it’s raining THE GENTLEMEN halleluja AMEN

dortmund 10. merz 2020. satz mit SR: ’sreehnt = rheinhessisch für es regnet (…gott segnet die zettel werden nass). die nachrichten sind bedrückend: da kommt was auf uns zu! und ich bin ganz allein im fremden ruhrgebiet. und das mit fünf millionen anderen menschen, die so gar keinen abstand halten wollen. liegt ihnen wohl nicht im blut, den netten kumpels & kumpelinen. eigentlich wollte ich heute zuerst zum grab von richy huelsenbeck auf den nahen südwestfriedhof pilgern. beschließe aber auf dem weg lieber gleich zum dilL zu gehen. erst kommt das fressen, dann kommt die (arbeits-) moral. glücklicherweise kann ich mit der asphaltbibliotheque beides verbinden.

ich mag zwar regenwetter, aber im regen zu flanieren, nass zu werden – und nicht schwimmen zu gehen – macht mir schlechte laune.  na wenigstens voher noch einen abstecher zum tremoniapark. hinterm dekorativen kreisel residiert die DMT und wacht angeblich über mich. soll ich sie dafür in mein nicht vorhandenes nachtgebet aufnehmen?

vor dem supermarkt finde ich zwei feuchte EKZ (zettelsammlerslang für einkaufszettel). ich bring meine farbenfrohen schäfchen ins trockene und lichte sie routiniert im ladenlokal beim einkaufen ab. der freundliche bäckereifachverkäufer meint, dass es zum friedhof gar nicht mehr so weit wäre und beschreibt mir den weg. als smartphoneverweigerer bin ich geradezu darauf angewiesen mit meinen mitmenschen zu kommunizieren und fremde menschen nach dem weg zu fragen: ist das nicht furchtbar?

hab doch noch keinen bock zurückzugehen und mach mich bei leichtem regen mit dem viel zu schwerem rucksack auf den weg. unterwegs werden weitere zettel eingesammelt und in das eigens dafür mitgeführte werbeprospekt zum trocknen eingelegt. nasses papier ist sehr empfindlich. wenn ich sie jetzt auseinanderfalte, würde ich sie in fetzen reissen. aufgelesen wird immer, gelesen wird bei regen erst zuhause. sammelrouten oder zettelsafaris plane ich eigentlich eher selten. mein leben bestimmt die kunst und nicht umgekehrt. aber ich muss mit und von meiner kunst leben.

der weg durch das dicht bebaute wohngebiet am rande des kreuzviertels immer die kuithanstraße entlang ist doch länger als ich dachte. endlich auf dem nassen friedhof angekommen frage ich zwei friedhofsgärtner mit minibagger nach dem grabmal von huelsenbeck. die beiden haben den namen des berühmten DADAisten allerdings noch nie gehört und wollen mir den weg zu irgendwelchen BVBmumien weisen. fußball ist opium für volker. irgendwann erinnert sich einer der beiden doch noch an ein auffälliges relief mit gedenkplatte und beschreibt mir den weg dorthin.

tatsächlich da ist es! direkt daneben liegt der dortmunder DADA-aktivist jürgen kalle wiersch und die von beiden beinflußten DADADOs haben 2018 auch einen gedenkstein hinterlassen. anlass war das 100jährigen jubiläum der bedeutensten europäischen nihilistischen kunst- und literaturbewegung, bei der huelsenbeck federführend war.

es ist immer noch am schiffen und winden. ich inszeniere schnell ein paar bilder und mache mich auf den heimweg. schulter und nacken schmerzen unter dem gewicht meines einkaufs. vor allem die beiden weinflaschen habens in sich und ich ahne warum profi-alkis auf hochprozentiges umsteigen: reine logistische vorsichtsmaße zur vorbeugung von späteren haltungsschäden. rücken hui – leber pfui! ich lasse den regen fallen und warte in einem graffiti besprühten haltestellenhäuschen vor dem leibnizgymnasium auf den bus, der mich zurück in meinen adlerhorst bringen wird.

dort finde ich glaub ich den karozettel. der regen hat die handschrift auf dem mittig gefalteten blatt wieder aufgeweicht und auf der gegenüberliegenden seite des blattes in spiegelschrift als tintenklecksographie wie für einen rohrschachtest abgedruckt:

(anmerkung des auflesers) ob F. ahnt, dass ihr sohn E. möglicherweise davon träumt ein kleines aber feines imperium für marihuana in dortmund aufzubauen, um irgendwann wie der filmheld ein legales leben in der oberschicht zu führen?

hier geht’s zum quarantäne-musikvideo-blockbuster THE GENTLEMEN mit einer interpretation der einverständniserklärung des alleinunterhalters BRANDSTIFTER LIVE VOM BÜGELBRETT.

