Hoedje van Papier

Wenn ich diesen Anfang eines Textes über Düren in den Papierkorb schiebe und auf „entleeren“ klicke, dann höre ich das Geräusch. Einen Zettel, der zerknüllt wird. Ein angenehmes Geräusch. Ich höre es heute zum fünften Mal.

Was ich gestern schon zerknüllt habe: meine letzte To-do-Liste als Regionsschreiber in Aachen. Also die materielle. To-do-Listen schreibe ich immer auf Papier. Ich hatte zunächst überlegt, ob ich etwas aus der Liste falten könnte, einen Flieger, den ich dann in den Papierkorb segeln lassen kann. Ein schöner Abschied wäre das gewesen. Aber der Impuls zu zerknüllen war stärker. Papier soll geduldig sein, heißt es, aber derjenige, der darauf schreibt, hat deswegen noch keine Geduld mit dem Papier.

Neulich im Radio habe ich ein Feature über einen Mann gehört, der viel Geduld damit hatte. Oder der Papier einfach sehr geliebt hat. Erwin Hapke ist sein Name. Er arbeitet am Max-Planck-Institut in Wilhelmshaven und ist ein vielversprechender junger Mikrobiologe. Eines Tages wird er plötzlich entlassen. Etwas ist vorgefallen, eine Krise, vielleicht im Labor, vielleicht auch in der Liebe, aber das sind nur Spekulationen. Sicher ist: Es ist die große Krise in Erwins Leben. Danach kehrt er zurück nach Nordrhein-Westfalen, ins Haus seiner Eltern und beginnt sich zurückzuziehen. Erwin verlässt das Haus nicht mehr. In seinem Zimmer fängt er an zu falten, immer mehr Insekten aus buntem Papier. Sein restliches Leben lang wird er das tun, bis sie die Regale im Haus bevölkern, die Wände und Tische. Als Biologe hat Erwin auch Interesse an Schmetterlingen. Er sammelt sie zunächst im Garten, setzt sie in Kästen, aber das tut er ohne Leidenschaft. Akribisch stellt er sie dagegen aus Papier her. Falter. Weltenfalter war der Titel des Features.

Ich fahre nach Düren. Düren hat eine enge Beziehung zum Papier. Die ganze Region hat sie. Schon mehrfach ist mir das aufgefallen. Am Papiermacherbrunnen in Zülpich. Vor der Papierfabrik in Kreuzau. In Düren hat das Papier ein Museum bekommen. Weiß sieht es aus, mit einer Falz im Dach.

Auf dem Weg in die Stadt komme ich an einem Block Reihenhäuser vorbei. Mietskasernen hätte man in den 50er Jahren, in denen sie vermutlich gebaut wurden, dazu gesagt. Dazwischen eine Wäschespinne, an der leuchtend bunte Laken wehen. Kinder, vier oder fünf Jahre alt, laufen darum herum. Ein Junge rammt mit dem Kopf hinein wie der Stier ins Tuch eines Torero. Dann höre ich Gebetsrufe. Sie kommen aus der Fatih-Moschee, einem denkmalgeschützten Gebäude mit weißem Minarett über roten Backsteinrundbögen, wie man sie in der Gegend kennt. Das Gotteshaus ist ein schmuckvolles Gebäude, von denen es in Düren nicht sehr viele gibt. Ein monumentaler fallender Engel vor dem Rathaus erinnert daran, dass die Stadt im zweiten Weltkrieg zu 99% zerstört worden sei, lese ich. Ein negativer Rekord. Mit meinem historischen Stadtplan bin ich heute verloren.

Aus dem Weg durch die Dürener Innenstadt komme ich an „Lady Charismas“ Kosmetikstudio vorbei. Es ist geschlossen, ich stecke aber den Flyer ein, der mit einem faltenfreien Gesicht wirbt. Ein Stück weiter stehe ich vor dem Schaufenster von „Jojos sozialer Spielzeugbörse“. Ein Playmo-Soldat mit einem Napoleon-Hut auf dem Kopf salutiert mir. Neben ihm ist ein großer Turm aus Bauklötzen eingestürzt. Auf einem säulenartigen Podest dahinter steht der Herr der Ringe. Es ist diese Ausgabe mit den roten Seiten, dünn wie bei einer Bibel. Aus einer Änderungsschneiderei höre ich Beethoven. Masken für Superhelden werden dort genäht. Dann komme ich auf einen kleinen Platz. Auf einer Bank liegt eine alte Zeitung. Sie scheint als Decke gedient zu haben. Ich werfe einen Blick auf die Schlagzeilen. Die üblichen Hiobsbotschaften. Fast alle haben mit Viren zu tun. Auf den Sockel des Frauenbildnisses, das auf dem Platz steht, hat jemand einen Totenkopf gesprayt. Metallisch schwarz glänzt das Knochengesicht und setzt sich ab von dem matten Weiß, in das dutzende Kleckse Taubenkot die Statue getaucht haben. Vor einem Zaun, der parkende Autos schützt, stehen fünf orange Boxen aus Plastik. „Gabenzaun“ nennt sich das Projekt. Es möchte Menschen mit wenig Geld unterstützen. In der zweiten Box liegen ein paar Tüten Weingummi, die anderen Gabenkisten sind leer. In der Hecke am Zaun hängt ein halb gegessenes Dürüm. Eine dicke Fliege nimmt darauf Platz und leuchtet wie ein Smaragd. Als ich das Insekt beobachte, kreuzt hinter mir ein alter Mann auf dem Fahrrad. Vier vollgestopfte Taschen hat er sich rechts und links über den Lenker gehängt, so dass er kaum die Kurve kriegt, um im Vorbeifahren unauffällig in alle orangen Boxen zu schielen. Ich möchte zur Seite ausweichen und bringe ihn gerade damit ins Straucheln.

