Der Wald

Mir ging’s tatsächlich nur darum, dass die Kinder mit in den Wald können. Auch zur Corona-Zeit. Einmal die Woche. Wir machen hier 120 Waldführungen im Jahr. Und bis zum Sommer sind die natürlich erstmal alle abgesagt. Ich hab ja selbst drei Kinder zuhause und erleb´, wie die sich mühen, diese Zeit zu überstehen. Und da hab ich gedacht: Wie krieg ich vielleicht stattdessen den Wald zu denen?
So kam die Idee. Ich hab jetzt nicht das tollste Handy. Aber eins, was Filme macht. Und ich hab nen Schwager in Hamburg, der ist professioneller Filmemacher. Der dreht – wat weiß ich, wat der dreht: Werbefilme auf der AIDA, Bandvideos, der kann alles. Ich sag: Torben, pass auf, was kost’ das? Wenn ich dir die Aufnahmen schicke und du schneidest die und du sagst mir, dass ich ein schlechter Filmemacher bin, und dann sagst du mir, wie es richtig geht. Nenn mir den Preis! Aber bitte, mach keinen Schwager-Kurs.
Sagt er: Pass auf, mach erstmal ein paar Aufnahmen. Und dann schick mir das. Und dann kam direkt: So geht das nicht.
Du musst mit ´nem Konzept anfangen.
Du musst ´nen Spannungsbogen aufbauen.
Das entscheidende ist der Vorspann. Und der Abspann.
Und denk dran, dass du nicht bei jeder Szene ´nen anderen Pullover anhast! Da werden die Leute ja irre, visuell. Boah.
Und dann musste ich das lernen. So kam das.

Hannes, hampel nicht.

Im Moment brauch ich drei Vormittage, um so einen Film zu machen. Technisch geht’s jetzt schon besser. Am Anfang bin ich einfach mit dem Handy in den Wald. Da hab ich mein Sätzchen gesprochen. Und gedacht: Uh, tolle Szene. Dann bin ich zurück: Ja, warum hat der jetzt nichts aufgenommen? Bis ich mal gelernt hab, diese Einstellung zu aktivieren, dass keiner von außen ans Handy rankommt. Denn wenn einer anruft, dann bricht das ab. Das hat erstmal fünf Filme gedauert.
Und das war auch Frust! Jetzt war das so gut! Und dann musst du das nochmal erzählen! Bin ja auch kein gelernter Schauspieler. Manchmal hab ich auf die falsche Stelle in der Kamera geguckt. Manchmal darf man auch gar nicht reingucken. Bewegen muss man sich. Aber nicht zuviel bewegen! Das sind so Tipps, die man vom Profi kriegt. Was leichter gewesen wär, wär der Profi mit mir vor Ort gewesen. Dann hätte er einmal draufgeguckt und gesagt: Hannes, hampel nicht.
Immerhin, Themen hab ich genug. Denn draußen ist ja immer was los. Das Problem ist eher: Man kann ja nicht 15 Minuten da reinstellen. Da hören die Leute nicht mehr zu. Maximal 6! Als muss man sich beschränken. Wobei mich der Torben beschränkt hat. Der hat gesagt: Ich schneid´ sowieso alles weg. Also beschränk dich schon mal selber.

Checker Tobi, Checker Can, Checker Weißichnich

Jetzt ruft grad hier ´ne Kräuterpädagogin an. Die will wissen, wann wir weiterdrehen. Das muss dann nämlich alles bis Sonntag fertig sein. Damit der Torben das schneiden kann. „Stressfaktor“ ist noch ein bisschen übertrieben. Aber jetzt warten die Leute drauf. Die sagen: Dienstag, wir freuen uns schon wieder. Wenn der Film dann erst Mittwoch kommt? Da ist man plötzlich schon unter Zugzwang.
Und ich sag mal, ich weiß durch den ganzen Kram meine Rundfunkgebühren jetzt noch mehr zu schätzen. Denn klar, auf dem Level, auf dem wir das jetzt machen, geht das schon so irgendwie. Aber für den nächsten Schritt? Da bräuchte man Kamerateam und Skript und Mikro und haste nich gesehen. WEIL: Um so ´nen richtig coolen Film zu machen, wie Checker Tobi oder Checker Can oder Checker Weißichnich. Das kostet! Das ist nicht: Laberlaber, fertig. Das ist ein Aufwand. Hab ich jetzt kapiert. Klar, der Förster Hannes kann so ein bisschen dummes Zeug erzählen. Aber das ersetzt niemals eine gute Produktion.
Außerdem muss ich letztlich mit dem arbeiten, was ich so finde, ne? Und ich guck dann immer. Neulich zum Beispiel, was haben wir gehabt? Da war ein Baum, der musste weg, da waren aber Spechtlöcher drin. Hab ich gesagt: Schade, den möchtest du nicht fällen, ne? Pass mal auf, da schicken wir ´nen Kletterer rein. Der sägt den runter, bis da, wo die Spechthöhlen sind. Und da kann man auch ´nen schönen Film draus machen. Hab ich gesagt. Naturschutz und Wald.