 

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A45 Eindrücke

THE READER IS PRESENT

Ich glaube die Geschichte von Michael Ende „Das Gefängnis der Freiheit“ habe ich noch als Kind in Südwestfalen gelesen. Sie ist mir nie aus dem Kopf gegangen. Der Erzähler befindet sich darin in einem Raum voller Türen, in dem, so heißt es, er die absolute Freiheit besitzt. Dort kann er sich frei entscheiden, durch welche Tür er gehen möchte. Nun scheint es ihm plötzlich unmöglich, eine der Türen frei zu wählen. Erst als der Erzähler erkennt, dass es keinen Unterschied macht, durch welche Tür er geht, da hinter jeder von ihnen ein ihm unbekanntes Schicksal liegt, verschwinden die Türen und er ist frei. Letztlich, so erzählt er, hat nur der die freie Wahl, der genau die Folgen seiner Entscheidung kennt und das ist unmöglich. Und so ist der, der sich dem eigenen Schicksal fügt, ein freier Mensch. Viele der Beiträge hier vermitteln das Gefühl von Freiheit in dieser Region, vermischt mit dem Gedanken an eine ungewisse Zukunft.

 

Die Heimat neu vermessen von Christoph

Ich bin viel auf den Autobahnen der Republik und darüber hinaus unterwegs. Die vollen Straßen und die vielen Baustellen nerven dabei sehr. Aber jedesmal, wenn ich auf die A45 biege – egal wie weit noch von der Heimat Freudenberg entfernt – ob im Norden bei Dortmund („jetzt sind's nur noch 100km, die sitz ich locker ab“), oder im Süden am Seligenstädter Dreieck („astrein, Bahn meistens leer, die 160km schaffe ich mit Vollgas easy in 1 Std.“) ist die Freude groß. A45 = mein ganz persönliches Synonym für 'Heimat'. Egal, ob es mittlerweile mehr als 3 Dutzend Baustellen und Brückenerneuerungen gibt, oder – wie gerade gestern – wieder ein LKW bei Dillenburg umgekippt ist und eine Vollsperrung zur Folge hat: Selbst die Umleitung durch die heimatlichen Berge macht im Allrad-getriebenen Audi noch Spaß. Aber bitte hier und nur hier, auf keiner anderen Autobahn und in keiner anderen Region empfinde ich so. Geht das wohl dem Ulmer auf der A7 oder dem Oberhausener auf der A3 genauso wie mir?

Sicher, denn das gleiche Gefühl stellt sich ein, wenn ich im kleineren Mikrokosmos mit meinem Cannondale MTB im Wildenburger Land vor der Haustüre unterwegs bin. Jeder Weg und jeder Pfad wird erkundet und bindet mich mental immer stärker an dieses schöne Fleckchen Erde, sofern man sich gut fühlt und Land und Leute mag, wo man unterwegs ist. Die Sieger- und Sauerländer (bin selbst einer aus Elspe) sind ja speziell. Wohl dem, der dies weiß und verinnerlicht. Der kann den 'Locals' nicht böse sein, wenn man freundlich nach dem Weg fragt , oder manchmal einen Unbekannten vom Rad aus auch nur freundlich grüßt und als Antwort teils rüde angeblufft wird – wenn überhaupt eine Antwort kommt. Dann fühle ich ich mich wieder zu Hause.

Gedanken zu Postcorona schreibt Anja

A45: Schon beim Erwähnen stehe ich gefühlt im Stau, in einer der vielen, vielen Baustellen, Normalerweise ist das immer so …!!

Aber jetzt zu Coronazeiten erlebe ich die A45 plötzlich wunderbar leer und das Gefühl im Sonnenschein über die unendlich vielen Brücken mit den schönen Landschaften fahren zu dürfen, stimmt mich versöhnlich mit der ganzen Region. Wir können uns glücklich schätzen mit unseren großen Gärten und der schönen Natur. Positiv Abstand voneinander halten, das Leben umarmen 😎, ist hier momentan nicht schwer.

Und plötzlich kommt dann diese Dankbarkeit in mir hoch, dass ich nicht in einer kleinen Stadtwohnung fristen muss und mich frei bewegen kann…

Ich wünsche mir, dass ich dieses Gefühl noch lange in mir tragen darf, auch nach Coronazeiten, hoffentlich …

 

Für Sonja Sternitzke aus Iserlohn spielt auch die Natur und das Gefühl der Freiheit eine große Rolle:

Heimat ist für mich das Wandern, Gehen, Laufen, Atmen in den Wäldern unserer Waldstadt. Gerade in diesen Zeiten entdecke ich bei jedem Spaziergang neue Wege, kleine Fluchten, neue Ausblicke, erlebe intensive Gedanken oder denke auch mühelos an nichts. Beobachte genauer, fühle mich geerdet und bin trotz dieser Krise frei.