Wir schieben sein Fahrrad zu der Bank mit der Zeitung neben dem Standbild. Ich frage, ob er sich wehgetan hat, er lächelt. Nimmt sich einen Teil der Zeitung, hält ihn falsch herum, während er ihn betrachtet. Ich frage ihn danach, aber er scheint gar kein Deutsch zu verstehen. Oder er möchte heute nicht. Kein Wunder bei diesen Schlagzeilen. Dann blickt der alte Mann in die Baumkronen, auf die vielen Tauben und fängt an, aus der Titelseite des Lokalteils, einen Hut zu falten.

Ich sehe ihm zu, zuerst irritiert, dann denke ich an das Kinderlied, das meine Großmutter mir beigebracht hat. Man kann es beim Hütefalten singen.

Een, twee, drie, vier,
hoedje van, hoedje van
Een, twee, drie, vier,
hoedje van papier.

Der alte Mann mit dem Fahrrad hat seinen Zeitungshut fertiggestellt. Er klemmt ihn unter den Arm, steht auf und marschiert entschlossen über den kleinen Platz. Tauben flattern auf. Der Mann klettert auf den Sockel der Statue und setzt der steinernen Frau den dreieckigen Hut auf den Kopf. Sie ist jetzt vor dem Vogelkot geschützt.

Es gibt eine Geschichte zu dem Kinderlied. Als Belgien sich 1830 von den Niederlanden unabhängig erklärt, schickt der Norden Soldaten, um die Abspaltung zu verhindern. Der Befehl zum Abmarsch kommt plötzlich und das Heer ist schlecht ausgestattet ist. Anstelle von Helmen müssen einige Infanteristen Papierhüte tragen.

Heb je dan geen hoedje meer
maak er een van bordpapier

Heute soll so ein Hut in einem Museum stehen. Wahrscheinlich irgendwo in Flandern oder Limburg. Ich stelle mir vor, dass er als Leihgabe in einem Glaskasten in Düren zu finden ist. Im Papiermuseum. Dort gehe ich hin.

Als het hoedje dan niet past,
zet het in de glazenkast.

Bevor ich das Papiermuseum erreiche, komme ich zu einer Wassermühle neben dem Studio von Radio Rur. Auf der breiten, grünen Promenade, die hier verläuft, wachsen große Blüten, die aussehen wie buntes Krepp. Ein Punker-Pärchen, das mit seinem Hund unterwegs ist, pflückt sie, um sie sich gegenseitig ins blaue und pinke Haar zu stecken. Auch der Hund bekommt eine. Während ich dem Plätschern an der Wassermühle zuhöre, beginne ich, eine Litfaßsäule zu betrachten. Kulturveranstaltungen, die es in diesem Frühjahr nie gab, bleichen hier aus. Wie alte Haut pellen sich die Plakate von Abi-Feiern von der Säule ab. ABIKEA – 13 Jahre ohne Gebrauchsanweisung. Bacabi – 12 Jahre Rum. Um die Ecke, vor Domino’s, nimmt ein Pizzabote sich schwitzend den Helm ab, obwohl es gleich regnen wird. Im Schatten der Reste der Dürener Stadtmauer, sitzen drei junge Männer im Schneidersitz und blicken in den Himmel. Sie bleiben trotzdem sitzen und bieten mir Blättchen an. Ich sage, dass ich nicht rauche. Aber trotzdem gerne eins hätte.
„Wozu?“
„Ich möchte probieren, mir einen Hut zu falten.“

Een, twee, drie, vier. Vor dem eleganten, in den weißen Stein gefalzten Eingang des Papiermuseums setze ich mich neben die Männer und falte. Natürlich gelingt es mir nicht. Ich bin kein Weltenfalter. Ich denke an meine Großmutter. Wir haben das Lied von dem Hut einmal gesungen, als sie mit mir auf den Markt gegangen ist. Sie hatte eine Einkaufsliste dabei und ich hatte den Auftrag, die einzelnen Dinge an den Ständen zu besorgen.

  • 1 kilo spinasi
  • 2 kilo aardappelen
  • 3 gerookte makrelen
  • 1 pond oude kaas

Wenn die Welt immer unverständlicher wird, dann helfen dir Listen. Sie helfen dir, wenn du ein kleiner deutscher Junge bist, der auf dem Markt in Holland Besorgungen machen soll. Sie helfen dir, wenn du eine dement werdende alte Frau bist, deinen Tag zusammenzuhalten. Sie helfen dir, das Chaos zu ordnen, egal wer du bist.

Woraus man sich Hüte falten kann:

  • ein geschenktes Zigarettenblättchen
  • die Titelseite einer Lokalzeitung mit Hiobsbotschaften
  • ein historischer Stadtplan
  • das Plakat der Abiturfeier eines Gymnasiums
  • der Flyer für eine Anti-Falten-Behandlung
  • die To-do-Liste für dieses Frühjahr

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Haiku-Versand

Vielen Dank für Eure netten E-Mails. Die ersten vier Gedichte sind in der Post. Sie gehen an:

Elisabeth aus Aachen
Anja aus Münster
Stefan aus Dortmund
Regina aus Aachen

Sieben weitere Gedichte sind bestellt und werden in den nächsten Tagen versandt. Einige Haiku und Tanka warten aber noch auf eine Empfängerin oder einen Empfänger. Dieses hier zum Beispiel:

Möchtest Du auch ein Kurzgedicht zu einem Ort in der Region Aachen per Post bekommen? Folgende Gedichte sind noch zu vergeben:

  • A44, Immerath (alt), (1 Haiku, 1 Tanka) [beide bereits bestellt]
  • Carl-Alexander-Park, Baesweiler (1 Tanka) [bereits bestellt]
  • Kosmetikladen, Düren (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Langweiler, Niedermerz/Aldenhoven (1 Tanka) [bereits bestellt]
  • Rurtalradweg, Kreuzau (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Spargelfeld, Merzenich (1 Tanka) [bereits bestellt]
  • Sportplatz, Jackerath (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Wassersportsee, Zülpich (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Wilhelmina-Turm, Vaals (1 Haiku, erhältlich auf Niederländisch und Deutsch) [beide bereits bestellt]

Wenn Du gerne eines dieser Kurzgedichte haben möchtest, schick mir Deine Adresse mit einem Hinweis zum Text Deiner Wahl an: schreiber@regionaachen.de

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Möchtest Du Post bekommen?

