Das Geräusch des Wartens

Als ich höre, dass es in Attendorn eine Moschee gibt, bin ich überrascht. Das hätte ich nicht erwartet, mitten im ländlich geprägten Südwestfalen. Noch weniger hätte ich es von einer Stadt erwartet, in der katholische Osterbräuche eine identitätsbildende Tradition haben. Die Ditib Moschee in Attendorn wurde 2017 eröffnet, im selben Jahr wie die Moschee in Köln. Die Hansestadt ist mit der Zeit gegangen und hat ihrer 1986 in Attendorn gegründeter und derzeit mitgliederstärksten Migrantenorganisation eine Heimat geboten. Nur wenige Wochen nach Ostern hat der Ramadan, die muslimische Fastenzeit, angefangen. Es ist ein Monat, der das Leben auf den Kopf stellt, gegessen wird mit dem Mond, gefastet mit der Sonne.

Ein wenig Bedauern spüre ich schon von Seiten des Vereins in Attendorn, dass sie nicht, wie in vielen anderen Städten Deutschlands, wie in Berlin oder Dortmund beispielsweise, die Unterstützung bekommen haben, um den Gebetsruf in der Coronakrise als Zeichen des Zusammenhalts und der Solidarität erschallen zu lassen. In Attendorn bleibt es allein den Glocken überlassen, täglich mit ihrem Läuten, Hoffnung und Zuversicht in der Krise zu verbreiten.

Den Ruf des Muezzins kenne ich gut aus dem Libanon, denn auch dort lebt, wie in Südwestfalen, ein Teil meiner Familie. Es ist ein schönes Gefühl am frühen Morgen vom Gebet geweckt zu werden, wenn langsam über dem Gebirge die Sonne aufgeht, sich tastend vorstreckt, als wäre sie noch unentschieden ob sie auch an diesem Tag leuchten soll. Doch mit dem Gesang steigt sie auf in den Himmel und mit ihr kommt die Wärme, schleicht sich langsam über die Hügel ins Tal, um sich mit dem Geruch von Jasmin, von Olivenzweigen und Zedern zu vermischen. Die ersten Sonnenstrahlen blitzen im Takt eines knackenden Lautsprechers über die grünen Hügel. Manchmal beginnt auch ein Hahn zu schreien und macht dem Muezzin Konkurrenz, aber meist gelingt es beiden auf eine gewisse Harmonie zu kommen und da das Morgengebet sehr früh ist, flüchtete ich mich beim Hören von Hahnenschrei und Gebetsruf oft wieder in einen ruhigen und angenehmen Schlaf. Der Gebetsruf des Muezzins hat für mich auch etwas Mystisches. So hat er mich bei unseren Reisen im Libanon immer in neue Träume entführt, bis dann am Morgen die Glocken durch die Straßen klangen und es Zeit war aufzustehen.

Glocken sind ursprünglich auch magische Bedeutungsträger. China gilt als das Ursprungsland der Glocke und auch dort wurde sie für rituelle Zwecke eingesetzt. Doch ist der Klang der Glocken mit der Erfindung und Verbreitung des modernen Zeitverständnisses immer mehr zu einer rhythmischen Maßeinheit geworden, die unsere Vorfahren vom Feld in die Kirche rief, uns ankündigte wann es Zeit war Mittag zu essen oder ins Bett zu gehen. Das mystische und magische im Glockenklang ist längst der präzisen Zeitmessung und ihrem Verständnis einer absoluten Naturbeherrschung gewichen.

Der Vater meiner Kinder ist im Libanon zwischen Glockenschlag und Gebetsruf aufgewachsen und als ich ihm von meinen Gedanken zum Glockenschlag erzähle, behauptet er, für ihn wäre es mit dem Gesang des Muezzins nicht anders. Auch der Ruf vom Minarett bedeutet für ihn im Alltag ein Zeitmesser und kein mystischer Klang höherer Sphären.

Er erzählt mir diese Geschichte aus seiner Kindheit, denn er ist in einem ganz anderen Libanon aufgewachsen, als wir ihn heute kennen. Als Papst Paul VI 1965 den Libanon besuchte, war der Vater meiner Kinder ein Erstklässler und seine multikonfessionelle Heimat noch Hoffnungsträger für den Weltfrieden. Damals war er Schüler in Beirut.