Die waldreiche Umgebung berührt mich immer wieder neu und inspiriert …

der laut der amsel berührt spitzen von grün. steigt empor. hinterher fliegt mein herz. keine möglichkeit zu entfliehen

We’ll meet again von Sabine Hinterberger

Bald.
Bald wieder.
Bald wieder werden wir uns treffen können. Wir stellen, den gelben, den blauen, den roten und den grünen Stuhl nebeneinander aufs Meer.
Wir schweigen, nachdem wir uns alle lange in den Arm genommen haben. Eine gefühlte Ewigkeit haben wir uns nicht gesehen. Wir schauen weiter aufs Meer und Roland lässt Scrabbies Hand nicht mehr los, Scrabbie seine Hand auch nicht. Sie sind endlich wieder zusammen.
Scrabbie, Roland, Max und Henni. Wir sind endlich wieder zusammen.
Bald.
Bald wieder.
Bald wieder werden wir uns treffen.
Ich freue mich auf euch und darauf.

Hartmut erzählt von Sportgeschäften und Corona in dieser Zeit,

„Meine Frau und ich, wenige Tage vor dem 60. und wenige Tage nach dem 61.Geburtstag, radelten heute analog (ohne E-Motor-Unterstützung) von Olsberg nach Usseln über sauerländer und upländer Höhen. Das Ziel war ein kleines Sportgeschäft. Meine Frau liebt Sportgeschäfte. In dieser Corona-Zeit haben wir die letzte Chance vor der Maskenpflicht ab Montag genutzt, noch einmal ohne Gesichtsmaske shoppen zu können. Zum Glück waren nicht viele Kunden im Geschäft. Enttäuscht waren wir darüber, dass diese nicht das Bedürfnis hatten, den vorgeschriebenen Mindestabstand einzuhalten und wir darauf angewiesen waren, allein darauf zu achten.“

 

Auch diese Frau macht sich wichtige Gedanken, zu dem was die Region heute ist und uns nun erwartet

Ist die Luft wieder rein?

Eine Freundin, die vor gefühlten Urzeiten das Siegerland verlies, um in einer weltoffenen und quirligen Großstadt zu leben, sagte mehr als einmal: „Wenn ich nachhause fahre, dann habe ich das Gefühl, ich komme unter eine Dunstglocke“. So ganz genau weiß ich den Wortlaut nicht mehr, aber die Dunstglocke beschäftigt mich seitdem. Seitdem umfasst gut und gerne 25 Jahre. Damals rührte diese Äußerung in mir was an, sie traf ins Schwarze – wobei ich nur eine vage Ahnung von der Beschaffenheit, Größe und Hintergrund dieses „Schwarzen“ hatte. Bei mir löste der Begriff Dunstglocke auch direkt eine körperliche Erinnerung aus. Als Kind wurde ich bisweilen von asthmatischen Anfällen geplagt. Den Zustand diese Anfälle empfand ich selbst immer so also hätte jemand eine Glasglocke über mich gestülpt, die mir die Luft zum Atmen nahm und dieses beängstigende Gefühl der Enge erzeugte. Der Geist vergisst und verdrängt, der Körper vergisst niemals. Glocken, egal ob aus Dunst oder Glas, scheinen die Umwelt zusammenzuschnüren und erdrückend wirken zu lassen. Also könnte die Dunstglocke auch einfach für dieVersinnbildlichung heimatlicher Enge stehen, eben dieser Enge, die junge Menschen spüren, wenn sie dem Ort ihrer Kindheit entwachsen sind.

Möglicherweise könnte die Dunstglocke auch sehr konkret sein. Denn die Luft im Siegerland ist nicht so rein wie sie eigentlich sein sollte oder sein müsste bei all dem Grün. Mir persönlich verschlagen bisweilen die bodennahen Ozonwerte den Atem, ich spüre es direkt, wenn die Luft schlecht wird. Aber Gefühle, Gespür und Intuition sind irrelevant – denn alles muss konkret bewiesen und belegt werden, alles muss einen Sinn haben, muss zu irgendetwas nütze und zielgerichtet sein. Gefühle und Intuition sind nicht greifbar, sind Lichtgestalten, darüber nachzudenken und zu philosophieren ist Zeitvergeudung, führt zu nichts, ist zu transzendent. Bloß nicht zu viel Spiritualität und Muse zulassen, das lenkt ab vom eigentlich Tun. Zeit ist schließlich Geld und jeder ist seines Glückes Schmied, wenn du nicht zurecht kommst, dann bist du selbst schuld, es nicht erlaubt, ein nur so „zu sein“.