Darfste nicht, darfste nicht

Bisschen Angst hatte ich nur vor dem Lehrvideo über Jagd. Denn klar. Da gibt’s auf der einen Seite die Jägerschaft. Auf der anderen Seite die kompletten Jagdgegner. Da sitzt man schnell mal dazwischen. Und dann die Frage: Wie kannste das in 6 Minuten überhaupt hinkriegen? Du kannst ja ÜBERHAUPT kein Thema in 6 Minuten so erklären, dass nicht wenigstens einer sagt: Da haste aber wat vergessen. Und ich wusst´ überhaupt nicht, ob ich das kindgerecht vermittelt kriege.
Aber ich glaube, es ist dann doch ganz witzig geworden. Und so, dass man zumindest eine Idee davon kriegt: Aha, so ist die Jagd, darum gibt’s die Jagd. Und dann kann man ja diskutieren.
Zumindest hab ich bislang noch keinen völligen Abriss gekriegt. Auch sonst noch nicht. Das würd´ mich natürlich schon erwischen. Ich bin ja nicht so abgebrüht. Wobei alle sagen: Darfste nicht persönlich sehen, darfste nicht, darfste nicht. Gibt immer auch Idioten, die einfach nur Idioten sind.
Im Gegenteil. Die Rückmeldungen sind meistens positiv. Und du kannst ja auch mal ´ne Frage beantworten. Aber wichtig auch, dass das nur der Blick eines Försters auf eine Sache ist, möglichst nicht zu wertend, für Kinder gedacht. Das ist der Anspruch. Dem möcht ich gerecht werden.

Piuuuh! Ein Buntspecht

Kinder sind immer Kinder. Egal, aus welchem Elternhaus die kommen. Ob die arm sind oder reich oder Migrationshintergrund haben oder ob deren Uropa schon hier war – im Wald, da sind die alle gleich. Und machen sich alle gleich gern dreckig. Wenn sie dürfen.
Und sind gleich interessiert an der Natur. Ganz oft ist es tatsächlich sogar so, dass die Kinder, die in der Schule vielleicht gar nicht so klarkommen, in den MINT-Fächern, dass die aufblühen im Wald.
Beispiel. Ich hatte ein ganz auffälliges Kind, ADHS vielleicht, man weiß es nicht. Der wurde im Wald richtig ruhig. Der wuselte zwar immer noch vor sich hin. Aber dann kam er wieder und hatte sich so einen Ring gebaut, aus ´nem Herbstblatt. Und sagt direkt, warte, ich mach noch was. Die Lehrerin wollt´ den schon einfangen, ich sag: alles gut, alles gut. Und der kam mit der nächsten tollen Idee. Waren die anderen Kinder so: DAT WILL ICH AUCH! Sagt der: Musst du so, dann musst du so – und hat denen das erklärt. Und wir stehen am Rand und sagen: Boah. Was ist mit dem Kind los, ne?
Wo wir dann feststellen: Der Lernort Draußen, das Lernen mit allen Sinnen, das fördert Kinder, die mit der Schulsituation nicht so gut klarkommen. Oh, da! Piuuuh! Ein Buntspecht.

