Tier, das

Scheiße war mein erstes Wort. Scheiße, Hundescheiße, ist doch scheiße, scheiße, halt die Fresse!
Wahrscheinlich kannte ich vorher schon ein paar Worte, aber das war das erste, nachdem ich entschieden hatte: Ich muss diese Sprache lernen. Wie soll ich jemals irgendwas kapieren, ohne diese Sprache zu verstehen?
Scheiße war also das erste. Es war leicht abzuspeichern. Scheiße rieche ich jeden Tag, die Verknüpfung war da. Dann kam Liebling dazu und Futter und Haltsmaul und Fernsehen und Fernfahrer und McDonalds und Mamaistda und Drecksköter. Und Krankenhaus und Frauenhaus und fickdich und Baby und dann hatte ich die Basics zusammen.
Im Nachhinein hätte ich mir die Mühe sparen können. Hat alles keinen Sinn ergeben, auch nicht in Worten.
Als ich ankam, sah es eine Weile echt gut aus. Das Kind nannte mich Meinhund, auch wenn mein Name Mufasa ist. Sie gaben mir etwas zu essen und zu trinken und gingen mit mir in einen Park. Ich zeigte mich von meiner besten Seite, wedelte mit dem Schwanz, wenn sie mich ansprachen, weil Menschen so etwas freut und lief wie ein Bekloppter hinter dem Stock her, was halb Show war und halb Instinkt. Abends bekam ich eine eigene Decke im Zimmer des Jungen und als die Mutter den Raum verlassen hatte, legte er sich zu mir auf den Boden und kraulte meinen Rücken. Dann hob er mein Ohr mit seiner Hand, an der Marmelade klebte, und sagte: „dubistmeinbesterfreund“. Auch wenn ich das damals noch nicht verstand, fühlte es sich gut an.
Zwei Tage später kam der Mann nach Hause. Der Mann hatte kräftige Füße und enorme Waden. Auf die eine war ein Totenkopf gemalt, auf der anderen stand HAGEN in welliger Schrift.
Die Frau hörte auf zu sprechen. Sie wurde kleiner, sie schrumpfte. Sie hörte auf zu essen, aber so schnell wie sie das wollte, verhungern Menschen nicht. Sie sprach immer leiser, sodass sich am Ende ihrer Sätze nur noch die Lippen bewegten. Die Frau lief, als würde sie versuchen zu schweben. Der Junge wuchs ein bisschen, hielt sich aufrecht und mich fest. Ich entschied, ihm nicht mehr von der Seite zu weichen, ihm immer durch die Wohnung zu folgen.
Der Mann schlief viel und wenn er aufwachte, lief er herum und suchte nach Fehlern. Einmal fand er Staub auf einer der Stuhllehnen im Wohnzimmer, da hob er den Stuhl und schmiss ihn auf die Frau. Ein anderes Mal erwischte er den Jungen, wie er mir ein Stück Currywurst gab und schlug ihm mit der Hand ins Gesicht. Das ging drei Tage so und dann war der Mann verschwunden.
Die Frau schaute den ganzen Tag Fernsehen, was mich freute, weil ich so neue Worte lernen konnte: Mord. Staatsanwaltschaft. Cousin. Ralf. Verdacht. Messer. Wut. Gefängnis. Lebenslänglich.
Ich wäre gerne mehr vor die Tür gegangen, gab mir aber Mühe einzuhalten und nicht zu winseln, bis der Junge aus der Schule kam und mit mir raus ging. Wir liefen den ganzen Nachmittag in der Stadt herum, manchmal holte er uns Döner und auch wenn ich wusste, dass ich schrecklichen Durchfall bekommen würde, konnte ich nicht anders, als ihn zu essen. Diese Nachmittage waren perfekt. Manchmal gingen wir zur Ruhr und ich durfte schwimmen, manchmal liefen wir bis zum Buschey-Friedhof. Ich wälzte mich vor Familie Elbers, spielte, ihr prachtvolles Grab sei meine eigene steinerne Hundehütte. Wir rannten auf dem Flugplatz um die Wette und ich ließ ihn gewinnen. Der Junge redete und redete, erzählte mir von Pia, von Mathe, von Pausenbroten, mehr von Pia und von einer extra Klingel, die klar macht, dass Mathe vorbei ist. Pia versuchte ich abzuspeichern. Ich dachte, es bedeutet sowas wie Liebe.
Ich roch, dass der Mann wiederkam. Ich roch es an der Angst der Frau. Beißender Angstschweiß in der ganzen Wohnung. Sie putzte und der Junge und ich räumten auf, statt draußen zu sein. Als der Mann den Schlüssel im Schloss umdrehte, versteinerten die beiden und ich stellte mich vor den Jungen. Der Mann kam mit seinen schweren Schritten ins Wohnzimmer und setzte sich in den Sessel. „Watt steht ihr da so blöd? Mach ma Essen“, sagte er und wir gehorchten.