Gerne schicke ich Dir eine Karte! Such Dir einen Ort aus (siehe Liste unten) und ich sende Dir einen Umschlag mit Deinem persönlichen Text von dort.

Die Auflage ist limitiert – jeden Text gibt es nur einmal. Er hat die Form eines japanischen Kurzgedichts (Haiku oder Tanka) und greift Eindrücke vor Ort auf. Bisher sind 21 solcher kurzen Texte/Karten entstanden, jeweils an einem anderen Schauplatz in der Region Aachen. Ab Freitag versende ich zwei Wochen lang jeden Tag einen davon per Post an die erste Bestellerin oder den ersten Besteller. Gratis natürlich.

Möchtest Du Dein eigenes Haiku oder Tanka geschickt bekommen? Dann schreib mir Deine Adresse mit einem Hinweis zum Text Deiner Wahl an: schreiber@regionaachen.de

Hier die alphabetische Liste der 21 Kurzgedichte nach ihren Schauplätzen:

  • A44, Immerath (alt), (1 Haiku, 1 Tanka)
  • Änderungsschneiderei, Düren (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Buchhandlung, Kreuzau (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Buslinie 52, Aachen (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Carl-Alexander-Park, Baesweiler (1 Haiku, 1 Tanka) [Haiku bereits bestellt]
  • Elisenbrunnen, Aachen (1 Tanka) [bereits bestellt]
  • Good Morning Vietnam (Imbiss), Aachen (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Hochsitz (A44), Jülich (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Kosmetikladen, Düren (1 Haiku)
  • „Lago Laprello“, Heinsberg (1 Tanka, erhältlich auf Niederländisch und Deutsch) [NL bereits bestellt]
  • Langweilerstraße, Niedermerz/Aldenhoven (1 Tanka)
  • Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen (1 Haiku, 1 Tanka) [beide bereits bestellt]
  • Rurtalradweg, Kreuzau (1 Haiku)
  • Spargelfeld, Merzenich (1 Tanka)
  • Spiel- und Grillplatz, Gey/Hürtgenwald (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Sportplatz, Jackerath (1 Haiku)
  • Wassersportsee, Zülpich (1 Haiku)
  • Wilhelmina-Turm, Vaalserberg (1 Haiku, erhältlich auf Niederländisch und Deutsch)

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Tod in Euskirchen

In seinem Euskirchener Atelier in der Kölner Straße – hoch, chaotisch und kalt wie eine Kfz-Werkstadt – sitzt Rüdiger, graues, dichtes Haar, Bart, prägnante Wampe, an einem langen mit Katalogen und Zeitschriften voll beladenem Tisch und denkt nach. Vor ihm ein dampfender Blumenkohl, er beißt in ein Röschen und sein Gesicht verwandelt sich in ein gefrorenes Lächeln, das am liebsten weinen will.

Rüdiger A. Westphal Foto: Anton M. Holzhammer

Vierzig seiner Freunde aus der ganzen Welt, die bei ihm in dem Ausstellungsraum hinter dem Atelier im perfekt aufgeräumten Dreieckparadies aus Glas, eine Art Bühne für zeitgenössische Kunst, in den letzten 35 Jahren ausgestellt haben, seien inzwischen „weg“, sagt er.

„Wie weg? Wohin weg?“, frage ich, sein Gast, dem er sein Leben in den nächsten drei Tagen wie auf einem Teller serviert.

„Einfach weg! Nicht mehr unter uns… Alle tot!“

Tatorte: Amok im Gerichtsaal, Schüsse in der Kirche

„Alle tot“ seien auch die Opfer im Gerichtsaal um die Ecke gewesen, als ein Bus-Fahrer sein Urteil ’schuldig’ nicht annehmen konnte und eine Bombe gezündet hatte.

„Ein Ehedrama mit fatalen Folgen…“, meint Rüdiger, und zeigt mir als Erstes den „Tatort“, ein unscheinbares Gebäude aus Ziegel mit unebenen Fugen, ein paar Meter entfernt vor seinem Atelier.

Der Attentäter habe „auf einen Schlag“ seine Partnerin, den Richter, zwei Anwälte und drei weitere Opfer mit in den Todgerissen. Das habe damals ganz Deutschland erschüttert, erzählt Rüdiger.

Und dann noch der Anschlag in der Kirche ganz nah an seinem Atelier. Am hellichten Tag habe eine „verrückte, an Wahnvorstellungen leidende Polizistin“ eine „fromme unschuldige Frau“ vor dem Altar erschossen.

Die Schüsse klängen noch immer in seinen Ohren. Die Kirche musste neu geweiht werden.

Foto: Rüdiger A. Westphal

„Oh, Gott…“, höre ich mich flüstern. Ich hoffe, aus Euskirchen heil zurück nach Hause zu kommen…

Kurdischer Hundertmeter

Ich verkrieche mich in mein Zimmer. Warum hängen in diesem Zimmer, das Rüdiger an Gäste wie mich vermietet, die Fotos seiner toten Eltern? Der Vater in Uniform, jung, dünn, selbstbewusstes Lächeln, blickt von einem großen Schwarzweißfoto neugierig auf mich und auf ein kleines verblasstes Foto mit einer pummeligen Frau in weißer Schürze hinab. Wohl Rüdigers Mutter.