Du machst dat schon

Wenn jetzt jemand aus Nicht-Heiligenhaus das schön findet. Der darf’s natürlich genauso gerne gucken! Aber es ging wirklich überhaupt nicht darum, bei YouTube jetzt eine Ego-Präsenz zu haben. Deswegen darf man auch nicht davon ausgehen, dass Förster Hannes jetzt der größte Wald-Influencer aller Zeiten wird. Wie jetzt Peter Wohlleben. Nicht, überhaupt NICHT so gedacht.
Und ist ja auch Blödsinn. Weil, ich halt da zwar mein Gesicht hin. Aber die ganzen Leute drum rum haben daran Minimum so ´nen großen Anteil. Die, die mitspielen, Rat geben, Ton machen, schneiden. Die sagen: Ich brauch noch was für Dazwischen, also geh mal dorthin und film mal das und das im Halblicht. WO? WAT? HALBLICHT? Genau. 
Oder auch die Kohle besorgen. Da wird ja kein Geld mit verdient. Null, null, null, null, null. Und ich werd auch nicht plötzlich Werbung für Rasierwasser machen. Wär auch komisch bei mir, ne? Nee, dat kostet. Und ich hab das Glück, dass der stellvertretende Vorsitzende von unserem Förderverein gesagt hat: Ich kümmer mich. Musst dir gar keinen Kopf drum machen. Geld ist da.
Ob das von Anfang an da war? Weiß ich gar nicht. Aber muss ich auch nicht. Weil der das eben gesagt hat. Und weil ich auch einen Bürgermeister und einen Dezernenten habe, die nicht meinen: Da guckste aber mal auf deine Überstunden. Oder denkste dran, Samstags nicht ohne Beschluss des Personalrats zu arbeiten. Sondern die sagen: Du machst dat schon.
Ich weiß auch nicht, ob´s so geniale Menschen gibt, die das alles alleine hinkriegen würden. Aber ich finde immer: Das Zusammenarbeiten im Team. Das ist so Gold wert. Sei es, dass man selber auf bestimmte Ideen kommt, sei es, dass der andere eine bestimmte Idee überhaupt erst HAT. Die hat er Gottseidank, wie schön ist das denn! Und da bin ich fernab davon, zu denken, ich bin jetzt der tolle Käse hier.

Corona-Milde

Ich stelle fest, dass man jetzt mehr Leute im Wald sieht. Und das erfreut mich. Ich entwickle sogar so etwas wie eine Corona-Milde. Denn eigentlich bin ich ja auch Polizist im Wald. Und wenn ich dann sehe, da haben jetzt so ein paar Kids eine coole Bike-Strecke gebaut, ne? Da müsste ich eigentlich sagen: Leute, habt ihr sie noch alle? Der erste, der mir da entgegenkam, war auch gleich mal noch mein Neffe.
Aber mal ehrlich. Ob die Kinder ein halbes Jahr mehr oder weniger in der Schule waren. Das merken die mit 90 doch nicht mehr! Die werden sich dran erinnern, wie bei ihnen mit der Krise umgegangen wurde. Hat uns der Förster aus dem Wald geschmissen? Oder haben wir die tollsten Bahnen gebaut?
Ich seh´ das an so vielen Enden. Sei es beim Einkaufen! Und wenn da einer dreimal länger braucht, weil er jetzt zum fünften Mal in seinem Portemonnaie … Ach komm. Lass sie. Jeder so, wie er et grade kann. Das würde ich allen Menschen wünschen.
Und der Förster versucht das, indem er sagt: Diese Bike-Strecke? Da muss ich ja jetzt nicht hingucken. Ich fahr da jetzt heute mal oben rum. Und die Natur wird sich auch davon erholen. Ganz bestimmt. Amen.

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WINNING

 

