Vollzeit-posttraumatische-Belastungsstörung

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Meine persönliche Auffassung der posttraumatischen Belastungsstörung PTBS ist: „die Nachwirkungen dessen, mit der Zerstörung der Welt und der Zerbrechlichkeit des Daseins konfrontiert zu werden, während man gleichzeitig und unfreiwillig das wahrlich monströse Gesicht des Menschen sieht. Störung bezieht sich auf die dadurch verzerrte Wahrnehmung der Welt und der Menschen und der Existenz und des Lebens.“

Ich habe Berlin verlassen, als mein Deutsch noch auf einem Level von „Enchuldegung, welche U-bahn ist aus Alexander platz gehen, bitte?“ war; das Verb kommt am Ende des Satzes und die Deutschen drücken sich sehr höflich aus, also beginnen wir mit „Enchuldegung” und enden mit „bitte“, das sind die Dinge, die ich sicher weiß, und dass der Alexanderplatz „der Platz“ ist, muss man in Berlin nicht weiter erklären.

Über fünfundzwanzig Jahre lang war Reisen mein Beruf, ich war in fast dreißig Ländern und habe schon in vier verschiedenen Städten und dutzenden verschiedenen Häusern gelebt. Vor drei Jahren habe ich mein letztes „Zuhause“ in Syrien verlassen. Aber ein Zuhause zu verlassen, vor Krieg und menschlicher Zerstörung zu flüchten, ist anders als auf dem Weg in den Urlaub oder zum nächsten Abenteuer in den Flieger zu steigen. Das Ziel ist unklar, die Wege sind gefährlicher, die Gesichter finsterer, die Herzen schwerer, Ungewissheit und Zweifel begleiten dich, alle deine Zeugnisse sind irrelevant, das Wissen, wie man sich in fremden Ländern bewegt, bringt dich nicht weiter, deine beiden Sprachen reichen nicht aus und das hässliche Gesicht der Menschheit, das du im Krieg gesehen hast, lässt dich nicht los, es hat sich für immer in dein Gehirn eingebrannt.

Also beschließe ich, erstmal mit meinem Partner zu sprechen, bevor ich entscheide, wie ich mein Leben in Dortmund als Stadt-Land-Text-Schreiberin angehen will – er ist Deutscher und das ist immerhin sein Heimatland.

„Raba, ernsthaft Baby?“ Auf dem Bildschirm sehe ich, wie er bei unserem Videochatbesorgt die Stirn runzelt.

„Aber, Baby“, jetzt kommt das Argument, dass ich ein besserer Mensch bin als ich eigentlich bin, „du bist ein intelligenter, schlauer Mensch, geh aus, mach Spaziergänge, triff Leute in Cafés, in netten Bars, triff nette, normale Paare.“

„Baby, das letzte Mal in einer normalen Bar war ich in Prag, und da hab ich ein nettes, normales Paar getroffen, und die haben einen ganz normalen Dreier vorgeschlagen … so als nettes, normales Abenteuer, also nein danke“, entgegne ich und fahre fort: „Ich weiß Dinge, die du nicht weißt und vielleicht auch nicht wissen willst: Menschen kann man nicht trauen! So ist das nun mal!“

Nach acht Jahren Krieg bringen mir die Artikel mit Fun-Facts über posttraumatische Belastungsstörungen nicht viel und drei Jahre „ausländern“ in Deutschland, ohne Guide, der mir sagt, was ich besser vermeiden sollte, haben mein Misstrauen anderen Menschen gegenüber nur verstärkt:„… Außerdem bin ich kein weißer, deutscher Kerl“, sage ich und denke, dass damit alles gesagt ist.

„Das sind Vorurteile, Raba“, meint er, „du darfst mit

Rabab Haidar

deinem gemeinen Misstrauen nicht alle Leute so über einen Kamm scheren.“

„Ich werde darüber jetzt nicht streiten“, sage ich streitend. „Ich versuche, die Stadt kennenzulernen, über die ich schreiben will, und fühle mich immer noch verloren!“

Stille.