Ja, die Luft ist manchmal recht miefig und abgestanden in der Heimat, das ist einem Blick auf die interaktive Luftwertekarte des Bundesamtes für Umweltschutz tatsächlich klar zu belegen.

Leider auch wieder so ein sehr pragmatischer und beweisschwangerer Erklärungsansatz für die Dunstglocke. Aber so einfach ist dieser Fall nicht.

Die feinstofflichen Teilchen, aus denen sich die Dunstglocke zusammensetzt, haben sich über Jahrhunderte herausgebildet und sind von verschiedener Beschaffenheit und Natur. Sie setzen sich zusammen aus der spezifischen historischen Entwicklung der Region, aus religiösen Vorstellungen, aus dem eigenen familiären und sozialen Umfeld, aus rein persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen. Jeder Region hat eine eigene, eine andere Dunstglocke und entweder man kommt damit mehr oder weniger zurecht oder man bekommt eben keine Luft. Alternativ kann man sich eine unsichtbare Atemschutzmaske anlegen und dabei hinnehmen, dass die Stimme dadurch gedämpft wird.

Zum Glück ist nichts von Dauer und hat nichts Bestand, auch Dunstglocken nicht: Unsere Dunstglocke ist in den letzten Jahrzehnten sicht- und merkbar von etlichen Schadstoffen gereinigt worden. Umfangreiche Umdenkprozesse, Zuzügler und eine neue Generation haben für frischen Wind und damit für frische Luft in der Heimat gesorgt. Viele reflektierte Menschen haben daran mitgearbeitet, die Dunstglocke zu klären. Sie verweht…

Und ich hoffe, dass sich bei uns keine neue Dunstglocke aufbaut, die das Klima hier vergiftet. Die Gefahr ist groß, atmen wir darum tief durch.

 

Schließlich noch die Erinnerung einer Leserin zu der A45, bevor es Mitternacht schlägt und die „Reader ist present“ Zeit schon wieder vorbei ist:

Wenn ich mich recht erinnere, bin ich vor 30 Jahren zum ersten Mal über die A45 gefahren. Das war kurz nachdem mir von der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) ein Studienplatz in Siegen zugewiesen worden war. Zuerst musste ich übrigens nachschauen, wo dieses Siegen überhaupt liegt und wie ich dahin komme. Die Enttäuschung war groß, Siegen hat mein Herz bis heute nicht richtig erobern können. Vielleicht liegen die Mentalitäten von Rheinländern und Westfalen doch zu weit auseinander.

Das Kürzel der ZVS mutierte unter uns (auswärtigen) Studenten schnell zu der Bezeichnung „Zwangsverschickung Siegen“, der zweite Schnack, den wir uns erlaubten hieß folgerichtig „Frage: Was ist das schönste an Siegen? Antwort: Die Autobahn nach Köln“. Und das war A 45 dann auch für mich. Ein Zubringer, der mich notwendig nach Siegen führte, um mein Studium anzutreten. Fluchtweg, wenn die Vorlesungswoche vorbei war und ich mit dem Auto wieder Richtung Heimat davonbrausen konnte. Irgendwann bin ich dann in Siegen hängen geblieben, Mann kennengelernt, Kinder bekommen, Arbeitsplatz …. Heimat ist es mir trotzdem nicht geworden. Heute ärgern mich an der Autobahn hauptsächlich die Baustellen, sie hindern mich daran, schnell an einen Ort zu gelangen, der mir mehr am Herzen liegt.

Also als Zubringer nah Köln, ins Rheinland, Zubringer in den Süden, dort zumeist nach München. Dabei vermeide ich es, über die sehr hohe Talbrücke Eiserfeld zu fahren, das ist mir unheimlich. Lieber ein paar Kilometer über die Landstraße und dann erst drauf. Vermutlich ist diese Autobahn für das Siegerland und Sauerland ein Segen. Anbindung an große Städte wie Frankfurt oder Dortmund und der Anschluss an die A4, meine Fluchtwege eben.

 

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A45 Stories

THE READER IS PRESENT

Lasst uns anfangen mit diesem schönen Text, von einer jungen Frau zur Mitternacht:

Um Mitternacht mit dem Schützenzug zum Markplatz marschieren und dann dieser eine Moment, wenn der Zug in der Schützenstraße am „Kump“ anhält. Diese ganze Masse an Schützen und Feiernden bleibt stehen und es kehrt völlige Stille ein.