Ich schreibe gegen die Angst bis ich Hunger bekomme.

 Als es dunkelt, laufe ich die Fußgängerzone entlang, höre meine Schritte. Totenstille. Ich blicke auf die Uhr: 20.55. Von Weitem ertönen Männerstimmen. Junge Männer mit dunklem Haar und engen Jeans sprechen laut, lachen, gehen an mir vorbei. Ich schiebe die Hände noch tiefer in die Tasche. Ich will zurück in mein Zimmer, vielleicht noch schnell etwas in einem Supermarkt besorgen, schaue links, rechts, keine Ahnung, wo und ob irgendwas hier in der Provinzstadt noch offen hat. Noch ein Mann springt aus dem Haus, einer um die 40, er scheint nett zu sein. Ich frage ihn, ob er wisse, ob ein Supermarkt in der Nähe noch offen habe. Er überlegt kurz, „Ja, Netto“, meint er, 100 Meter von hier, er gehe auch in die Richtung, könne ihn mir zeigen.

Wo ich her komme, will er nach drei Schritten wissen. „Köln“, sage ich.

„Und original?“

„Sarajevo!!“

„Sarajevo? Bosnien?“, fragt er. „Ja“, sage ich.

Er aus der Türkei, Kurde, zwanzig Jahre Euskirchen.

Ich nicke.

„Gute Stadt!“ sagt er. „Euskirchen, seine Heimat!“ Ihn kenne jeder hier!

„Ja, aber ich sehe keinen ‚Netto’, keinen ‚Penny’ oder ‚Rewe’“.

„Gleich da“, meint mein Begleiter.

Wir laufen jetzt über den Marktplatz. Er will mit mir in eine Gasse abbiegen. Ich bleibe stehen.

„Penny? Netto? Rewe? Wo ist hier der Supermarkt?“, frage ich.

„Hundert Meter sind schon längst um! Oder haben sie vielleicht tausend Meter gemeint?“

„Hundert Meter, ja hundert“, sagt er.

Er rechne aber „ein bisschen anders…“

     

„Sehr nett… aber sie müssen mich wirklich nicht weiter begleiten…“, versuche ich ihn höflich los zu werden.

„Kein Problem“, sagt er, er gehe auch in die Richtung, mache abends ein paar Runden, damit er besser schlafen könne. Wenn ich etwas bräuchte, könne er mir gerne helfen, sein Kühlschrank sei voll.

„Nein, ich brauche nichts, Danke…“ sage ich und bleibe vor einer türkischen Imbissbude stehen, die noch geöffnet ist.

Lahmacun tropft

Der Kurde steht neben mir. Ich bestelle ein Lahmacun und drehe ihm demonstrativ den Rücken zu. Er entfernt sich zwei Schritte und fängt an, zu telefonieren. Ich ziehe auch mein Mobilephone aus der Tasche, tippe, checke meine Klicks im Internet, lächle sie an, sie steigen.

Ich scrolle über meinen kleinen Monitor, auf Youtube spielt ein Akkordeonspieler zwischen tanzenden Menschen. Vor mir steht mein Lahmacun in Alufolie gerollt. Mein Kurde ist weg.

„Gott sei Dank!“, denke ich mir und setze mich auf den Stuhl vor dem Imbiss und kaue das zähe Stück ganz langsam. Aus der Folie tropft es. Mein Nachbar, ein deutscher Mann mit einem rundem Bauch und Glatze, vor dem ein großer Teller Kebab mit Pommes steht und direkt daneben ein Tablett mit tanzenden, bunten Streifen liegt, gibt mir wortlos seine Serviette und isst weiter, mit der Gabel in der rechten Hand bohrt er im Kebab, mit der anderen tippt er auf das Tablet.

„Suppen Kirche“

Am nächsten Morgen schaut mich im Spiegel mein von Albträumen zerknittertes Gesicht an, die Sonne scheint; Rüdiger, mein freundlicher Gastgeber, will mir noch ein paar „verborgene Schätze“ seiner Stadt zeigen. Als Erstes bringt er mich in die „Suppenkirche“ der Evangelischen Gemeinde.  Als ehrenamtlicher Mitarbeiter unterrichte er hier arabische Flüchtlinge in Deutsch. Er esse jeden Donnerstag hier in der Kirchenküche mit seinen Kollegen und den Hilfsbedürftigen der Stadt.

„Suppen Kirche“, jeden Donnerstag

Die „Suppenkirche“ sei nicht nur für arme Leute gedacht, auch die einsamen Menschen, egal ob alt, jung, arm, krank, gesund, Frau oder Mann – alle seien willkommen, sagt Corinna Raitz von Freutz, eine höfliche Frau in den 40ern, die sich als Koordinatorin von drei weiteren Kirchenprojekten vorstellt, mich zum Essen einlädt und mir erzählt, dass sie sich gerade von ihrem adligen Mann trenne.

  

Im „Raum der Stille“, ein Stockwerk höher, fängt mein Magen an, die Suppe mit Wienerwurst zu schleudern, bevor ich versuche, in eine Meditation zu versinken. Plötzlich erscheint vor meinen Augen die verrückte Polizistin, die Amok in der Kirche wegen abgesetzten Tabletten für ihre Schilddrüse lief. Ich renne auf die Straße.

Straßenkunst

 Mit dem blauen Golf von Rüdiger kurven wir um Figuren aus verwittertem Holz, die mitten im Kreisverkehr aufgestellt sind. Kunstwerke in verblassten Farben, ernste Gesichter, in Gedanken versunkene Passanten, apathische Blicke, eine Frau auf dem Fahrrad, vielleicht eine Kurierin mit schlechten Nachrichten?