„Ah!“, sagt er wie in einem freudigen Ausruf der Erkenntnis. „Ausstellungen, geh in Ausstellungen, du magst Kunst, nicht wahr? Und in Dortmund gibt es eine tolle Theaterszene, schau dir mal die Spielpläne an, du magst doch Theater, nicht wahr?“

Ich beschließe, seinen Tonfall zu ignorieren.

Es ist schön zu sehen, wie jemand, den du liebst, versucht, das Gewirr in deinem Kopf zu lösen und innere Wunden zu heilen, und dabei mit dir spricht, als würde er ein vierjähriges Mädchen überzeugen wollen, die Schaukel loszulassen: „Lass die Schaukel los, du magst doch den Rest vom Spielplatz auch, du magst die Federwippe, du willst doch auch auf der Federwippe spielen, nicht wahr?“

Aber es stimmt: Ich mag Kunst tatsächlich. Ich vertraue der Kunst. Sogar mehr als den Kunstschaffenden, noch viel mehr als ich der Geschichte traue – die meist aus Sicht der Sieger geschrieben ist, aus Sicht der Überlebenden.

Theater Dortmund und Oper also – ich komme!

Aber erst mache ich besser noch einen Spaziergang, wie mein Partner vorgeschlagen hat, zum Park, in die Natur raus, um Stress abzubauen, sehe Hunden und Kindern beim Spielen zu, in ihrer eigenen Welt, weit weg von den aufmerksamen Blicken ihrer besorgten Eltern. Ich gehe vorbei an einer Bocciabahn, einem alten Spiel, das schon die Römer kannten, an einem von Indern betriebenen Späti gleich neben dem Park und je weiter ich mich von dem Park entferne, desto enger werden die Straßen, desto draufgängerischer die Autofahrer, auf dem U-Turm leuchten digitale weiße Tauben als Zeichen des Friedens vor dem Hintergrund einer ukrainischen Flagge; der Krieg in der Ukraine ist die jüngste von Menschen verursachte Katastrophe, als hätten alle vergessen, welch schrecklicher Preis für Krieg zu bezahlen ist, was für eine Überraschung!

Und hunderttausende Ukrainer sind wieder auf der Flucht vor dem „monströsen Gesicht des Menschen“.

Und …oh, was ist das?

Ein Restaurant, wo Leute an der Theke stehen und Bier trinken, ein Burgerladen namens Olafs.

Mmmmmh!

Rabab Haidar

Dort tummeln sich die Einheimischen; ich kann sie von außen gut durchs Fenster sehen. (Davon auszugehen, dass sie „Einheimische“ sind, ist natürlich eine anmaßende Vermutung, denn man kann sich nie wirklich sicher sein, sondern eigentlich immer nur mutmaßen). Aber sie sehen aus, als hätten sie Spaß. Manche halten kurz inne und beobachten, wie ich sie durchs Fenster beobachte.

Das ist die Chance, es meinem Freund zu zeigen, denke ich mir. Geh in eine lokale Bar!, hat er gesagt. Hab keine Vorurteile!, hat er gesagt.

Ich muss daran denken, als ich das letzte Mal in Berlin in einer Bar war, das war in der Wollankstraße, da hat der Barkeeper mir zugeflüstert: „Bye bye.. whore“, während mein Partner noch auf der Toilette war und ich die Rechnung bezahlt habe. Später habe ich beim Lesen der Bewertungen herausgefunden, dass die beiden Brüder, denen die Bar auf der Wollankstraße seit zwei Jahren gehört, als rassistische Arschlöcher bekannt sind – ich habe die Bewertungen vorher nicht überprüft. Der Barkeeper hat mir direkt in die Augen gesehen, mit einem boshaften Grinsen und einem Funkeln in den Augen. Es gab keine Zeugen und niemanden, dem ich davon hätte erzählen können. Ich musste die Beleidigung schlucken und lächeln – mein Partnerbedeutet mir so viel, ich will ihn nicht ständig aufregen, wenn ich erzähle, was ich über die Menschen weiß!