Der Spielmannszug spielt dieses wunderbare Stück (Gebet an die Liebe oder so ähnlich) und im letzten Takt jubeln wir alle und die Schützen schmeißen ihre Kappen in die Luft.
Das ist Glückskribbeln pur, mehr Heimatgefühl geht nicht. Das passende Video dazu gibt es hier!

Jemand schreibt von der Vorstellung, Sauerland und Südwestfalen wären eines und von dem sauren Geschmack auf der Zunge als Kind, wenn es dorthin in die Ferien ging.

Eine Frau erzählt von ihrer Wanderung  Auf der Autobahn:

Mit dem Bau A45 von Dortmund über Siegen, Wetzlar nach Aschaffenburg wurde in den 1960er Jahre begonnen.

Das Teilstück Dortmund – Gießen wurde im Jahr 1971 dem Verkehr übergeben.

Wir wohnten damals in Olpe, nicht allzu weit entfernt von der Autobahn. Im Juli 1971 wurde mein erstes Kind geboren.

Nachdem ich die Klinik verlassen hatte, sind wir am Sonntagnachmittag mit dem Kinderwagen Richtung Autobahn

spaziert, und haben uns, wie viele andere Menschen auch, auf der Autobahn amüsiert.

Kurze Zeit später war dann die offizielle Eröffnung der Autobahn.

Immer wieder, wenn ich über die A45 fahre, kommt mir dieser Sonntagnachmittag in den Sinn.

 

Ein Anderer schreibt über seine Eindrücke zu Südwestfalen: Was wird aus Kulturen bitterster Armut und strikter Egalität unter der Knute des strafenden Gottes und des in seiner Wolke strafenden Wetters? Vornehm tun und Vornehmheit sind zu verachten. Aber auch die kirchliche Autorität zersplittert nach charismatischer und meritokratischer Maßgabe, vor allem lokalisiert sie sich. In Tälern, in Nischen, in Zerklüftungen.  Man blickt aus dem Tal in die Welt, aber erst einmal nicht sehr weit. Auf der Schwäbischen Alb, im Siegerland, in der deutschsprachigen Schweiz. Wenn jetzt der Reichtum ausbricht, wie zeigt er sich dann? Zuerst einmal muss alles sehr solide sein, und unaufdringlich, und effizient. Das hilft auch der Industrie. Dann kommt lange Zeit gar nichts, denn daß die Welt betrogen werden will, ist kein guter Gedanke für das gläubige Gemüt. Und schon ein Blick ins Rheinland gibt einem den Eindruck, daß das alles sehr unsolide und unehrlich ist. Der Widerstand gegen Mode und gegen das Fluktuierende der Kultur ist deswegen so unermesslich, weil er sich auf der besten Seite der Bürgerlichkeit weiß: der Trennung von Zweckrationalität und Wertrationalität. Für das eine ist nur der Glaube zuständig, für das andere bleibt alles andere. Beide Kriterien setzen auf Beharrlichkeit: die Beharrlichkeit des Glaubens, und die Beharrlichkeit der Effizienz. Hartnäckigkeit bleibt selbst eine hartnäckige Eigenschaft. Eine westfälische. Für die Ästhetik blieb zu wenig Lücke, denn das Banausentum ist immer entschuldigt: vormals durch Armut, danach durch Bürgerlichkeit, und gegenseitig bestärkt im Fehlen von Neugier. Die Fremdheit ist noch ganz traditionell: Wenn man vom einen Tal ins nächste wechselt, ist man zugewandert und bekommt das das ganze Leben lang zu spüren.

Und weiter geht es, schreibt mir…

 

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eigenblutbehandlung mit vögeln

nach dem aufwachen ins spochtdress und dauerläufig zur tremoniawiese getrabt. es ist frischer als die letzten tage, aber die sonne scheint schon schön. als ich am lidl vorbeilaufe sehe ich zum ersten mal eine schlange. sehen ein bißchen aus, wie teilnehmer eines staffellaufs – nur mit taschen statt stäben – wie sie da sicherheitsabständig rumstehen. auf der wiese immer mal wieder vereinzelt jogger, gassigeher oder radfahrer. man weicht sich unauffällig elegant aus, schaut sowieso weg oder demonstriert durch anlächeln sportgeist oder gelassenheit. als ich die wiese runterlaufe kommt mir an der gleichen stelle wie vorgestern die joggerin entgegen, die im laufschritt zwei kinder in einem sportbuggy den kleinen hügel hochschiebt. wir sagen hallo oder so. beim nächstenmal müssen wir uns virtuell einen ausgeben.