   

Auf der Wiese gegenüber ein Windspiel, ein Kunststück aus tausend und einem fliegenden Auge mit dem Titel: „Augenblicke“ von einer gewissen „Frau Krieg“, die wie Rüdiger mir erklärt, ihren Namen abgegeben habe für einen „besseren“. „Frau Frieden“ heiße sie nun.

    

Diese Werke und auch ein großer runder Stein, das Kunstrück eines französischen Paares vor dem Euskirchener Gerichtssaal, dem Tatort, sei auch ein bisschen ihm zu verdanken und seinem Förderverein, der dieses Jahr 35-jähriges Jubiläum feiere, erzählt Rüdiger.

Vereinigt in den Tod

Wir fahren an der Zuckerfabrik mit dem penetranten Zuckerüben-Geruch vorbei und biegen auf eine Wiese ein. Rüdiger schaltet seinen Motor aus. Wir stehen vor einem Zaun, hinter dem sich ein kleiner, privater Friedhof versteckt, den angeblich nur Rüdiger und noch jemand anderes kenne. Ein paar Grabsteine mit verblasster jüdischen Schrift, am Boden ein paar frisch aufgestellte rote Plastikkerzenständer mit halb abgebrannten Kerzen.

„Die werden fast jeden Tag erneuert“, flüstert Rüdiger, obwohl das keine „jüdische Sitte“ sei.

Als junger Mann habe Rüdiger sich einen Juden als Freund oder Nachbar gewünscht. Er sei dabei immer traurig gewesen. Er müsse jeden Tag daran denken, was die Deutschen mit den Juden in Euskirchen gemacht haben. Ich schweige und fotografiere. Er fährt mich danach weiter durch die Siedlung. 800 Meter weiter erreichen wir den Hauptfriedhof; da müsse er mir „noch etwas sehr Spannendes unbedingt“ zeigen: Zwei Denkmäler, eines mit Wörtern in polnischer Sprache, das andere mit russischen, kyrillischen Buchstaben und einem großen roten Stern: eine Art Massengrab und Gedenkstätte für die gefallenen Soldaten und Zwangsarbeiter zwischen 1939 und 1945, erfahre ich.

  

Die Gedenkstätte habe er erst gestern entdeckt, als er seinen Schüler Mohammed dem einzigen, der zum Deutschunterricht gekommen sei, zu einem Spaziergang eingeladen habe, um die Stadt mit den „Augen eines Fremden“ neu zu entdecken.

Vor mir liegt ein weites Feld mit kleinen Kreuzen, auf dem grüne Rasen sprießen in regelmäßigen Abständen Mini-Denkmäler aus Beton. Auf jedem Kreuz stehen zwei Namen von gefallenen deutschen Soldaten aus den beiden Weltkriegen. Die Namen aller gefallenen Euskirchener Soldaten sind in die schwarzen Wänden der weißen Kapelle eingraviert.

     Alle sind hier unter der Erde vereinigt: die Täter und die Opfer. Die Deutschen, Russen, Polen und Juden. Der Tod, ihr Erlöser, Versöhner, Friedensengel, Ruhegeber.

Tod, unsere immer-wieder-wiederholte-sarkastische-Geschichte- unseres-Daseins-unserer-Vergänglichkeit- unsers Versagens-des-ewige-Suche- nach-Sinn- Frieden-Ruhe.

Vereinigt in den Tod

Rüdiger möchte nicht auf diesem Friedhof unter einem riesen Stein liegen, so wie er sich früher das einmal überlegt hatte. „Lieber unter einem Baum, namenlos“.

 Mit Mohammed bei Juden

Mit Mohammed sei er gestern zu dem „eigentlichen“, offiziellen, zentralen jüdischen Friedhof auch gegangen, der, wie alle jüdischen Friedhöfe in Deutschland, außerhalb der Stadtgrenze liege. Dorthin gehe ich auch jetzt mit Rüdiger, meinem freundlichen, vom Tod besessenen Gastgeber.

 

Ein frisches Grab mit einem Davidstern überrascht ihn. Gestern sei das Grab noch nicht da gewesen, sagt er, sein Gesicht ist blass, er schaut in die Weite, er verstehe das nicht, er werde es nie verstehen können, sagt er.

„Was haben sie damals nur gemacht? Es gibt noch so viel Platz hier…“.

Synagoge, ein leerer Platz

 Wieder in der Stadt. Ich bin inzwischen todmüde, mein Gastgeber bleibt zwischen zwei Häusern vor einer großen Lücke stehen. Ich verlangsame den Schritt:

Ob ich wisse, wo wir gerade ständen? fragt er. Ich sehe eine Tafel mit der Schrift:

 

„Auf diesem Platz stand die Synagoge unserer jüdischen Mitbürger…“.

Ich nicke, schweige, fotografiere und denke an Dragica, meine Tante aus Sarajevo, die mir die einzigen großen Puppen meines Kinderlebens geschenkt hatte.

Bevor sie meinen Onkel heiratete, hieß sie Greta Sternberg. Ihr Vater war ein reicher, jüdischer Industrieller aus Wien, der nach Sarajevo wegen seiner großen Liebe, ihrer Mutter, gekommen war.

Kurz vor der Besetzung Sarajevos durch die Nazis hat sie meinen Onkel geheiratet und den Namen gewechselt. Unter dem neuen Namen, dem Namen meiner Familie, haben sie und ihre zwei Neffen, die eine kroatische Familie in Dalmatien versteckt hatte, überlebt. Der Rest ihrer Familie ist in Jasenovac, dem kroatischen Konzentrationslager, ermordet worden.

Ihr Sohn, mein Lieblingsonkel, ist als Einziger während des Jugoslawienkrieges in Sarajevo geblieben und hat die belagerte Stadt mit seinem Sohn bis zum letzten Tag verteidigt.

