Drei: Bellersen

Den ersten Menschen, den ich sehe, sehe ich von hinten. Gebückt steht er da, macht sich an einem Gartenhaus zu schaffen, die graue Hose spannt über dem Gesäß, schrubbend, scheuernde Geräusche, kurz überlege ich, ob ich grüßen soll, aber ich fürchte, er könnte sich erschrecken, also gehe ich vorbei.

Noch ein Mensch, wieder sehe ich nur den gekrümmten Rücken, einen Hinterkopf, Gesäß und Beine, Gartenschuhe. Eine Frau, sie jätet Unkraut im Garten. Dann, am Haus gegenüber, ein Mensch von der Seite, er macht sich an der Regentonne zu schaffen, trägt einen langen Stab, an dessen Ende eine Vorrichtung sitzt, die ich nicht ganz einordnen kann, ein Werkzeug jedenfalls. Von anderswo ein Fernseher, dumpf, hinter blickdichten Gardinen.

Plötzlich ein Jogger, ich grüße, er nicht.

Dann zwei Frauen, sie bleiben stehen, sehen mich an, ich blicke vom Handy auf, nur kurz, bald darauf notiere ich in die Notizen-App: Dann zwei Frauen, sie bleiben stehen, verstummen, sehen mich an, ich blicke vom Handy auf. Beide in Daunenjacke, die eine moosgrün, die andere blau. Beide tragen Halstücher, hell grundiert, blass bemustert. Beide mit Kurzhaarfrisur und Sonnenbrille. Die Gestelle ausladend, die Gläser undurchsichtig. Sie biegen um die Ecke, ich höre ihre Stimmen wieder. Ausgelassen, fast fröhlich.

Ein Wandgemälde mit Hirsch, im Hals des prächtigen Tieres sitzt ein Belüftungsschacht. Ich schaue durchs Fenster, das daneben liegt, erkenne eine Einbauküche, eine Dunstabzugshaube. In den Gärten stehen Bäume, in den Bäumen sitzen Vögel, pfeifen, quietschen, lärmen regelrecht. Ich bin es nicht gewohnt, höchstens ein paar Spatzen und Tauben, die sich um herabgefallene Pommes Frites streiten, oder grellgrüne Halsbandsittiche, die scharenweise durch den Park ziehen, manchmal halsbrecherisch tief, dass Läuferinnen den Kopf einziehen, Radfahrer bremsen müssen. Hier aber nichts dergleichen.

Hinter einer Mülltonne ein Huhn. Dann noch eins. Und noch eins. Behutsam setzen sie ihre Krallen in den Rasen. Als bedächten sie jeden Schritt einzeln. Begucken sich das Gras. Die Erde. Oder das Gewürm dazwischen. Herab fährt ihr Schnabel.

Ein Mädchen, sie trägt einen Jute-Beutel, darauf „I  <3  Höxter“.

Ich gehe eine schmale Straße hinauf, entdecke einen Briefkasten in Eulenform, aus Bronze geschlagen. Kurz darauf ein Scheunentor mit Basketballkorb. Kurz darauf ein zweites Wandgemälde, diesmal ein Holztransport mit Leiterwagen, vorneweg ein Pferd, obenauf ein Mann mit Peitsche. Ich fotografiere, damit ich eine Gedankenstütze habe, wenn ich meine Notizen später ins Reine schreibe.

Mitten im historischen Ortskern, zwischen prächtigem Fachwerk und gedrungenen Scheunen, ein modernes Wohnhaus, bodentiefe Fenster, oben steht ein Kind, es winkt. Ich freue mich, freue mich wirklich, winke zurück. Dann gehe ich weiter. Plötzlich öffnet sich unten die Haustür, ein Mann steht in der Tür, er ruft mich beim Namen. Kurz darauf sitze ich am Küchentisch, er reicht mir ein Glas Wasser.