die schlange ist inzwischen doppelt so lang. aber die meisten haben wohl jetzt eh nicht so viel zu tun oder scheinens jedenfalls mit fassung zu tragen. könnten gut stille post spielen. erinnerungen an fernsehbilder von der DDR, westpropaganda. ich hatte das schon geahnt und mich frühzeitig fürs wochendene eingedeckt. nicht hamstern, aber vorratshaltung. meine eltern sind wie ruthchen kriegsgeneration und ich hab sowieso keinen bock täglich einzukaufen. da brauch ich keine krisenkanzlerin die mir das anempfiehlt.

zu hause
collage v.e.b. freie brandstiftung 2020

auf der kuithanstraße laufe ich an einem mehrfach gefalteten zettel vorbei. der war mir doch schon beim hinweg aufgefallen. als asphaltbibliothekar ist man ja immer im dienst. hatte mir das konzept 1998 ausgedacht, damit ich zum kunstmachen nicht extra arbeiten gehen muss, sondern es gleich nebenbei miterledigen kann. FLUXUS ist LUXUS. also laufe ich wieder zurück, verneige mich vor dem bürgersteig und stecke das objekt meiner begierde mit spitzen fingern tief in die känguruhtaschen meiner alten kapuzenjacke. eigentlich hebe ich jetzt nur noch mit der von mir verpönten greifkralle auf. ist schließlich große kunst und kein müll. aber: keine regel ohne ausnahme, und ich wasch mir eh gleich die flossen und sing dabei schön häppi börsdeh. um 8 dann heuchlerisches gutmenschenklatschen. ich geh lieber auf meine einsame miniterasse mit blick auf die mülltonnen im hinterhof und lass euch einen fliegen.

kurz bevor ich unter der s-bahnbrücke west ins unionsviertel einlaufe fliegt eine elster mit einem großen zweig im schnabel über die straße. auf ihrem baum in den schrebergärten ist schon ein beachtliches nest zu sehen. dem schwarzweißen rabenvogel ist die pandemie scheißegal. endlich mal ein bißchen ruhe vor uns quälgeistern in der heimischen baum-corona. und die egoistischen haustiere schicken herrchen und frauchen gnadenlos ins risikogebiet supermarkt. los, jetzt könnt ihr endlich eure liebe beweisen – ich will futter!

die elster gilt in europa als unglücksbote, in asien als glücksbringer und bei den native americans als ein mit den menschen befreundetes geistwesen. da es hier im kiez so viele asiatische migranten hat, entschließe ich mich sicherheitshalber ihrer lesart zu folgen.

die tage war eine an mich und thomas kapielski gerichtete vogelkundliche email von unserem gemeinsamen freund hans-joachim knust aus hannover eingetroffen: soeben den zilpzalp auf dem balkon gehört. noch etwas ungeübt und schüchtern, aber da. schönen frühling & ornithologische grüße, euer knusti.

2018 hatte ich mit tanja für den mainzer kunstverein walpodenstraße 21 e.V. die fulminante gruppenausstellung DO THE BIRD konzipiert und in der walpodenkademie ausgerichtet. kunsti & seine frau sascha hatten unser großes schaufenster mit einer wunderbaren vogelinstallation bestückt und zur vernissage einen genialdilletantischen klugscheißer-vortrag mit super 8 filmen und musik zum thema gehalten. der oben erwähnte frühlingsbote zilpzalp oder weidenlaubsänger  klingt genau so wie er heißt. ganz im gegensatz zum ruf der großtrappe. diese hatte knusti nicht ohne grund als soundinstallation auf die galerietoilette verbannt. so mancher austellungsbesucher hatte auf dem weg zu unserem nun gar nicht mehr so stillen örtchen den rückzug im festen glauben daran angetreten, dass dieses bereits von einem unter heftigsten blähungen leidenden mitmenschen besetzt sei.

ebenfalls in der ausstellung vertreten: der landart-künstler krd HUNDEFAENGER, der ebenso wie ich ungefragt in bad kreuznach geboren wurde. ich hatte seine vogelkotbilder bereits 2016 in meinem artzine ANTIPODES veröffentlicht und gerade ist das empfehlenswerte radiofeature BIRDSHIT wegmarkierungen eines lebenskünstlers über den eingenwilligen künstler, der vogelfedern in bäume hängt, auf deutschland radio kultur gepackt worden.