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„Nein, nein. Sie müssen da ganz anders rangehen, Frau Meyer. Wir im Reinvention Center reden nicht von weakness. Von Versagen. Von Verfall. Nein!“ Ihr Personal Improvement Adviser, kurz PIA, haut auf den Tisch. „Wir reden von marketable skills, ja? Ihre Schwächen sind Ihre Stärken, Frau Meyer. Unsichtbar ist das neue vermittelbar.“ Er fixiert etwas knapp über ihrem Kopf. Frau Meyer dreht sich um und sieht einen hageren Mann mit schulterlangem blondem Haar, der mit gesenktem Blick einen Teleprompter in die Höhe hält.
„Invisible is the new black, ja?,“ verkündet der PIA weiter. „Wer will behaupten, dass Sie keinen Wert mehr für diese Gesellschaft haben? Wer? Das ist doch unverschämt, machen Sie sich doch nicht so klein, ja?“ Ihr Personal Improvement Adviser streicht sich über seine Glatze und haut ein weiteres Mal auf den Tisch.
„Die Geisteswissenschaften mögen abgeschafft sein, aber das muss ja nicht das Ende Ihrer Karriere bedeuten, Frau Meyer. Bücher und Kunst und so sind ja schön und gut, aber wissen Sie was auch wichtig ist? Hotpants!“
„Ja?“, fragt Frau Meyer und schaut auf ihre großen Oberschenkel, die durch eine Cordjeans in Form gebracht auf der Sitzfläche des Stuhls liegen.
„Ja, Frau Meyer. Hot is the new smart. Skin over looks!“
Skin over looks? Renate Meyer dreht sich skeptisch zum Teleprompter um. „SKIN OVER BOOKS!“, steht dort in großen, selbstbewussten Buchstaben.
„Wir reden hier nicht zwangsläufig von Ihnen in Hotpants, gewiss nicht, aber profitieren wir nicht alle von Schönheit in der Welt? Ist das kein ehrenwerter Beitrag, den Sie leisten können, Frau Meyer?“ Sie nickt unsicher.
„Sie können als Personal Optimization Worker arbeiten, als POW, Frau Meyer. Sie können die Welt im wahrsten Sinne des Wortes heißer machen!“ Frau Meyer hört auf zu nicken.
„Spitze! Ich finde es spitze! Monday beginnt Ihr POW-Trainingscamp in Winning, vormals Siegen – alle Infos kriegen Sie an der Rezeption“, ruft der PIA und klatscht dynamisch in die Hände, woraufhin die Tür hinter Frau Meyer aufschwingt. Sie steht benommen auf, nickt dem Mann hinter dem Teleprompter zu und tritt durch die Tür in ihre berufliche Zukunft.
Drei Wochen zuvor wurden die Geisteswissenschaften an der Universität Siegen abgeschafft. Nach den Kirchen und Museen, hätte die Schließung der Philosophischen Fakultät keine Überraschung mehr sein dürfen. Frau Meyer war trotzdem überrascht. Einige Tage traf sie sich noch morgens mit früheren Kollegen der Geschichtswissenschaft vorm Fakultätsgebäude. Zusammen starrten sie auf die Werbetafeln, die nun ihren ehemaligen Arbeitsplatz verkleideten und lasen die Leuchtbotschaften, die dort in Dauerschleife über die Bildschirme liefen: „WIR LEBEN IM JETZT!!!“, „NEUES LIEBLINGSFACH: ZUKUNFT“, „LIEBER GESCHICHTE SCHREIBEN ALS GESCHICHTE STUDIEREN“. Sie waren ratlos. Ihre Demonstrationen blieben unbesucht, ihre handgemalten Poster sahen mickrig aus im Vergleich zu der Neonleuchtschrift, die hinter ihnen thronte, und schnell fühlten sie sich wie ewig Gestrige, wenn Studenten sie verlegen und nicht ohne Mitleid im Vorbeigehen anlächelten. Die Studenten der Geisteswissenschaften hatten die Wahl auf eines der Fächer, die es noch gab – Maschinenbau, Medizin, Mechantronik… – umzusatteln, oder eine Umschulung zum Personal Optimization Worker zu machen. Den Lehrenden blieb keine Wahl: Sie wurden in ihren Kündigungsemails gebeten, beim örtlichen Reinvention Center vorstellig zu werden.