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Zwei: Totholzhaufen

In den Wald, immer tiefer, irgendwo bin ich falsch abgebogen und zu stur, um umzukehren, es wird schon gehen, irgendwie. Anfangs noch eine ganze Reihe von Symbolen und Kennziffern für verschiedene Wanderrouten, A20, A21, AW, Historischer Agrarwanderweg, Droste-Hülshoff-Rundweg, jetzt aber nichts mehr, die Bäume ohne Hinweisschild, ohne Pfeil und Entfernungsangabe, ohne Logo des Regionalmarketings, manchmal liegen umgeknickte Buchen und Eichen auf dem Trampelpfad, manchmal versinkt der Weg in Schlamm. Irgendwann breche ich durchs Unterholz, stehe am Rand einer Weide, dahinter geduckte Hügelketten, davor ein Holzverschlag mit Wellblechdach. Links eine kleine, verlassene Ansammlung von Fichten oder Tannen. Dann, in einiger Entfernung, wieder Wald, aber nicht sehr dicht, blaues Licht schimmert zwischen den Stämmen hindurch. Darüber Windräder in unregelmäßigem Abstand, aber immer weit genug, um sich nicht in die Quere zu kommen.

Ich folge der Baumgrenze, in den Wipfeln lärmen Vögel, als ich näherkomme, verstummen sie, schweigend fliegen sie auf, wechseln den Baum, dann geht es wieder los. Später das Gleiche noch einmal. Als hätten sie Interna zu besprechen.

In der Ferne ein Windrad mit doppelter Rotorzahl, ich staune, dann erkenne ich, es sind zwei, das eine vor dem anderen, wie eine Tanzchoreographie.

Einmal bleibe ich stehen, blicke zurück, sehe mir das Dorf an, wie es daliegt, eingefasst von braun und grün, über den Dächern eine niedrige Wolkendecke, ich beobachte, wie sie absinkt, sich zu Boden reckt, sich ergießt. Abseits hellt es auf.

Jetzt regnet es auch bei mir, sobald ich den Schirm aufspanne, hört es auf, ich packe ihn weg, dann fängt es wieder an.

Der Wald steht locker, manchmal hat er breite Schneisen davongetragen, mir fällt der Geruch von brennendem Kaminholz ein, der mir in die Nase stieg, als ich in Bellersen aus dem Bus getreten war. Anderswo schließt es sich schon wieder, struppiges Geäst, störrisch und bräunlich steht es da, von Moos unterfüttert, undurchdringlich auch für den, der eine Axt mitbrächte. Es wehrt sich.

Man sieht so viel. Es ist ein Problem. Weil ich immerzu stehen bleiben muss und tippen muss, dass mir die Finger frieren, ich sollte gehen, später schreiben, aber dem Kurzzeitgedächtnis ist nicht zu trauen.

Mitten im Gestrüpp: Schneeglöckchen. Sie lassen den Kopf hängen, schwächlich blicken sie zum Moos. Ich kann es ihnen nachfühlen, es ist kalt und feucht. Und hinter ihnen, tiefer noch, kleine Kolonien zwischen schmalen, blattlosen Bäumen.

Immer wieder Wege, die unscheinbar ins Abseits führen, sie locken mich, aber ich gehe weiter, will nicht verschwinden zwischen Totholzhaufen und Gesträuch.

Abseits eine Amsel. Sie warnt. Vor mir.

Irgendwo eine Motorsäge. Anderswo ein Specht. Alles arbeitet hier. Auch das Moos. Es klettert die Stämme hinauf, störrisch.

Seit Stunden kein Mensch, niemand, nirgends.

Überall Hochsitze, mir fällt auf, ich trage eine braune Jacke, gehe querfeldein, jetzt werde ich nervös. Ich mache auslandende Schritte, schlenkere mit den Armen, als könnte ich auf diese Weise weniger mit einem Hirsch verwechselt werden.

Plötzlich eine Lichtung abseits des Weges, ich trete ins Offene, in die Sonne, wo es warm ist, Baumstüpfe, weißlich emporquellende Pilze, das Gras kniehoch, dazwischen ein schmaler Pfad. Dann fällt die Wiese ab, ein Hang, irgendwo fliegt ein Greifvogel auf, ich störe schon wieder. Unsichtbar, aber hörbar, die Landstraße Richtung Bellersen. Wie komme ich dorthin? Ich gehe weiter, pötzlich das Logo des Historischen Agrarwanderwegs, dann eine Schautafel mit einer Karte der umliegenden Ländereien, unterteilt nach Eigentümern: Freiherr von der Borch, Graf von der Asseburg, Stadt Marienmünster, Stadt Brakel, Freiherr von Haxthausen, ich glaube, das ist Verwandtschaft von Droste-Hülshoff.