In der Schule lernte er Französisch und kann sich noch gut an seinen Nachhilfelehrer erinnern, einem Mann aus der christlichen Nachbarschaft, der ihn mit dem Partizip und den unregelmäßigen Verben quälte. Lange Stunden musste er als Schüler sitzen, verzweifelt darauf wartend, dass der Unterricht ein Ende nehmen würde. Und dann war da dieser Moment, als er meinte, gar nicht mehr weiter zu können. Es nicht mehr auszuhalten, die Buchstaben verschwommen zu einer undurchsichtigen Masse, wie der Rauch der Pfeife des Lehrers neben ihm, der Kopf wurde ihm schwer. Im Libanon wird noch heute viel geraucht, auch in den Wohnungen, einige vermuten sogar, der Coronavirus hätte wegen der vielen Raucher in der Region nicht so hart zuschlagen können.

Aber zurück zu unserem Schüler und seinem Lehrer. Der Mann war etwas übergewichtig, schwitzte viel, der Junge fühlte sich in seiner Anwesenheit eigentlich nie wohl, was eben nicht nur an den französischen Verben lag. Es war etwa fünf Uhr am Nachmittag, dem Schüler kam es vor, als würde er nie aus dieser Hölle des Lernens entkommen. Sein Lehrer hielt den Finger auf die Seite gepresst, als fürchtete er, all die Formeln, Adjektive und Verben, könnten plötzlich davonlaufen. Der Gebetsruf war für den Schüler eine schlichte Zeitansage, und die verriet ihm, dass er mindestens noch eine Stunde mit Lernen, Schweiß und Rauch aushalten müsste. Doch als der Klang des Muezzins erklang, hielt der Nachhilfelehrer plötzlich inne, nahm die Hand vom Buch, atmete durch, klopfte seine Pfeife aus und lauschte dem Gesang, und sagte dem Schüler, er höre diesen Gesang so gerne, es gebe ihm das Gefühl des Friedens. Der Mann war Christ, Schüler und Lehrer gehörten nicht derselben Religionsgemeinschaft an und nun saßen sie dort und lauschten und während der Muezzin sang, schwiegen die Verben, die regelmäßigen und die unregelmäßigen, und auch die Partizipien kamen zur Ruhe.

Danach war alles viel leichter, die letzte Stunde verging wie im Flug und die Glocken läuteten und so war es nun am Schüler mit dem Lehrer gemeinsam dem Klang der Glocken zu lauschen und auch er sagte dann, wie schön und wie friedlich der Gebetsruf der anderen, fremden Religion klänge.

Sie umarmen sich, sagt man im Libanon zu den unterschiedlichen Gebetsrufen, sie sprechen miteinander, Glocken und Gesang lösen sich ab, hören sich zu und lauschen einander und so lange sie miteinander reden, ist alles noch gut.

Jahre später war der Bürgerkrieg ausgebrochen, jeder zog sich in sein Viertel zurück, Muslime und Christen lebten in Beirut nicht mehr eng zusammen, alle versuchte den Ruf zum Gebet des anderen zu übertönen, mit dem eigenen Lautsprecher oder Glockenschlag den Glauben des anderen zu ersticken.

Das ist das Schlimmste für mich, sagt der ehemalige Schüler, der heute mein Mann ist, wenn ich den Ruf des Muezzins höre, ihm aber nicht das Läuten der Glocken ihm folgt, sondern nur diese Stille. Dann weiß ich, es gibt keinen Frieden und immer warte ich dann auf das Läuten der Glocken. Und wenn ihm etwas von seinem christlichen Lehrer geblieben ist, dann nicht nur, dass er heute perfekt Französisch spricht, sondern auch, dass ihm der Klang der Glocken und Gesang des Muezzins in seinem Gedächtnis gleichwertig sind.

Er erzählt mir von der libanesischen Sängerin Fairuz und ihrem Mann Assy Rahbani, die in ihren Liedern oft die beiden Gebetsklänge miteinander erklingen ließen. Ein Lied von ihnen hänge ich hier an. Die Sängerin Fairuz ist Christin und steht für einen vereinten Libanon, der seit langem unter Spannungen leidet, aber mit seinen achtzehn unterschiedlichen Religionsgemeinschaften auch als Vorbild eines friedlichen Zusammenlebens galt.

