Tag der Wahl

Ort: Münster | Datum: So, 24.09.2017 | Wetter: diesig bis sonnig, 13°C

Es ist Sonntag. Um kurz vor 7:30 Uhr brennt im Foyer der Grundschule Licht. „Herzlich Willkommen“. Die Tür ist geöffnet. Hier treffen heute drei Wahlbezirke Münsters aufeinander. In meinem Wahlbezirk sind wir sechs WahlhelferInnen. Drei für die erste, drei für die zweite Schicht. Wir begrüßen uns, stellen uns kurz vor, werden auf einer Liste abgehakt. Alle da. Wir werden belehrt. Keine Parteinahme während der Ausübung des Ehrenamts. Keine Parteisymbole auf der Kleidung. Ich schaue an mir herunter: grauer Pullover, blaue Jeans. In Ordnung.

Wir bereiten das Foyer für die Wahl vor, kleben eine Karte der 334 Wahllokale Münsters an die Backsteinwand, neben die Klassenfotos der GrundschülerInnen. Stadtbezirke, Wahlbezirke, Standorte der Wahllokale. Die grauen Straßen werden von blauen Linien durchschnitten, die sie in gerade und ungerade Hausnummern, stadtein- und stadtauswärts teilen. Je näher der Blick zur Kartenmitte, zur Altstadt, wandert, desto mehr blaue Cuts, desto mehr rote Punkte. Überwiegend sind Schulen die Orte der Wahl.

Außerdem hängt aus: ein Muster des Stimmzettels „für die Wahl zum deutschen Bundestag im Wahlkreis 129 Münster am 24. September 2017“. 13 Wahlmöglichkeiten für die Erststimme. In Schwarz. 23 Wahlmöglichkeiten für die Zweitstimme. In Blau. Auf Recycling-Papier. Hinter der kleinen Holzbühne an der Wand des Foyers hängen papierne Schuhe an einer Leine, alle gleichförmig. Aber jeder anders bunt bemalt. Davor stehen heute die Wahlkabinen. Auch in ihnen aufgehängte Zettel. Sie fordern dazu auf, keine Selfies mit ausgefüllten Stimmzetteln zu machen.

Um Punkt 8:00 Uhr betreten die ersten Wahlberechtigten das Foyer. Eine junge Frau und ein älteres Paar. Auch ich gebe meine Stimmen ab und mache mich dann vorerst auf den Heimweg. Über 40% meines Wahlkreises haben in den letzten Wochen bereits per Briefwahl gewählt. Viel Andrang wird demnach nicht mehr erwartet. Als ich zu der Nachmittagsschicht zu 13 Uhr zurückkehre, drängen sich bereits über drei Zeilen auf der Strichliste – die Anzahl der abgegebenen Stimmzettel. Noch weitere fünf Stunden sind die Wahllokale geöffnet.

Die älteste Wählerin an diesem Nachmittag ist 94, sagt mir ihre Begleitung. Außerdem eine Erstwählerin, wie mir deren Begleitung ebenso stolz verkündet. Ganze Familien gehen wählen (bis zum Alter von sechs Jahren darf man mit in die Wahlkabine), dazu Kinderwagen, Laufräder und Kick-Boards. Einige Kinder ziehen ihren Anhang hinter sich her, zeigen auf Gebasteltes. „Das hab ich gemacht!“ Eine ältere Dame glaubt, in der Gummibärenmischung auf unserem Tisch zeichne sich bereits „rot-grün“ ab. Ich sitze an der Urne und zähle die Stimmabgaben. Bedanke mich für jeden eingeworfenen Wahlschein. Ein paar bedanken sich auch bei mir.

Wie das für uns ist, fragt ein älterer Herr, bei einer Wahl zu helfen, bei der man die AfD wählen könne. „Wir sind unparteiisch“, entgegne ich.