Den Hang hinunter, über die Landstraße, über den Bach, der Brucht heißt, jetzt dämmert es. Rechts eine matschige Piste, sie führt zurück in den Wald, ich würde gerne, aber bald ist es Nacht. Einmal ein Hochlandrind, grimmig guckt es über den Zaun, Augen verborgen unter brauner Zottelmähne. Dann eine Kläranlage. Dann das Ortsschild.

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Eins: Wendeplatz

Es ist schon spät, als ich meinen Koffer packe, ich stehe zu lange am Bücherregal, kann mich nicht entscheiden, am Ende vergesse ich den Droste-Hülshoff-Band, den ich auf jeden Fall mitnehmen wollte, er fällt mir erst am nächsten Morgen wieder ein, als ich schon zur Stadtbahn hetze. Stattdessen habe ich Frost von Thomas Bernhard eingepackt, ein Famulant reist im Auftrag seines vorgesetzten Assistenzarztes nach Weng, ein kleiner, düsterer Ort, so schildert es der Erzähler, die Menschen dort seien kleinwüchsig und schwachsinnig, die Wirtin macht ihm Avancen, die ihm sehr zuwider sind, der Maler, dem er nachspionieren soll, ist der Bruder des Assistenzarztes, er ist voller Hass, der Erzähler hilflos, hinter Wuppertal lege ich das Buch zur Seite, ich merke, es ist das falsche, jetzt gerade ist es das ganz falsche.

Ein ältlicher Mann setzt sich neben mich, er ächzt etwas und riecht, außerdem trägt er eigenartige Kopfhörer, sie sehen aus wie die Modelle, die man aus den Nachrichten kennt, wo sie am Kopf von Vladimir Putin klemmen oder an dem von Angela Merkel. Der Mann aber hat keine deutsch-russische Übersetzung im Ohr, vielmehr ein bassloses Scheppern, ich glaube Run DMC, er wippt mit dem Bein, ich sehe aus dem Fenster.

Dann eine Frau in Blazer und Bluse, sie isst ein komplex belegtes Brötchen, ich entdecke Ei, aber auch Frikadelle und Gurke. Als sie aufgegessen hat, wischt sie sich den Mund mit einer Serviette, kurz darauf ist sie eingeschlafen, hängt mit der Stirn an der Fensterscheibe, hinter der ein Waldrand vorüberzieht. Wiesen. Himmel. Häuser am Siedlungsrand. Einmal ein langes, hallenartiges Gebäude, daneben ein schmales Silo, vielleicht Futtermais oder Soja aus Brasilien. Die Bahn leert sich.

Altenbeken, Bad Driburg, die Frau schläft noch immer. Ich frage mich, ob ich sie wecken sollte. Hinter ihr dunkeln die Felder, sie atmet, als träumte sie. Die Ställe. Die Höfe. Manche verlassen, andere mit mehrstöckigen Anbauten. Die Dämmerung.

Am Brakeler Bahnhof eine Reihe von Bushaltestellen, an keiner ist Bellersen angeschrieben, gegenüber noch mehr Bushaltestellen, also gehe ich über den Zebrastreifen, zwei Kleinwägen müssen halten, einer links, einer rechts, beide von Opel, aber nur einer mit Duftbaum. Ein Bus mit geöffneter Tür, der Fahrer raucht aus dem Fenster, ich frage nach der 585, er sagt, von Nummern weiß ich nichts, wohin willste denn? Nach Bellersen, sage ich. Er nickt. Da fährste gleich mit mir, aber drüben einsteigen, hier darfste nicht. Danke, sage ich, ziehe meinen Koffer zurück über den Zebrastreifen, diesmal ein Mazda links, ein Audi rechts.

Ich bin der einzige Fahrgast, schaue hinaus. Drei Männer auf einem Parkplatz, gemeinsam starren sie auf das Heck eines BMW. Ich gucke auch hin, kann aber nichts entdecken. Dann Supermärkte. Ein Rossmann, der aussieht wie ein Edeka. Ein Rewe, der aussieht wie ein Aldi. Skulpturen vor der Sparkasse. Ein bisschen Fachwerk. Ein Skatepark, darauf kleine Kinder mit Fahrrädern und Tretrollern, keine Halbstarken in Baggypants, kein 50-50 an der Curbbox, kein Heelflip auf der Quarterpipe. Dann freies Feld. In der Ferne Kräne und Einfamilienhäuser, eine Scheune. Windräder.