Es wird noch lange dauern, bis der Vater meiner Kinder wieder in den Libanon reisen kann, um seine Familie zu sehen. Die Region war schon vor Corona in einer großen Krise, der Syrienkrieg, die Flüchtlinge haben das Land in einen Abgrund gestoßen.

Aber es wird auch für viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland lange dauern, bis sie ihre Heimat und die dort lebenden Verwandten jenseits europäischer Grenzen wiedersehen können. Die Coronakrise hat die Welt in einen Winterschlaf versetzt und wir alle müssen warten, bis es weitergeht. So lange lauschen wir, hören den Klang des Wartens, auch wenn es nichts ist, als die Stille, die uns umgibt.

Die muslimische Gemeinde der Hansestadt Attendorns hat gut dreißig Jahre auf ihre Moschee gewartet, eine lange Zeit für einen einzelnen Menschen, aber weniger lang für die menschliche Historie an sich. Kaum jemand weiß besser als die Südwestfalen, was Zeit und ihr Verlauf bedeutet. Es können gut vierzig Jahre vergehen, bis eine Eiche zum ersten Mal Früchte trägt. Und es braucht seine ganz eigene Zeit, bis aus multiplen Gemeinschaften eine Harmonie entsteht, damit schließlich und endlich die unterschiedlichen Stimmen harmonisch zusammen erklingen.

 

Damit das Warten schneller vergeht, hier noch ein Lied von Fairuz, in dem es auch ums Warten geht. Habbaytak bel sayif (حبیتك بالصیف), „Ich liebte dich im Sommer“, erzählt die Geschichte zweier Liebender, die aufeinander warten, im Sommer, im Winter, so lange, bis sich beide zu Fremden geworden sind.

 

 

Die beiden Bilder im Beitrag zeigen die Moschee in Attendorn, mit freundlicher Genehmigung des Vereins.

Das Beitragsbild zeigt Moschee und Kirche in Beirut, Libanon.

 

 

 

 

 

 

Mehr von Barbara Peveling

Gedenken ohne Gedächtnistheater

Die letzten Jahre, als ich noch ausschließlich in Deutschland lebte, waren nicht leicht für mich. Das lag auch, aber nicht nur, an der Weltmeisterschaft von 2006, in der die Deutschlandflagge wieder salonfähig wurde. „In Deutschland“, schreibt Michael Ebmeyer, ruft die „Flaggenseligkeit (…) Abscheu hervor“. Die historische Hemmschwelle, sich mit Schwarz-Rot-Gold zu identifizieren, gehört zum Selbstbild von uns nachgeborenen Deutschen. Wir sind nicht stolz auf unser Vaterland, denn wir wissen, „der Sonderweg des deutschen Nationalstolzes ist der Weg in die Katastrophe“, so Ebmeyer. Darüber ist sich meine Generation so bewusst wie keine andere. Wir haben Stolz mit Scham ersetzt. Dahinter steht das pädagogische Konzept der Betroffenheitspädagogik. Diese Form der Lehrmetode entstand in den siebziger Jahren, beeinflusst aus Erlebnispädagogik und Gestaltpädagogik, untermauert von den Schriften Theodor Adornos zur Erziehung nach Auschwitz.

Dass sich diese Form der gesellschaftlichen Bildung immer auch auf dem Schneideweg zwischen Scham und Schuld befindet, habe ich selbst als Kind erlebt.

Während heute meine eigenen Kinder und ihre Freunde mit dem Begriff Hitler als Inkarnation des Bösen aufwachsen, wurde er in meiner Jugend diese Persönlichkeit noch als der, dessen Name man nicht ausspricht, gehandelt.

Bevor wir von Hitler lernten, lasen wir Bücher wie „Damals war es Friedrich“ in der Schule. Die Erzählung von Hans Peter Richter von einem jüdischen Jungen, der sich selbst überlassen wird, weil sein ganzes Umfeld Systemtreu reagiert und der am Ende qualvoll stirbt, hat mich als Kind aufgewühlt zurück gelassen. Ich hatte das Buch schon zu Ende gelesen, bevor wir es in der Schule überhaupt fertig besprochen hatten und ich weiß noch genau, wie ich danach zu meiner Großmutter ging, um sie zu fragen, ob sie Juden gekannt hatte. Juden in Südwestfalen, oder Juden in unserer Heimatstadt, in Olpe.