Aber dieses Lokal der Einheimischen in Dortmund will ich erhobenen Hauptes betreten; wenn sie mich schlecht behandeln, habe ich kein Problem damit, eine Szene zu machen, diesmal gibt es genug Zeugen – und gleichzeitig will ich meinem Freund zeigen, dass er sich irrt: Hab keine Vorurteile!, hat er gesagt.

Auf Empfehlung eines jungen, höflichen Kellners trinke ich ein lokales golden-bernsteinfarbenes Bier, ein Moritz Fiege.

 

Lächelnd erklärt er mir, dass der Burgerladen alle drei Monate Gerichte aus einer bestimmten Ecke der Welt serviert und zu meinem Glück ist heute Griechenland dran!

Ich sehe Shawarma, unsere syrische Shawarma, die eigentlich nicht syrisch, sondern türkisch ist. Das Wort bedeutet „drehen“ und in Armenien sagt man Terna, was auch von „drehen“ kommt, und in Griechenland ist es Gyros, Olafs Gyros, arabische/türkische Shawarma, armenische Terna …

Wenn Menschen nur so leicht von einem Ort zum anderen reisen und sich anpassen könnten wie Essen. Unsere Gerichte haben ein besseres Leben als wir … Ich schätze, unser Magen hat im Gegensatz zum Gehirn kein Ego.

„Zwanzig Minuten nach der Ankündigung wurden keine weiteren Reservierungen mehr angenommen“, sagt mein netter Kellner stolz. Er muss fast schreien, um die lauten Kinder zu übertönen. Ich sehe mich um: Eltern rennen mit Schals und kleine Mützen in ihren Händen um die Tische hinter brüllenden Kindern her, unter den Bänken und Stühlen liegen kleine, bunte Jacken.

Ich bestelle Pita-Brot und Zaziki, eine griechische Joghurtsauce mit Gurke: „Nojoumiah“, was so viel bedeutet wie „voller Sterne“, wie wir sie in Lattakia nennen, meiner Heimatstadt, einer verschlafenen Küstenstadt am syrischen Mittelmeer, oder Laodicea, wie man sie im antiken Griechenland genannt hat.

Das kalte, leichte Fiege-Bier ist ein Segen.

Ich blicke durch die Fensterfront hinaus. Ängstliche, besorgte Ausländerin, die ich bin, fange ich an, die Leute zu zählen, die draußen noch eine letzte Zigarette rauchen, bevor sie gehen: ein weißer Mann, zwei weiße Männer, drei weiße Männer, eine weiße Frau, eine braune Frau, die drinnen einen braunen Mann ansieht, der einen weißen Mann anlächelt, ein Kind, dass draußen herumrennt, gefolgt von einem Vater mit einer roten Mütze und einer kleinen, bunten Jacke in der Hand, eine stolze Mutter hinterher, das Kind und ich sehen uns kurz in die Augen, da lächelt der Vater, die Mutter sieht mich an und lächelt auch. Ich brauche ein paar Minuten, bis ich auf die Idee komme, zurückzulächeln, da gehen sie schon weg und ich lächle ins Leere.

Der Vater versucht immer noch, das Kind zu überzeugen, seine Jacke zu tragen, hat es aber immerhin geschafft, die Mütze auf dem Kopf mit den zwei Zöpfen zu platzieren.

Wie viele schöne Momente man einfach verpasst, wenn man versucht, die inneren Wunden – im Heilungsprozess – vor weiteren Verletzungen zu bewahren!

Die digitalen Tauben auf dem U-Turm wirken heller, jetzt, wo es dämmrig geworden ist und die Zeit langsam der Nacht entgegenrollt.

Rabab Haidar

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