shitart by birds
hommage an hundefaenger, v.e.b. freie brandstiftung 2020

zuhause angekommen kommt bald der magische moment. ich habe mir gerade meinen starken morgenkaffee mit drei kardamomkapseln gemahlen und aufgebrüht: jeden morgen in der früh, trink ich meine kaffeebrüh… endlich entfalte ich den gefunden zettel. wird er auch beschrieben sein? ich muß lachen als ich die schrift wiedererkenne. absolute premiere: der asphaltbibliothekar hat gerade zum ersten mal seinen eigenen einkaufszettel auf der straße gefunden!

mehr schräge vögel & ostereier in herne: https://youtu.be/i3fh-pa3B7g

 

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social disdancing with myself

v _ e _ r _ r _ u _ e _ c _ k _ t _ e   zeiten

oder der distanz zwischen mir euch uns & corana

 

 

da schlag ich holderdipolter in einer anderen stadt auf

stolper in einen haufen wunderbarer menschen

die mich aufnehmen und einladen

und plötzlich ist da was zwischen u/n/s

was uns  t-r-e-n-n-t

 

 

man kann es nicht sehen

man kann es nicht hören

man kann es nicht riechen

man kann daran sterben

so sagt man

so hört man

so sieht man

sich nicht mehr

und wenn man nicht daran glaubt

oder wenn man zeigt dass man nicht daran glaubt

dann ist man

natürlich

unsolidarisch

mit den kranken alten und schwachen

ein egoist

so sagt man

so glaubt man

so tut man

nichts

 

 

 

wann werde ich endlich den stammgästen in der eckkneipe zuprosten?

wann werde ich endlich beim besten inder dieser stadt schmausen?

wann raus aus do in den pott?

nach duis

nach ess

nach reck

nach gels

nach hag

nach ob

doch ich

bin brav

und treff nur noch

kassierer*innen

security

polizeier

und halte abstand

social disdancing with myself

 

 

 

 

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BARES FÜR RARES

weil das ruhrgebiet nicht nur dortmund, die stadt ohne namen, ist geht’s heute abend zur ersten (und vermutlich vorerst letzten) exkursion. ziel ist die helge schneider stadt mülheim. im hauptbahnhof DO zieh ich mir schnell noch ein teures monatsticket und schon kommt künstlermusiker achim zepezauer (siehe WTF is DADADO? und wir springen auf den regionalzug richtung kölle. was ich nicht weiß: ticket2000 wertmarke ohne dazugehörige karte (+ weiteren lichtbildausweis) ist wie krone ohne könig oder eifeltum ohne paris. der resolute zugschaffner hätte mich glatt in der nächsten station rausgeschmissen. da achim eine weitere person mitnehmen darf, bleibt mir dieses schicksal, im gegensatz zu unserem ebenso ahnungslosen nachbarn, erpart. nun weiß ich was fräulein nina meinte mit: VRR ist die hölle! keiner kennt sich aus…

erstaunlicherweise kennt auch niemand dem ich in DO davon erzähle das  makroscope. laut definition der blick auf’s große und ganze und für mich ein highlite für experimentelle improvisierte musik jenseits von bräsigen jazzfestivals, donaueschinger musiktagen und neuer musik mit stock im arsch. viele meiner musikerfreunde und kollegen wie limpe fuchs, ronnie oliveras oder ruth maria adam haben hier schon fleißig klarinettiert, gefiedelt und gedengelt. ebenfalls im angebot: das hauseigene label ana ott, wo strickmanns peter seine wunderbare schnarchmusik (kein witz) auf vinyl veröffentlicht hat. weiterhin ist dort das lebendige museum für fotokopie mit einer sammlung zur geschichte der fotokopie und copy art, workshops und ausstellungen. 2019 hatte ich mit dem gründer des museums klaus urbons und weiteren künstler*innen, die den fotokopierer zum kunstmachen benutzen eine copy art ausstellung in buffalo NY. einer meiner ältesten künstlerischen kollaborateure, jürgen o. olbrich aus kassel, mit dem ich gerade eine handbearbeitete edition mit impfpässen für hunde & katzen erstellt habe, hat dort auch schon ausgestellt. das alles unter einem dach und an jedem wochenende ein interessantes event. die wochenenden im pott schienen gesichert…