Natürlich hatte sie, da waren Geschäfte gewesen, die von Juden geführt wurden und Mädchen, die mit ihr in eine Klasse gegangen waren. Und irgendwann waren sie nicht mehr da gewesen, alle. Mehr erfuhr ich nie von ihr.

Danach richtete ich mich an meine Mutter, sie hatte den Krieg nie erlebt, war erst an zu Kriegsende überhaupt geboren worden, hatte aber viel mehr zu sagen. Und an diesen Moment der Aufklärung habe ich eine sehr deutliche und einschneidende Erinnerung. Ich kann den Raum, indem meine Mutter mich über die Verbrechen des Nationalsozialismus aufgeklärt hat, noch genau vor mir sehen, in meinem Gedächtnis kann ich ihn abrufen wie einen auswendig gelernten Text, da war in ihrem Arbeitszimmer, eine weiße Wand, ein heller Teppich am Boden, die Blumenkästen vor den Fenstern und alles voll mit ihren Worten und das Grauen, über das Unvorstellbare der Vergangenheit einer Nation, der ich angehörte.

Dieser Moment wurde schließlich einer von vielen in meiner persönlichen Konfrontation mit der deutschen Vergangenheit. Eine historische Realität, die ich als immer erdrückender erlebte, und auch immer weniger aushaltbar, je mehr Fahnen und je mehr Nationalismus wiederaufkam. Schließlich, das muss ich mir doch eingestehen, habe ich die Flucht ergriffen.

Heute bin ich sehr glücklich, wenn ich, in dem Pariser Vorort, indem meine Familie zu Hause ist, unsere Nachbarn am Samstagmorgen, wie jeden Sabbat (sofern kein Corona ist), zusehen darf, wie sie in die Synagoge gehen.

Doch muss ich mir eingestehen, dass es vor der allgegenwärtigen Anwesenheit der deutschen Vergangenheit, eben vor dem, was in Auschwitz geschah, keine Flucht gibt. Ich bin Deutsche und bleibe es, da hilft auch keine zeitliche oder räumliche Distanz.

In seinem Werk zu „Geschichte und Gedächtnis“ schreibt der französische Historiker Jacques Le Goff: „Die Beziehungen, die eine Nation zu ihrer Vergangenheit unterhält, die historischen Traumata, die sie erlitten hat, die Eigentümlichkeiten ihrer Historiographie, sind wesentliche Bestandteile ihrer kollektiven Identität. Der eigenen Geschichte ins Angesicht zu blicken, ist eine Pflicht, sowohl für Nationen wie auch für Individuen.“

Einer, der nicht davor geflohen ist, ist Tom Kleine. Seine, mit Hartmut Hosenfeld gestartete, Initiative „Jüdisch in Attendorn“ wurde 2019 ausgezeichnet. Die Hansestadt Attendorn kann stolz auf diese Initiative sein, die sich 2018 mit der Aktion „Shalom Attendorn“ und der Eröffnung des ersten jüdischen Themen-Wanderweges hervortat. Wenn, wie ich zuvor geschrieben habe, von unserer Generation der Stolz mit Scham ersetzt wurde, bringen Menschen wie Tom Kleine und Hartmut Hosenfeld diesen Stolz auf das, was man im allgemeinen Wortschatz Heimat nennt, in anderer, neuer Form zurück.

Tom Kleine und Harmut Hosenfeld

Auf ihrer sehr ausführlichen Internetseite „Jüdisch in Attendorn“ gibt es eine Vielfalt an Informationen und Geschichten zu entdecken, aus der Vergangenheit und Gegenwart der Hansestadt. In der es jüdisches Leben seit dem Jahre 1451 dokumentiert ist. Die jüdischen Familien der Stadt waren Metzger, Händler, Fabrikbesitzer und die vielen zusammengetragenen Dokumente, wie ein Lehrlingsvertrag aus dem Jahre 1926, zeugen von einem auf gegenseitigen Respekt beruhenden Zusammenleben unterschiedlicher Gemeinschaften, das leider durch den Nationalsozialismus ein brutales Ende fand.