Rüdiger versucht die  Schriftzeichen mit meiner Hilfe zu entziffern. Als Elfjähriger sei er nach einer Vorführung des Films „Die Befreiung von Dachau“ mit Tränen aus der Schule nach Hause gerannt und habe seine Eltern angeschrien:

„Was habt ihr im Krieg gemacht? Wo seid ihr gewesen? Warum habt ihr das ganze zugelassen? Was genau war mit den KZ?“

Sein Vater sei rot im Gesicht geworden und die Mutter ganz still:

„Wir haben es nicht gewusst!“, haben sie zu ihm gesagt.

Ihm sei ihre Antwort peinlich gewesen, sagt er, er habe sich für sie geschämt, danach habe er ihnen kein Wort mehr geglaubt.

Rumänischer Tango

 Am nächsten Tag wecken mich die Kinderstimmen aus der benachbarten Schule, in der Rüdiger als Kunstpädagoge bis zu seiner Pensionierung gearbeitet hat. Der penetrante Geruch der Zuckerrüben treibt mich aus dem Bett. In der Fußgängerzone suche ich ein nettes Café und stoße auf einen Akkordeonspieler mit einem grauen Hütchen und fröhlichen Lächeln.

Tango in Euskirchen – mit Konstantin aus Düren

Er spielt leicht, leidenschaftlich, humorvoll. Balkanblues, Balladen, Tango… Er tanzt, ich knipse. Er lächelt, ich suche nach kleinem Geld in der Tasche. Er steht auf, beugt sich vor, sagt, Musik sei sein Hobby, er spiele aus Spaß, auch ohne Geld. Er trifft jede Note, macht den Passanten Laune, sie belohnen ihn sofort. Einer in einem schmalen Anzug schmeißt einen Schein in die kleine Dose in Herzform. 20 Euro. Und verschwindet in der Masse.

Mein Akkordeonspieler zieht die Augenbrauen hoch. Sein Name sei Konstantin, sagt er und spielt weiter, jetzt seine eigene Improvisation. Er komme aus Bukarest, „sieben Jahre Deutschland“, erzählt er und spielt weiter. Er arbeite in Düren am Bahnhof, „helfe armen Leuten“. Es sei nur ein Ein-Euro-Job. Die Improvisation ist schön, leicht, rhythmisch.

Nach noch zwei weiteren improvisierten Melodien schaut der fröhliche Rumäne auf die Uhr, packt sein Akkordeon ein, klappt den Sitz mit den drei Beinen zusammen und steckt die Dose in Herzform in die Jackentasche und geht.

„Ordnungsamtsvorschriften!“, sagt er zwinkernd und verschwindet um die Ecke. Und spielt dort sofort weiter.

Video-Kunst der Inklusion

 Ich marschiere in Richtung des neuen Stadtmuseums von Euskirchen. Das hochsubventionierte Kulturhaus, in dem nur etablierte Künstler ausstellen dürfen – modern, grau, kalt – wirkt zwischen den älteren Gebäuden aus der Gründerzeit wie ein einsamer im Hinterhof versteckter Stern. Wenige Exponate der Basis-Ausstellung erzählen auf drei Etagen in weniger Strichen die lange Geschichte der Stadt Euskirchen: die große Stadt-Mauer, von der ein Teil in das Museum eingebaut ist, die Industrialisierung, Weberei und die beiden Weltkriege.

Die Stadtmauer, das Museumsexponat

Die Videoinstallationen im Museum klemmen noch wie die automatische Eingangstür, die sich nach meinem Klingeln nicht öffnen will. Heike Lützenkirchen, die neue Direktorin muss höchstpersönlich aus der 2. Etage hinabsteigen und die Metalltür eigenhändig öffnen.

Ich habe das Gefühl, in einem ungünstigen Moment gekommen zu sein. Der Videokünstler Rolf A. Kluenter steckt noch mitten in der Arbeit. Er bastelt an seiner neuen Ausstellung “Puls-Stadt-da-pocht-ein-Herz“. Die Direktorin erzählt mir leise im Stehen am offenen Fenster, dass der Künstler, „Beuys-Schüler und in der Eifel geboren“, am Euskirchener Bahnhof ein Jahr lang mit Autisten, Down-Syndrom-Kindern und anderen Bewohnern des betreuten Wohnens in Euskirchen eine „Art Inklusionsprojekt“ gemacht habe.

Flüchtlingsbaby & Mutterbrüste

Kurz vor meiner Abreise aus Euskirchen, klingele ich wieder bei Rüdiger an der Ateliertür. Ich will mehr von ihm und seinem Kunstsalon erfahren.

     

Warum wohnt er in der kalten, überdimensionierten Werkstatt mit vielen übereinander gestapelten Teppichen? In einem Atelier, wie er das nennt, das er als sein Büro, als seine Küche, sein Esszimmer, seine Bibliothek, sein Archiv und manchmal, wenn die Gäste kommen, auch als sein Schlafzimmer benutzt?

Geboren wurde Rüdiger A. Westphal  1944 in Ostpreußen. Zwischen Posen und Danzig habe er als Flüchtlingsbaby, alle „Strapazen des Krieges“, Kälte, Hunger, Bomben, Flucht überlebt.

„Halbtot!“.

Nur „dank dem Mut und Klugheit seiner Mutter“ sei er überhaupt hier. Sie habe ihn – „damals ein hungriger Wurm“ – zwischen ihren Brüsten versteckt. Eine nette niedersächsischen Familie, die seine verzweifelte Mutter in einer eisigen Nacht aufgenommen habe, habe ihn, das „blaue Stück Eis“, sofort in warmes Wasser eingetaucht und so zurück ins Leben geholt.

         

Seine Familie habe nach dem Krieg eine neue Bleibe in Wilhelmshaven zugewiesen bekommen, aber da habe er sich immer als Flüchtling gefühlt.