Ein Wald. Ein Bach. Eine Weide. Im Gras steht das Wasser. Höfe, Scheunen, keine Menschen, manchmal ein Auto, das uns entgegenkommt. Strommasten. Verstreut stehende Neubauten mit Solarzellen auf dem Dach. Eine Rutsche.

Dann biegen wir ins Dorf, die Straße windet sich durch den Ort, die letzte Haltestelle heißt Wendeplatz, ich steige aus und tatsächlich, der Bus macht kehrt, lässt mich zurück.

Hohl klappert mein Koffer auf dem Pflaster. Schöne Fachwerkhäuser, beinahe imposant, eine schlichte Kirche, ich glaube romanisch, eine Porzellanwerkstatt, kurz darauf ein Altbau, die Fenster schmutzig, wildes Gestrüpp, das am Gemäuer emporkriecht. Am Ende des Dorfes wird es kühl, ein paar Kühe stehen auf der Weide, ratlos, als hätten sie vergessen, was sie zwischen Tümpel und Holzverschlag verloren haben. Dann finde ich die Straße, die ich mir notiert habe, die Rezeption ist geschlossen, aber ein Umschlag klebt an der Tür, ich löse das Tesa, finde meinen Schlüssel. Innen taste ich nach dem Schalter, mache Licht, trete ein. Leise ticken die Nachtspeicheröfen, ein kleiner Wlan-Repeater blinkt in der Wand.

Nichts. Gar nichts. Ich höre nichts. Es fühlt sich an wie Druck auf den Ohren. Dann tippe ich weiter. Die Tastatur klappert. Es hilft.

Am Morgen wache ich auf, tappse ins Bad, es ist kalt, ich fummle am Elektroheizkörper, aber er will nicht anspringen. Als ich mich gewaschen habe, mache ich Kaffee, sehe aus dem Fenster. Erst Schneeregen. Dann nieselt es, fein, fast unmerklich. Gerade setze ich mich an den Schreibtisch, da klopft es. Ich stehe auf, gehe zur Haustür, die aus Glas ist, ich kann niemanden sehen. Ich öffne, schaue nach links, nach rechts.

Den Vormittag verbringe ich am Romanmanuskript, dann bekomme ich Hunger. Ich ziehe mich an, Jacke, Schal, Mütze, draußen ist es kalt. Als ich die Haustür hinter mir ins Schloss ziehe, spüre ich es nasskalt in der Handfläche, es ist weiß und grünlich, auf dem Türknauf auch, ein Vogel muss seine Kloake darauf entleert haben. Ich gucke mich um, als könnte der Übeltäter noch irgendwo im Gebüsch sitzen, hämisch zwitschern, aber nur leere Sträucher um mich her. Keiner da.

Nachmittags bin ich zurück und müde, ich versuche zu lesen, schlafe aber ein, als ich aufwache, klopft es. Ich horche, schleiche zur Tür. Niemand.

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Nachtrag; Fragmente, OWL <3

Liebster Herr Blog,

leider war ich zuletzt rippenfellmäßig etwas ausgenockt, du darfst trotzdem noch ein bisschen Liebe, Freundschaft und Spätoktober abhaben. Hier noch drei schöne Gedichte zum Abschied und eine Danksagung:

Man ermisst schlichtweg oft nicht,

welche Horizonte einem vor die Türe gelegt sind.

Ein Begriff für das Ganze lässt sich kaum finden,

wir unterbinden in fremdartigem Befinden

die Welt unserer Maßregelung der Vorstellungswelt.

Das Einzige, was jetzt nur noch fehlt wäre Entgeiselung der Sinne.

Ich danke meinen Kettensprengern, allen die an mich glaubten, verstehen und lauschen.

 

OWL! (Oh wie lyrisch!)

Es gibt ein Land in dem die Freiheit wächst

nicht gebannt an Vorschriften,

Nachrichten, Fachsichten, Nachtschichten oder Berichte,

dass ein Rechtsruck tatsächlich wieder ein Thema ist

oder gewollte Kunst mitunter das Schema frisst.