Die ersten Wochen übte Frau Meyer ihren neuen Job aus wie in Trance. Nachdenken war ohnehin nicht gefordert, und so latschte sie wie ein Zombie mit der Heizplatte in den Händen ihrer Klientin, Princess Unicorn, hinterher, damit diese ungeachtet der Außentemperatur winzige Hotpants und Miniröcke tragen konnte. Sie betrachtete sich und die anderen Personal Optimization Worker – die beiden Texter, das Windkind, den Make-Up Artist, die Frau mit dem Teleprompter, die Parfumbeauftragte und die Beleuchterin – wie sie früher desinteressiert nach einem langen Tag eine Sendung im Fernsehen geschaut hatte. Sie sah zu, wie die POWs um ihre Klientin, „Princess Unicorn“, eine ehemalige Sozialversicherungsfachangestellte, nun Influencerin, schwirrten, sah zu, wie sie ihr Leben ausleuchteten, einparfümierten und schrieben und war sich sicher, dass das alles a) nicht wahr sein konnte und b) im Falle, dass es doch wahr war, unmöglich etwas mit ihr, Renate Meyer, zu tun haben konnte. Diese ersten Wochen, in denen sie ihr Leben wie durch eine Milchglasscheibe betrachtete hinter der alles unwirklich war, wichen ungefilterter Panik. Tagelang rang sie um Luft, und konnte kaum laufen. Am Ende dieser mehrtägigen Panikattacke, gab einer der Texter ihrer Unit ihr wortlos eine Jumbopackung Prozac mit der Aufschrift „1x täglich 40mg“.
Seitdem ist nichts mehr kompliziert. Sie ist taub, aber die Welt hat wieder Ordnung. Nach drei Monaten als Personal Optimization Worker genießt Renate Meyer beinahe, wie ihre Welt auf Grundbedürfnisse zusammengeschrumpft ist. Verdichtet zu „satt“, „ausgeschlafen“, „schmerzfrei“, „wohltemperiert“. Um so tragischer, wenn eines der Bedürfnisse unerfüllt bleibt. Vorne schwitzt sie, hinten friert sie. Wie eine lebende Glasfabrik. Einfach Siliziumoxid, Natriumoxid und Calciumoxid schlucken und kleine hübsche Kugeln ausscheiden. Vielleicht könnte das ein Nebenverdienst werden – optimization und so.
An das Gewicht der Heizplatte hat sie sich mittlerweile gewöhnt, die Hitze bleibt unerträglich. Diese neue Arbeit ist nicht einfach, aber sie ist unkompliziert. Das einzige was sie aus der Fassung bringt, sind Störungen im Tagesablauf und hartnäckige Erinnerungen an früher, die wie ein immerwährender Mückenstich durch Jucken um Aufmerksamkeit winseln. Kratzen macht es schlimmer, das weiß sie selbst. Die einzige Strategie ist, die Erinnerungen zu ignorieren und der Versuchung zu widerstehen.
Sie bleibt hinter Princess Unicorn stehen, stellt die Heizplatte ab und senkt den Blick. Princess Unicorns goldglänzenden Beine stecken heute in hohen, pink-glitzernden Stiefeln, ihre kurzen Jeans-Hotpants bedecken nur knapp ihre Pobacken – alles sieht aus wie immer, aber irgendetwas stimmt nicht. Renate Meyer lässt ihren Blick über Princess Unicorns Pelzjacke gleiten, über die winzige rote Lackhandtasche, die verloren von ihrer Schulter baumelt. Etwas fehlt. Frau Meyer wird nervös, heißer Schweiß läuft ihren fröstelnden Rücken herab. Sie konzentriert sich auf Princess Unicorns schillernde Fingernägel, die das künstliche Licht reflektieren wie die Mistkäfer vergangener Zeiten – alle Insekten außer Schmetterlinge wurden auf Wunsch der Influencer ausgerottet. Der Personal Optimization Worker, der für die Beleuchtung (Sierra-Filter wird derzeit gewünscht) zuständig ist, hat heute ganze Arbeit geleistet. Auf Princess Unicorns Wangen schimmern verschiedene Rosatöne in wohldurchdachtem Farbverlauf, sie sieht aus wie in goldenes Licht getaucht. Sie betrachtet anerkennend den Make-Up-Artist ihrer Unit, einen unscheinbaren Mann Mitte 40, der ihr vage bekannt vorkommt – vielleicht auch ein ehemaliger Dozent? Vielleicht ein Mitglied des Französischclubs oder der Elterngruppe?