„Nie dazugehörig“.

Das sei heute noch so.

„Schmutzige Wäsche“

Rüdiger sei froh, wieder alleine zu leben, sagt er. Er kümmere sich ein bisschen um die Enkelin seiner Ex, einer Russin aus Petersburg, die vor 13 Jahren zu ihm mit ihrer siebenjährigen Tochter gezogen sei. Das Kind, das ohne Vater aufwuchs, sei nicht schuldig und solle nicht das gleiche Schicksal erleiden wie ihre Mutter, seine Ex.

Seine russische Stieftochter habe nun auch ein Kind bekommen, das sie ohne Vater auf die Welt gebracht habe.

„Das Leben ist ein unendliches Wiederholen, eine sehr schlechte Kopie der Kopie“.


Ihn, „den Überlebenden aller Krisen“, interessiere heute nur noch die Kunst. Die Originale. Auf seinem Tisch im Atelier liegt ein dickes Din-A-4 Buch mit beigen, groben Blättern, voll gefüllt mit Danksagungen und Widmungen, Zeichnungen und Farben, eine Installation an sich. Auch an den Wänden seiner Wohnung, sogar im Badezimmer und auf der Toilette hängen die Kunstwerke seiner Künstlerfreunde aus der ganzen Welt. Die meisten von ihnen seien jetzt „unter der Erde“, wiederholt er mit gedämpfter Stimme.

Nun sei auch er müde. Als er mit seinen Künstlerfreunden aus der Eifel 1982 sein FzKKE , den „Förderkreis zeitgenössischer Kunst Kreis Euskirchen, e.V“, eröffnet habe – „eine Art Kunstsalon“, wollte er nicht nur Künstler aus der ganzen Welt zum Spielen, Experimentieren, Fantasieren verführen, sondern auch die Euskirchener und die Ämter begeistern. Leider sei sein Verein „das Stiefkind der Stadt“ geworden, habe viele Neider und wenige Unterstützer. Alle diese Jahre habe er alleine das „zarte Kind“ gefüttert und Künstler von „überall her einfliegen lassen“. Sie konnten bei ihm wohnen, essen und Kunst machen.

Gerade stellt bei ihm ein Franzose aus. Die Ausstellung heißt: „ Schmutzige Wäsche“ . Die Presse sei dieses Mal erst gar nicht gekommen und nehme das wohl nicht ernst. Darüber müsse man sich nicht wundern, sagt er resigniert. Jeder habe zu Hause genug eigene schmutzige Wäsche…

Mehr von Slavica Vlahovic

Gegen den Strom

Folge 2: Eine Frau in Männerwelten

Das Foto zeigt eine Frau neben einem Aufsteller mit der Aufschrift"Hier Strom tanken! Natürlich, Unabhängig, Preiswert"Sie hat blondierte Dreads, sie trägt einen Rock am Ring Pulli und sie lacht. Das ist Christina Denesiuk. Die 26-Jährige ist nicht wie die meisten Mädels in ihrem Alter. Sie hat schon früh gewusst, was sie will, sie steht unter Strom: Christina Denesiuk ist Elektroinstallateurin.

„Ich war schon in der Schule anders als die anderen“, erzählt Christina und erinnert sich noch gut an ihre Zeit auf der Mädchenschule in Düren. Die meisten ihrer Mitschülerinnen gingen im Anschluss studieren. Christina machte erst einmal ein Freiwilliges Soziales Jahr im Jugendheim. „Ich wurde dort zu so etwas wie einem Hausmeister“, sagt sie. Mal eine Glühlampe wechseln; mal einen Raum neu streichen. „Handwerkliches hat mir schon immer gelegen.“ Und schließlich war er da, der Wunsch, so etwas dauerhaft zu machen. Christina wollte zunächst für ein paar Wochen ein Praktikum bei einem Elektroinstallateur machen. Doch es gab ein Problem: Die meisten Betriebe hatten keine Damentoilette! Naja, fast alle – außer die Fassbenders. Sie luden Christina zu einem Vorstellungsgespräch ein und anstelle eines Praktikums wurde ihr eine Ausbildungsstelle angeboten. Christina war damals 19. „Meine Mutter sagte: Mach das nicht, geh studieren!“, erzählt Christina. „Aber ich wollte nicht. Ich wollte genau das hier.“ Eben Elektroinstallateurin werden. Heute trägt Christina auch die klassische schwarze Handwerkerhose mit den großen Taschen. Was denn da so drin sei? Ein Bleistift zum Anzeichnen, ein Zollstock. Christina tastet noch mal nach. Eine Spitzzange – ja, das war’s. Diese Gegenstände trägt sie immer bei sich – wie ihre Piercings in Mund, Wange und Nase.

Das Foto zeigt mehrere aufgewickelte KabelIhre Ausbildung hat sie sogar verkürzt. Es sei trotzdem nicht immer einfach gewesen: „Ich war hier immerhin die erste Frau, die mit auf die Baustelle gefahren ist.“ Aber das war es nicht nur. Christina hatte es nicht nur schwieriger, weil sie eine Frau war, sondern auch, weil sie eine bessere Schulbildung hatte als viele andere. „Das gefiel manchen nicht!“ Heute weiß Christina wie sie mit männlichen Provokationen auf der Baustelle umgehen kann: „Meist schalte ich auf stur, das prallt dann an mir ab.“ Die Kollegen in ihrem Betrieb tolerieren sie inzwischen vollkommen. Handwerker anderer Betriebe seien manchmal weniger offen. „Handwerk ist leider immer noch sehr männerdominiert.“ Klar sei so ein Wanddurchbruch nichts für schwache Nerven. „Na ja, dafür brauche ich eben kein Abo im Fitnessstudio!“

Doch auch Christina hatte eine Zeit, in der sie sich nicht sicher war, ob der Strom das Richtige für sie ist. Nach ihrer Ausbildung im Betrieb Fassbender entschloss sie sich dazu, eine zweite Ausbildung zur Informatikkauffrau zu machen. Dort arbeitete sie meist im Büro; reparierte Drucker und übernahm „reichlich PC-Kram“. Die Ausbildung hat sie zwar auch abgeschlossen. „Aber dafür gebrannt habe ich nicht!“ Rückblickend vergleicht sich Christina mit einer Pflanze: „Die trockene Büroluft hat mich total eingehen lassen.“ Deshalb kehrte sie nach der Ausbildung in den Betrieb der Fassbenders zurück und macht nun ihren Meister.

