Irritation und drei, vier weiteren Schritte, bleibt er mitten in der Kneipe stehen, der Lange auch, der Kurze dreht sich auf einmal um und geht entschlossen auf mich zu. Der Lange folgt ihn wie ein Schäferhund.

„Hi!“ sagte der Kurze.

Jetzt war ich verdutzt.

„Hi!“ grüße ich zurück, bevor ich nüchtern zugebe:

„Sorry, ich glaube, ich habe Euch mit jemandem verwechselt…

„Macht nichts!“ sagt der Lange: „ Seid ihr hier öfter?“

„Hannes!“ stellt sich der Spöttische mit den runden Hüften vor.

„Manfred“, der Lange mit dem leidenden Blick und fährt fort:

Er sei Privatdozent, unterrichtet an einer kleinen Wirtschaftsakademie in Aachen, wohne aber in Köln und sei jeden Tag auf Rädern.

„Was? Aachen? Schon wieder!“ hätte ich fast gerufen, schaffe aber doch meine Zunge im Zaum zu halten und höre mich nur sagen

„Ach, Aaaachen…!“

Aachen verfolgt mich jetzt auch. Überall. Zwei Tage, nachdem ich von meinem Glück erfahren habe, für ein Stipendium als Regionalschreiberin in Aachen ausgewählt worden zu sein, war ich in Düsseldorf bei einer Messe. Auf dem Weg zurück suchte ich die nächste Bahnverbindung nach Köln und stieg in einen Zug nach Aachen ein und verpasste Anschluss, landete in Mönchen Gladbach! Was natürlich meinen deutscher Mann bis heute amüsierte… Drei Tage später traf ich bei einer Lesung eine sympathische Dichterin aus Aachen, die mir versprach, „ihr Aachen“ zu zeigen, wenn ich in die Stadt ankomme. Vier Tage später begegnete ich bei einem Projekt im Seniorenheim einer älteren Dame, die mich mit den Projektteilnehmern zu sich auf ihr Zimmer nahm, um uns eine ganze Stunde vor ihrer dramatischen Kriegskindheit natürlich in Aachen zu erzählen…

Nun hat sich auch noch mein „Mujo“ als Köln Aachener-Tagespendler entpuppt.

Ein bisschen „blöd“ sei es schon, meint Manfred. Vor allem für die Beziehung… Seine Frau halte das manchmal nicht aus… Als er erfährt, wo ich herkomme, fragt er sofort, wie oft ich in meine Heimat fahren muss. Um bei mir zu bleiben…

„Sie meinen nicht verrückt vor Sehnsucht?“

Er nickt.

„ Na ja, mindestens ein Mal im Jahr. Zwei Mal wäre natürlich besser “, sage ich.

„Siehst Du!“ sagt der Hannes der heute Abend offensichtlich als alter guter Kumpel eine wichtige Rolle spielen darf. Er darf Manfred trösten.

Seine peruanische Frau ist verschwunden. Abgehauen, abrupt, aus heiterem Himmel… in die Heimat. Nach einem Streit, vermute ich. Manni kann seine Verzweiflung nicht verstecken. Und ich, eine fremde Frau, die noch bei ihrem deutschen Mann sitzt und mit ihm spricht und Kölsch trinkt, scheinen jetzt Mannis letzte Hoffnung zu sein…

nächste Folge: Versagen

Mehr von Slavica Vlahovic