Man lebt dort frei im Sinne des Wortzaubergeistes

ein Stück Bestand,

was als Pfand des kleinen Makrokosmos

ein wenig Magie immer bereit hält.

Hier wird liebend gelebt,

hier wird ausgiebig widerstrebt,

es wird inspiriert neu erkundet,

was Horizonte hinter sich lässt,

geschätzt ca. alle Tellerrandweiten zersetzt,

zur Ergießung einer Mikrokosmosidee

eines Kopfes mit viel Empathie.

Hier wird der Werre, der Weser, der Aa gehuldigt beim Lauschen,

denn es gibt dabei beeindruckendes Ohrmuschelrauschen

Und könnte man Liebe in Gold umwandeln

ich würde sie eintauschen

für einen Zeltplatz in OWL.

Von „Als Hipster nach Höxter“ bis zur Schokoladenfabrik

von der Wewelsburg, Regionalbahnbetrieb,

über tausend Wege im Teuto und dem was verblieb

nach dem Sturm der Gezeiten,

atme ich tief

ein und aus

denn Bielefeld existiert.

Japanische, botanische Gärten und die Unwegbarkeit der Ländlichkeit

Wolkendalmatiner und ein beobachteter Entenfight,

Zelten in kleinen Galerien der Großartigkeit,

Begegnung mit einem weißen Pferd am Rande der Endlichkeit,

Walnussbootbau für großartige Kinder,

Staunen, Lachen, Schmunzeln, was stets verhindert

zu zweifeln, zu hinterfragen,

was nur den Wert vermindert,

den ein Wort bedeuten kann für dich und mich.

Für alle Nullen und Einsen

allem zweifelnden Kleinsinn

zwischen Paderborn und Minden,

wir lassen uns die Freiheit des Wortes mitnichten entbinden.

Alles was ich erlebte, alles was ich empfinde

jeder Augenschmaus, jede Begegnung

mit der ich diese Zeit hier verbinde,

hat mir eine kleine Heimat erschaffen.

Natürlich muss ich bald wieder packen,

doch das Geheimnis hinter all diesen Worten

ist ein Stück Herzblut

an eine bezaubernde Region zu verorten.

In diesem Text ist ein Fehler:

er enthält nicht

alles Erlebtes, Gesehenes, Angestrebtes.

Doch:

Merci, Thank you, Takk fyrir, muchos gracias,

für alle Monate, Tage, Stunden, Minuten, Sekunden

ab jetzt fühle ich mich mit OWL

in meinem Wesen verbunden

 

 

 

Wewelsburg

Sterile Umgebung, Beklemmung und dann

orangene Sitzmöbel über einem schwarzen Gestirn.

Manche feiern sie bodenküssend gern,

die falsche Welt die darunter verborgen liegt;

voller Scham guckt ein Stück meines Seins zurück

auf Untaten, unterschlagene Grausamkeiten

unsagbarem Halbwissen

einer Person die in Hybris gefunden hat,

was sich nicht mal Ikarus zu denken anmaßte.

In den Katakomben ruht noch Unrat

einer Erbschuld, einer Mitwisserschaft,

dem Schlimmsterdenklichen,

was menschlich nicht begreifbar ist.

Denn meine Adern erschaudern,

ob des was gemauert,

dort noch Huldigung bekommt.

Hier ist kein Mittelpunktreich zu vermitteln.

Hier hing die Menschheit an einem falschen Konstrukt mal sehr schief,

uns gilt es das nun nicht nur zu bedauern, sondern nicht neu zu erbauen,

was damals dazu führte ein Sedativ der Gesellschaft zu werden.

In der Gruft steht das Wasser den Totenköpfen knietief.

Ein einzelnes Pferd draußen auf der grünen Weide interessiert es nicht,

was hier einst aus Unlauterem gegossen werden sollte

in eine faschistoide Phantasie,

die nur vermeinte ein totes Pferd reiten zu können.

Wir streichen diese Anbetungsstätte

verwandeln sie in ein Gedenken der Wahrheit,

der Wahrheit die hinter hohen Zäunen geträumt wurde.