Ein Mensch, der zu dieser Gemeinschaft aus Vielen davor gehörte, war Julius Ursell, ihm ist der Themenweg gewidmet. Sein Lebenslauf liest sich, wie der eines typischen Bewohners Südwestfalens jener Zeit, der das Metallunternehmen eines Vorfahren übernahm, das, wie so viele in der Region, von einem „Fabriksen“ zu einem anschaulichen Unternehmen wurde. Julius Ursell war begeisterter Wanderer, Mitglied im Schützen- und Turnverein. Er starb an einer Erkrankung auf einer Geschäftsreise 1936. Sein Grab liegt noch heute in Attendorn. Viele seiner Nachfahren sind schon in die Region gereist, um den Themenweg zu besuchen.

Einweihung der Gedenkstele

Aber das ehrenamtliche Engagement von Tom Kleine hört nicht bei „Jüdisch in Attendorn“ auf, beruflich als Pressesprecher der Stadt Attendorn, ist er auch der muslimischen, katholischen und evangelischen Gemeinden nahe. Die Moschee in Attendorn wurde 2017 eröffnet. Der Moscheeverein hat zu Beginn der Coronakrise noch eine Blutspende-Aktion durchgeführt.

„Aber natürlich“, erzählt mir Tom Kleine bei unserem Videointerview lachend, „ist bei uns in Attendorn auch nicht nur heile Welt, aber wir kommen hier sehr gut miteinander aus.“

Er begleitet selbst viele Gruppen, die den Julius Ursell Weg entdecken. Das Angebot wird vor allem von Lehrern genutzt, auch aus Olpe.

Fast wünsche ich mir, dass es zu meiner Schulzeit schon solchen Initiativen gegeben hätte, die mir damals hätten helfen können, das historische Traumata zu bewältigen. Doch die Dinge brauchen ihre Zeit, oder wenigstens ihre Geschichte. In Attendorn wohnt auch wieder eine Familie jüdischen Glaubens, verrät mir Tom Kleine. Diese, so entnehme ich seinen Worten, ist Teil der Gemeinde, ohne als jüdische Minderheit von dieser für die eigene Läuterung missbraucht zu werden. Diese „Läuterung“, wie der deutsch-jüdische Lyriker Max Czollek sie nennt, besteht darin, dass jüdische Minderheiten in Deutschland oft mit einem „Gedächtnistheater“ instrumentalisiert werden, um den lebenden Beweis zu liefern, dass die deutsche Gesellschaft ihre mörderische Vergangenheit gut verarbeitet hat. In seiner Streitschrift warnt Czollek davor, dass nach den Moscheen, auch wieder die Synagogen brennen.

Die Gefahr besteht in Deutschland, doch Menschen wie Tom Kleine setzen ihr Engagement dagegen und indem sich „Jüdisch in Attendorn“ aktiv mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt, müssen keine neuen Minderheiten im Gedächtnistheater instrumentalisiert werden. Das ist schön, und das hätte auch ich gar nicht so gedacht, und ich hoffe, dass mir, Corona zum Trotz, noch Gelegenheit gegeben wird, gemeinsam mit Tom Kleine die Geschichte „Jüdisch in Attendorn“ zu entdecken.

Jüdischer Friedhof in der Hansestadt Attendorn

 

Die Bilder in diesem Beitrag wurden von Tom Kleine zur Verfügung gestellt, Herzlichen Dank dafür!

 

Mehr von Barbara Peveling

Oh Lord, let me go, Gesänge aus dem Lockdown

Den Semmelsegen schaue ich mir auf dem Klo an. Mir hat vorher die Zeit gefehlt, mit Homeoffice, Homschooling, Homestipendium, Homeputzen, Homekochen, Homebacken, überhaupt all dem Home, rennt mir die Zeit weg, was sonst geteilt, oder Häppchenweise, vielleicht auch als feine Schnittchen meinen Alltag gliedert, schlägt nun voll rein, überlastet und überfordert mich. Also, Klo. Die Ratschen, der Turmbläser, mit fällt wieder das Kommentar ein, das ich irgendwann mal auf Twitter geliket und sogar geteilt habe, indem eine Mutter schrieb, dass sie, seitdem sie Kinder hat, kapiert, dass sie schneller scheißen kann, wenn jemand von außen gegen die Tür trommelt. Ein Witz, den wahrscheinlich nur Mütter verstehen, einfach die, die täglich parat stehen, die Care-Arbeit machen.