Abends schauten wir zusammen Fernsehen, aber es war nicht das Gleiche. Im Kinderzimmer musste ich dem Jungen versprechen, dass ich den Mann nie beißen würde, egal was er tat, weil der Mann mich sonst wegschicken würde.
Am nächsten Morgen war die Frau einkaufen und der Junge in der Schule. Ich war allein mit dem Mann und hatte Angst. Mit eingezogenem Schwanz saß ich im Zimmer des Jungen und versuchte, mich unauffällig zu verhalten. „Komm mal her. Hey Köter!“, rief er und ich schlich vorsichtig um die Ecke zum Wohnzimmer. Der Mann klopfte auf das Sofa neben ihm. War das ein Trick? Ich durfte nicht auf das Sofa, diese Regel hatte er selbst erfunden.
Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu, er klopfte weiter, aber verzog keine Miene. Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, sprang ich mit einem großen Satz aufs Sofa. Der Mann hob seine riesige Hand und ich erwartete eine Attacke, aber er legte mir die Hand in den Nacken und fing an, mich zu kraulen. „Bist ja ein Guter“, sagte er und ich konnte nicht fassen, was ich hörte. Er kraulte mich ausgiebig einige Minuten lang und gerade als ich begann, mich zu entspannen, hörten wir den Schlüssel im Schloss. Der Mann schob mich mit einer schnellen Bewegung vom Sofa, ich kam hart auf dem Boden auf. Ich drehte mich nicht um, schaute ihn nicht an. Ich wusste, dass das unser Geheimnis bleiben würde und lief zur Tür, um die Frau zu begrüßen. Sowas freute sie.
Abends hörten der Junge und ich den Mann herumschreien, hörten, wie etwas, jemand, fiel. Wir zogen uns die Decke über die Köpfe.
Nach drei Tagen war der Mann wieder weg.
Am nächsten Tag, als der Junge in der Schule war, setze die Frau sich neben mich auf meine Decke und weinte. „Warum kann er sich nicht für sein Kind zusammenreißen?“, fragte sie mich und kurz wollte ich ehrlich sein und sagen: „Weil er dich mehr hasst als er irgendetwas liebt.“ Aber ich wollte ihr nicht noch mehr weh tun.
Acht Wochen ging das so. Der Mann war vier Tage weg und drei Tage da. Vier Tage Frieden, drei Tage Terror. Es war ein Rhythmus, an den ich mich gewöhnt hatte, aber lange konnte es nicht so weitergehen.
Wenn der Mann da war, blieb ich nachts wach und passte auf den Jungen auf, auch wenn das schwer war. Dann, vor sechs Tagen, nannte der Mann mich Drecksköter und trat mir in die Rippen. Es tat höllisch weh und ich musste mich ganz auf mein Versprechen konzentrieren, um den Mann nicht anzugreifen.
Der Junge stand daneben und weinte, aber ich sah, dass er nicht traurig war, er war wütend.
Ich versuchte, schnell mehr Wörter zu lernen, versuchte mir jedes neue, das ich hörte zu merken und für immer abzuspeichern.

Jetzt weiß nur Pia, wo wir sind. Sie bringt uns Sachen von zu Hause: Klopapier, eine gebrauchte Zahnbürste, ein paar Unterhosen ihres Papas, gestern sogar eine Dose Fisch.
Ansonsten finden wir Essen in Mülltonnen. Wir schlafen in einem Busch. Der Junge hat extra meine Decke mit. Er deckt mich damit zu, aber sobald er eingeschlafen ist, lege ich die Decke über ihn und mich daneben ins Gras. Wir laufen weit, fahren sogar mit einem Bus, mein erstes Mal. Ein bisschen vermisse ich das Fernsehen und das flauschige Sofa, auf dem ich meistens heimlich und manchmal mit Erlaubnis gelegen habe.
Trotzdem: Wir sind glücklich hier draußen.

Der Junge erzählt mir                                                                              viel,
ich mag den                      Klang seiner Stimme. Aber ich habe aufgehört,
neue Worte zu lernen. Sie sind nicht Macht, nur Laute.
Keine Worte
mehr,

n ur Liebe.

Schei ße.Fell. Lieb e.St                                  o c k. Hau t.Zun ge.Liebe. Ic hdachte m
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