Es gilt zu ermitteln, vermitteln,

wie es passieren konnte, noch geschieht,

es braucht Einblick und Ausblick,

eine Gesellschaft die ausspricht,

dass das hier kein Heiligtum,

sondern ein zu reminiszierendes Verantworten ist.

Die Burg selbst natürlich nicht,

nur das was in und um sie herum geschah,

aber das erschien ja nie auf einem Bauplan.

 

Und letztendlich noch die Zusammenfassung, die ich auf der Bühne bei der Abschlussveranstaltung geschrieben habe:

Hier lebten eure Poeten

vielleicht etwas verlebt,

denn wir geben alles für unsere Kunst

nicht nur für Gunst des Publikums

sondern um sich neu zu erfinden

Wir schaffen es Worte zu Sinn zu verbinden,

Worthülsen würden hinter Baumrinden

verschwinden, weil sie nicht genug Kraft haben

Kreativität zu vermindern.

Verkantungen und Baumarktgefühl

Orte der Erhabenheit,

verkehrsberuhigungsgekühlt

ein Trucker Jesus,

südwestfalenbefühlt;

Utopien in Wuppertal,

endloses Träumen,

Bullilogbuch, das kratzt an den Säumen

der Wahrnehmung Wirklichkeit,

denn es gibt Sommer am Sonntag

mit fliegender Flamingozuckerwatte,

die überwintert

eine Windschutzscheibe,

die nicht verhindert

alles, alles, alles wahrzunehmen.

Zum Beispiel Sauerlandheimat,

was diese bereit hat

zu bieten, zu geben, zu generieren.

Vom Bahndamm zum Buchfink

zum Witwenkränzchen

zum Schmieden und Stieren

zu Riesen und Wollschweinen

Start up mit 79 #surferparadies

aka. Sauerlandharmonie.

Ein Tod in Euskirchen

zwischen Koran, Bibel und Duden

lassen vermuten

hier will niemand versäumen

Wagnisse in Deutsch aufzuschreiben.

Es träumen Gedanken in diesen Zeilen,

aber lasst uns doch kurz bei unseren Poeten verweilen.

Flüchtige, tüchtige, aufrechte Menschen,

scheitern nur an den Grenzen

eine Linie die man einstmals überschritt

oder das Zeichen eines Stifts,

das uns den Verstand abschnitt.

11Drops zur sofortigen Einnahme

3 Smarties Wegführung

ein Name,

Einschätzung der Region

Busruckeln als Destination

Leverkusen, ein Grund für Kuchen

oder Fluchen

Gespiegelter Jazz

auf Feldern zu Pizza;

Kunst braucht hier kein Geländer

wir haben schon jetzt die Routen verändert;

denn Hellwege sind keine Höllenwege,

es gibt trotzdem Espressi,

man versetzt sich gut in die

Container, ausrangiert;

In Heesen gewesen

als Hipster nach Höxter

und bis nach China,

wir waren noch nie da,

wo wir gerade lebten,

bleiben trotzdem respektvoll

eure Poeten.

Verwegen auch einmal nachts

den Bahnhof zu betreten,

Wanne-Eikel, Gestirn der Volkssternlichkeit;

Es ist 18:58,

mehr als ein Sonnenfleck

und ein Wanderfalken

der dann verbleit

von einer Region

über 9 bis in die andere,

man muss auch sagen,

dass sich verwandelte,

was wir kannten,

woher wir kamen

und bald erwandern wir

neue Regionen,

Abertrillionen Expeditionen

voller Mut und Leben

Glut und Streben

Ein Wort: schwarz auf weiß,

just gehört, wirklich nice!

auf Papier zu behalten.

Ihr Job ist es unsere Kunst für uns zu verwalten.

Wir konnten uns umkrempeln, frei sein und walten

kleine Königreiche, die wir poetisch gestalteten;

Am Ende haben wir Sterne in den Augen,

Haikus in den Ohren,

und Millionen Möglichkeiten NRWs im Herzen.

Man kann das widerspiegeln von Kunst nicht unterbinden,

aus Zelten, Reisetaschen, Koffern und Heimwegen, Krümel von Aachen bis in den letzten Dachbalken in Minden,

Liebe Grüße,

eure Poeten, wir verbinden.