Jetzt aber ist es endlich mal ruhig, und ich höre dem Pfarrer zu, wie er seine einführenden Worte spricht und dann, allein in der Kirche, das Lied „Lobet den Herrn“ anstimmt. Er hatte mir vorher schon im Interview erzählt, dass ihm das besonders fehlen würde, die vielen Menschen, die sonst gemeinsam beim Semmelsegen dieses Lied laut anstimmen.

Die Musik hat Johann Sebastian Bach zu dem Lied von Joachim Neander kombiniert.

Als ich es höre, habe ich sofort das Bild meiner Mutter vor mir, die, neben mir stehend, das Lied singt, weil sie es so gut kennt, und weil ich in meinem Leben meistens, wenn ich in der Kirche, mit ihr zusammen war.

Jetzt im Corona-Lockdown, ist dies der Moment, an dem ich zu weinen anfange. Vielleicht, weil die Kantate von Bach so schön ist, vielleicht, weil ich an all die Momente denken muss, in denen ich Menschen gemeinsam habe singen höre und wenn viele Menschen laut zusammen singen, entsteht immer ein Gefühl von Gemeinschaft, aber ganz sicher, weil ich endlich hier raus will, nicht mehr eingesperrt weiterleben, wie eine Pflaume im Haus oder auf dem Klo sitzend, um mal ein klein wenige Ruhe zu bekommen, ich will endlich wieder mein Leben zurück haben. Das Gefühl individueller Entmachtung überrennt mich, ich möchte meine Existenz wieder irgendwie selbst bestimmen, wenn auch nur mit so einfachen Dingen, wie am Flussufer zu sitzen, Enten beim Baden zu zu sehen, mit Freunden im Wald zu spazieren, ein Konzert zu besuchen oder einfach auf einer Party zu tanzen. Ich will die Normalität zurück, über die Paolo Giordano in seinem Buch In Zeiten der Ansteckung schreibt. Selbst, wenn sie diffus ist und noch ungenau.

Aber jede Normalität ist weit weg, sie ist mir abhandengekommen wie eine Gleichung, an die ich mich plötzlich und unerwartet nicht mehr erinnern kann. Und ich bin sicher nicht die Einzige, der Pfarrer im Lifestream auf Youtube aus Attendorn, der gerade in einer von der Leere hallenden Kirche, allein mit sich und seinem Glauben einen Segen abhalten muss, wünscht sich mit Sicherheit auch in eine andere Normalität als diese zurück. Und noch bevor er den Semmel segnet, hält er eine kurze Rede:

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.

Damit zitiert er Jesus, der diese Worte nach vierzig Tagen in der Wüste zum Teufel gesagt hat und damit selbst aus dem Deuteronomium zitierte. Nicht nur Brot, sondern auch Nahrung fürs Herz.

Wir sitzen im Lockdown, unser Alltag ist heruntergefahren auf das, was als systemrelevant gilt, was wir zum Überleben brauchen. Aber das ist eben nicht nur unser tägliches Brot, das ist, in Wahrheit, so unendlich viel mehr. Dabei bin ich mit dem Pfarrer und seiner Rede völlig einig.

Als ich aus dem Badezimmer trete, heule ich aber nicht mehr, weil ich jetzt nun sehr fest hoffe, dass wir uns später, nach dem Lockdown, auch daran erinnern werden, dass wir nicht nur vom Materiellen allein leben, von Klopapier und Nudeltüten, sondern von soviel unendlich viel mehr, Herznahrung eben.

Ein Lied, das die Welt und auch Religionen verbindet, hier singt auch die Queen die Bach- Kantate in London.

 

Und damit ihr die Botschaft auch nicht vergesst, an dieser Stelle das Herznahrung- Lied dazu von Janis Joplin dazu, denn die großartigsten Sängerinnen hören niemals auf zu singen!

 

 

Mehr von Barbara Peveling