an diesem abend aber war die corona panik noch nicht wirklich im ruhrgebiet deutschland angekommen und veranstalter dennis dix nimmt alle eintretenden erstmal herzlich in den arm. heute (19.03.) würde er für diese an sich harmlose und liebvolle geste vermutlich gelyncht werden. das publikum, inklusive dem zottelbärtigen barfußläufer und dem kind mit mickymaus gehörschutz, wirkt irgendwie handverlesen aber durchaus unhomogen authentisch. an der theke sitzt schon der aus florida stammende noise musiker sisto rossi auf einem barhocker und schlürft belgisches leffe bier. wir hatten uns nach einem phantom limbo konzert in der oettinger villa am bahnhof in darmstadt kennengerlernt und er ist dabei, einen auftritt für uns beide in einer essener galerie zu arrangieren. dann wiedersehen mit jan ehlen von den raumzeitpiraten, die ebenso wie ich letzen sommer bei der licht- und klangkunstnacht zum dreißigjährigen jubiläum im künstlerdorf schöppingen aufgetreten sind. ich erzähle von meinem stipendium als regionsschreiber und er ist feuer und flamme ein partizipatives fundzetteldepot im makroscope für das projekt asphaltbibliotheque ruhrgebiet asphaltbibliotheque ruhrgebiet  aufzustellen.

der erste act ludwig wittbrodt ist ein duo wie es viel gegensätzlicher nicht sein könnte. die eher zierliche emily wittbrodt am cello – ebenso wie achim assoziert bei dem 25-Piece sound collective the dorf  – und der kräftige riese edis ludwig am laptop und selbstgebauten noisegeneratoren. immer wenn die glassvitrine bei extremen bassfrequenzen mitscheppert schauen achim und ich uns grinsend an und ich kann mich kaum zurückhalten die vitrine zum mitspielen zu benutzen. brandstifter, alte rampensau: du bist neu hier, also sei schön brav, halt dich zurück, amüsier dich und guck lieber erstmal zu. deine zeit wird kommen 😉

viel zu hören und auch zu kucken gibt’s dann beim zweiten set. das phobos, dysfunctional robotic orchestra ist eine gruppe kleiner roboter und automatischer musikgeneratoren, die sich zu einem dysfunktionalen roboterorchester zusammenschließen, einem orchester seltsamer instrumente mit defekten und genetischen mutationen. die gruppe aus portugal hat mit ihren maschinen eine riesige tischlandschaft bestückt. überall blinkt es und geschehen interessante dinge, die den klanggarten von phobos zum blühen bringen.

da einer der beteiligten am noise vs poetry abend krank geworden ist kommt die anfrage, ob ich nicht am 21. merz auftreten möchte. als weiteres projekt ist igitt, ein non input mixer duo mit dennis & sisto am start. zufälligerweise war tilmann jakob, der ursprünglich an dem abend hätte auftreten sollen, gerade erst im februar in frankfurt gastgeber gewesen, als ich in der reihe xerox exotique im institut für neue medien mit meinem incredible labertierchens orchestra aufgetreten war. die welt ist klein in der szene, in der wir uns bewegen. das hatte ich schon in new york festgestellt. mal sehen was sich nun alles verändern wird. auf facebook wimmelt es von petitionen für grundeinkommen und krediten, die die regierung auch kulturschaffendenden in aussicht stellt. kredite paßt nicht: bares für rares, bitte! wir kreativen hungerleider sind ja findig und anpassungsfähig wie ein blatt im wind und wenn die anderen kleinunternehmer auch nix haben fällt vielleicht endlich mal auf was wir alles die ganze zeit leisten auch ohne an den großen tröpfen zu hängen.

zwei tage nach frankfurt war ich vor fastnacht zu einem gig mit meinen projekt ANTIBODIES nach berlin geflüchtet. wenn man bedenkt, was nur EIN coronainfizierter bei einer karnevalsgesellschaft im kreis heinsberg ausgelöst hatte, so ist in dem zusammenhang das wort flucht sicher nicht übertrieben…

es ist mittlerweile schon spät oder eher früh und um lange wartezeiten zu umgehen müssen wir dringend zum zug. achim braucht ein bißchen, um seine am tresen versackte nachbarin einzusammeln. die übliche abschiedszeremonie rollt ab. pipi gehen, ciao sagen, jacke anziehen. endlich rennen oder torkeln wir im trio gen bahnhof, wo wir gerade in allerletzter minute unseren zug erwischen. scheiß wodka! kaum dass wir sitzen wird unsere mitfahrerin ziemlich blass um die nase und verschwindet auf toilette. ab DO HBF fahre ich allein mit der 43 zur heinrichstraße weiter. quasi schwarz. noch ist mir nicht bewußt, dass es schon jetzt gravierendere gründe gibt den nahverkehr besser zu meiden und dass einrichtungen wie das makroscope bald um ihre existenz bangen werden, da schon nächste woche alle kommenden öffentlichen veranstaltungen auf eis liegen werden…

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