 

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Nacht, eine;

Man kann sehr gut in Herford der Nacht lauschen und dabei etwas umherflanieren. Auf dem Weg begegnete mir diese Baumrinde und wollte Gemälde werden. Nacht eben.

 

 

Die Mondfinsternis
stimmt für mich Debussy oder Satie an,
kleine Winkel unter Laternenpfeilern.
Ein Schritt wird Melodie und Epiphanie
eines Eroberns der wehenden Bäume
der wartenden Träume;
sie loten eine Kathedrale aus,
Wolken und Zerrstellen.

Ich lausche den Schatten,
die leuchtend vorbei schleichen,
zu Geplätscher, Singsang
und Streicher erwachen.

Man spielt mit jedem Schritt Klavier,
hier ist die Nacht so still,
man braucht geflüsterte Musik
oder gebügelte Ohren,
um den Mond aufzuhalten.

Ein Scheinwerfer zerschneidet die Nachtruhe.
Manchmal vertue ich mich,
mit dem Dunkel im Halbton
liegen die Laternen
;
doch es sind nur
ungeölte Scharniere,
die uns nach Hause berufen.

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In den Gärten

Achherrje, jetzt wird es schon so herbstlich. Ich gewann letzten Monat noch sehr viel Sonnenbrand bei der Bewanderung der Gärten Bielefelds. Es gibt da einige Schönheiten zu bestaunen. Der japanische Zen-Garten ist zwar fußläufig ziemlich außerhalb gelegen, besticht allerdings durch seine kuriose Geschichte eine Helikopters, der dort am 14.09.1993 mit dem Kaiser und der Kaiserin von Japan zu einem Staatsbesuch am Rande des Teutoburger Waldes landete.

Bielefeld beheimatet zugleich einen der wunderschönsten botanischen Gärten, die ich jemals gesehen habe. Er ist rund um die Uhr geöffnet, liegt erster Erscheinung nach ziemlich direkt an einem Wohngebiet, dessen Dächer bald im Grün versinken, verlangt nur den Eintritt neugieriger Füße und schmiegt sich an einen ganz anderen Waldsaum des Teutos. Ich stromerte den ganzen Tag durch wundersame Gewächse und erbaute mich an den aus dem Latein übertragenen Pflanzennamen.

Das kleine Mosaik ist aus auf der Straße aufgelesenen Blüten gebastelt.

 

 

In den Gärten

Am Rande des Teutoburger Waldes
entspringt eine Exotik in Flora
mit durch blätterverschachtelten Baumkronenperspektiven
auf Dacharkaden der Ziegelsteinschindeln
benachbarter Nutznießer und Gönner einer reichen Botanik.
Sie laden ein hier zu verweilen.
Nachts tobt im botanischen Garten
eine Schau der Namen und Klassen,
wie in einer wahren Gesellschaftshierarchie,
könnte man fast sagen:.

Rhododendron erkennt man zu leicht,
vielleicht auch eine Pelargonie
Edelweiß oder einen Ginko,
denn sie tragen nur Anzug von der Stange
und sind in jedem besseren Blumenladen zu finden.
Doch kaum mag ein wolffilziges Habichtskraut
einer Lichtnelke ein Begriff sein,
vielleicht ein Stachelnüsschen,
das sich unter einer Fetthenne duckt,
eine Edeldistel gibt sich nur
mit einem kanadischen Windröschen ab,
nicht mit solchen Pechnelken,
wie einem Quirl-Zehnfuß,
denn Krätzkraut und Augenwurz
sind keine Prachtscharten.
Hier mag sich noch eine Kuhschelle
mit einer Tigerglocke grüßen,
aber in den oberen Etagen,
steht ein Nickender Lauch im Anzug
bedient eine Freilandgloxinie
und eine etwas zu aufgetorkelte Forellenlilie,
die nach dem Athos-Steinbrech
bedeutungsvolle Blicke wirft und am Tau nippt.
Kaukasus Kugelblume, Flauschkraut und Laugenblume
sind etwas pikiert, fehl am Platz
und entwurzeln sich ihrer Erwartungen.
Der Würgebaum steht stets allein im Wald.
Ein später Besucher stromert vorbei und denkt sich:
„Ha! Da steht eine Tanne, die kenn‘ ich!“
Kapfuchsie streckt ihm die Zunge raus.

 

 

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