Inzwischen darf Christina Häuser schon komplett alleine installieren. „Wenn ich fertig bin und es funktioniert, dann hüpfe ich auch gerne mal über die Baustelle“, sagt sie. Das erfreue immer die ganze Mannschaft. „Ich stehe endlich wieder unter Strom.“ Christina Denesiuk hat ihre Leidenschaft gefunden: Nicht gegen, sondern für den Strom!

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Sag es mit Papier

Folge 7: Zwischen Kunst und Tradition

Das Foto zeigt den Innenhof eines Schlosses

Keine Schreibtische voll mit losen Zetteln, keine Klausurbögen, die in Einzelarbeit gestempelt werden müssen, kein Passierschein-A38 mehr beim Amt – wäre es nicht schön, ein Leben ohne Papier? Doch mal ehrlich, hätten brillante Theorien der Mathematik oder Literaturklassiker ohne ihre Verschriftlichung überhaupt entstehen können? In der Region gibt es eine Stadt, die dies energisch vertreten würde: Düren! Die Hochburg des Papiers feiert dieses Jahr 30-jähriges Bestehen der IAPMA.

Die IAPMA – International Association of Hand Papermakers and Paper Artists – ist die größte Organisation für Papierkünstler weltweit. Sie wurde 1986 in Düren gegründet und setzt sich für den Dialog zwischen den Papierkünstlern ein. Insgesamt sind rund 460 Künstler aus rund 35 verschiedenen Ländern in der Vereinigung vertreten.
Vor dem zweiten Weltkrieg sind in Düren rund 50 verschiedene Papierbetriebe ansässig gewesen. Heute sind es zwar nur noch rund zehn Betriebe, aber Düren gilt durchaus noch als ein Zentrum der Papierherstellung in Deutschland. Und auch die Bürger setzen noch sich für das Schrift- und Werkstück ein. Einer von ihnen ist Pit Goertz. Der gelernte Bildhauer hat sich schon in seinem Grundstudium mit Papiertechnik auseinandergesetzt und ist seitdem dem Papier und vor allem der Kunst mit dem Werkstoff verfallen.

Das Foto zeigt einen Älteren Herrn mit Kunstwerken aus Papier

„Ich habe vom damaligen Kulturdezernenten den Schlüssel für die Burganlage bekommen und er sagte zu mir: Mach was draus!“ Das war 1988. Und seitdem hat Goertz sein bestes Gegeben. Mit Geldern der Stadt und Spenden hat er Burgau Stück für Stück restauriert und wiederbelebt. Heutzutage finden rund 180 Veranstaltungen im Jahr vor Ort statt. Ob Trauungen, Theaterspiele oder Ausstellung – Schloss Burgau soll Raum für Leben, Kunst und Kultur bieten, findet Goertz.

Ein Projekt, das ihm besonders am Herzen liegt, ist die Ausstellung „Geheimis Papier“. „Das Papier ist einfach eine Tradition für Düren!“, sagt er. „Ich möchte, dass diese nicht verloren geht.“ Mit der Ausstellung, die in diesem Jahr vom 9. Oktober bis zum 13. November 2016 auf Schloss Burgau stattfindet und dem 3. Papiertheatertreffen, möchte Goertz deshalb ein Zeichen für die Papiertradition der Region setzen. „In der Ausstellung wird Papierkunst von regionalen und euregionalen Künstlern gezeigt“, sagt Goertz. Zum Abschluss der Ausstellung findet dann am 13. November das Papiertheatertreffen statt.

Auch er hat einen Beitrag für die Ausstellung: „Ich habe seit dem 1. Januar daran gearbeitet.“ Goertz öffnet einen alten Eichenschrank in seinem Büro auf Schloss Burgau; stellt einen Stapel Pappmasche-Teller auf den Tisch, bückt sich wieder, stellt noch einen Stapel Pappmasche-Teller auf den Tisch, bückt sich wieder… 80 Stück hat er insgesamt gemacht. Aus Kleister, Zeitungsausschnitten, Zeitschriften und Werbebroschüren. Mal ziert der Papst, mal ein Politiker oder das Gemüseangebot vom Supermarkt, die Mitte seiner 80 Werke.

Das Foto zeigt Pappmasche Teller mit Bildern aus Zeitungen

Verwirrend, vieldeutig und vermischt – Goertz mag das. „Auch bei der Ausstellung zur visuellen Poesie, die ab September durch die Region ziehen wird, erlebt man diese Vielschichtigkeit“, sagt der Künstler. Er wird am 2. September die Eröffnungsrede der Ausstellung an der VHS in Aachen halten.

 

 


Veranstaltungshinweis: Visuelle Poesie

Bild zeigt ein Plakat zur Veranstaltung VISPO AHOY

Ob Poesie, Schrift oder Kunst – Goertz findet, dass aus jedem Stückchen Papier etwas Neues entstehen kann: „Altpapier? Kenn ich nicht!“ Den Zettelkram vom Schreibtisch und selbst den Passierschein A38 vom Amt verarbeitet er einfach. Er macht daraus Kunst!

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