Auch nach drei Monaten kennt sie die Namen der übrigen POWs nicht – wie Bekannte, die sich im Wartezimmer des Psychotherapeuten begegnen, nicken sie sich morgens höflich und verstohlen zu und ignorieren sich ansonsten. Sie betrachtet das babyblaue Haar, wie es träge auf Princess Unicorns Schultern liegt und da fällt es ihr auf: Das Windkind fehlt. Mit weichen Knien und offenem Mund starrt sie auf den Ort, circa einen Meter vor ihrem Client, an dem das Windkind stehen und ausgerüstet mit einem lautlosen Föhn für kontinuierliches Wehen sorgen sollte. Ursprünglich wurden Kleinwüchsige für diesen Job genutzt, da diese die ideale Größe haben, rückwärts vor dem Klient zu laufen ohne diesem dabei die Sicht zu versperren. Aber diese Ressource war schnell erschöpft – „Uns gehen die Zwerge aus“, titelte die BILD-Zeitung. Fortan wurden Kinder als Windmaschinen genutzt. Das anfängliche Unwohlsein der Clients mit diesem Arrangement war schnell vergessen und nun wundert sich niemand mehr, über vorsichtig rückwärts laufende 7-Jährige.
Jetzt scheint auch Princess Unicorn das Fehlen zu bemerken und blickt auf ihr Haar, das leblos auf ihren Schultern liegt. „Where the Windkind?“, fragt sie in dem Pidgin-Englisch, das schnell zur der einzigen Sprache geworden ist, die die Clients ohne Hilfe eines Teleprompters sprechen können. Der Texter und der Teleprompter schauen sich betroffen an. Die beiden scheinen etwas zu wissen und Renate Meyer merkt, wie Schweiß ihre Hände nässt. Störungen im Ablauf kann sie heute nicht vertragen, und vor allem nicht hier auf dem Siegberg, wo ihre Kirche stand.
„The Windkind dead, sorry“, sagt der Texter und senkt das Haupt. „No wind?“ Fette Tränen rollen aus Princess Unicorns kugelrund operierten Augen; die schweren falschen Wimpern senken sich wie langsam herabstürzende Vögel. Das Windkind ist tot. Angstschweiß wärmt Renate Meyers Hintern, aber sie kann die neue Wärme nicht genießen.
Benommen geht sie weiter bergauf, stolpert, und lässt beinahe ihre Heizplatte fallen. Sie blickt herunter und entdeckt einen Stein, daneben noch einen – einige Meter weiter eine winzige Steinmauer. Das muss sie sein, ein Stück immerhin. Panisch sucht sie weitere Steine, versucht, sie in ihrem Kopf zu dem sechseckigen Grundriss der Nikolaikirche zusammenzusetzen.
Sie gibt auf. Erst das Windkind, jetzt die Nikolaikirche – ihre Selbstbeherrschung ist gebrochen. Das Jucken ist unerträglich. Renate Meyer wird kratzen bis es blutet.
Sie erlaubt sich fünf Sekunden. Dann muss sie die Erinnerungen mit Gewalt zurückdrängen, wie das Ersatzfederbett in die zu kleine Bettschublade.
5. Henner und Frieder, die beiden Statuen, die sie auf dem Weg zur Kirche begrüßten.
4. Die 9Bar, mit deren Eisbechern sie ihre Söhne bestochen hat, mit zum Gottesdienst zu kommen. Schöne Abende dort mit Kolleginnen aus der Universität und Freunden.
3. Der bemalte Stromkasten zu dem die Jungs immer Wettrennen gemacht haben, als sie noch klein waren.
2. Der linke Türflügel, verziert mit einem Löwen.
1. Auf der Spitze des Turms das Krönchen, ihr Krönchen.
Stop!

Es juckt nicht mehr. Das hier ist nicht aufgeben. Das hier ist Hingabe, denkt Renate Meyer und fühlt Tränen über ihre Wangen rollen.
„You sad? Poor POW, you want candy?“, fragt Princess Unicorn und zupft rosa Zuckerwatte aus der Tasche ihres Pelzjäckchens. Frau Meyer öffnet den Mund – die süße Watte klebt an ihrem Gaumen.
Sie blickt mit ihren verheulten, ungeschminkten Augen in Princess Unicorns schimmerndes Gesicht und fühlt Wärme und Glück durch ihren Körper strömen. „Me happy when you happy. And when not cold“, antwortet Renate Meyer und weiß, dass sie Recht hat.

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