Als ich gegen 18:00 Uhr den letzten Strich auf meiner Liste mache, waren es 528 Wählende. In Anzug, Abendkleid, Fahrraddress oder Jogginghose. Eine Wahlbeteiligung von über 80%. Ein gutes Gefühl. Je mehr, desto besser, desto demokratischer, denke ich. Die Auszählung findet öffentlich statt. Die Tür zum Foyer bleibt die ganze Zeit geöffnet. Die Öffentlichkeit scheint die Ergebnisse allerdings von zuhause aus zu verfolgen. 528 Stimmzettel. Das Auseinanderfalten der Stimmzettel erinnert mich an das Auseinanderfalten von Losen auf der Kirmes.

Fast zwei Stunden sortieren und zählen wir aus. Erst die übereinstimmenden Erst- und Zweitstimmen, dann die Zweitstimmen, dann die Erststimmen. Jede Zahl wird gegengeprüft. Wird in eine Liste eingetragen. Gestapelt, in Umschläge gepackt und versiegelt. Per Telefon werden die Ergebnisse durchgegeben, bevor alle Dokumente direkt zur Stadt gebracht werden. Die leeren Urnen werden später abgeholt. Stühle und Tische werden zusammengeräumt. Als die Auszählung beendet ist, lese ich die ersten Nachrichten von Freunden. Als ich gegen 20 Uhr zuhause bin, schalte auch ich die Nachrichten ein.

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Schreiben in Bewegung

Ort: quer durch NRW | Datum: Do, 31.08. 2017– Fr, 08.09.2017 | Wetter: Herbstanfang

Sie wischen am Fenster vorbei, halten stellenweise kurz inne, warten einen Moment, bevor sie weiterziehen: Münsterland, Ostwestfalen, Hellweg, Ruhrgebiet, Bergisches Land, Rheinschiene, Region Aachen. Städte und Stadtteile, Weiß auf dunkelblauem Grund. Daneben beschriebene und beklebte Bänke. Plakatwände auf Backstein und Beton. Aufgemalte gelbe Vierecke am Boden, von denen sich Rauchfäden gen Überdachung spinnen. Am Schotterrand des Bahndamms, unweit der Schienen, blüht der Schmetterlingsflieder. Vor Bahnhofsgebäuden, Industriebrachen und Fabrikskeletten dicke lilafarbene Blütentrauben.

Erstmals seit Beginn des Projekts lasse ich den Bulli eine Woche lang zurück. Eine Woche in fremden Betten. Fremde Vorhänge. Fremder Kaffee. Eine Woche voller Fahrpläne, Ankunfts- und Abfahrtszeiten. Bus, S-Bahn, Straßenbahn. Taxis und Mitfahrgelegenheiten. Eine Woche lang quer durch NRW. Das Steuer nicht mehr in der Hand. Dafür Hände, Augen und Ohren offen für das, was ich sonst umfahren habe. Das Umsteigen. Das Warten. Fester Streckenverlauf. Kilometerlange Schienennetze und S-Bahn-Linien.

Tausche Mittelstreifen auf Asphalt gegen Betonsprossen auf Schotter.

Aachens Norden: das Depot. Noch ist es den TaxifahrerInnen nicht geläufig – in seiner heutigen Funktion. Ein Ort der Begegnung, des Austausches. Steigt man ins Untergeschoss, kreuzt man noch den Weg der Schienen. Einst trafen hier Busse und Straßenbahnen ein. Instandhaltung, Reparatur, Neujustierung. Heute sind es Interessierte, Autorinnen und Autoren sowie ProjektkoordinatorInnen, die Bergfest feiern. Zwischenfazit ziehen. Stadt, Land und Text präsentieren, begutachten, justieren. Und dann wieder raus, auf die Schienen, die Straßen, die Regionen.

Köln: Hauptbahnhof. Über den Rhein und die Hohenzollernbrücke, die mit jeder Liebesbekundung schwerer wird, fährt man auf ihn zu. Den Dombau. „Wennse vorne fertig sind, fangense hinten wieder an.“ Einfahrt in den Bahnhof. Der Verkehrsknotenpunkt zurrt sich zusammen. Am hinteren Ausgang die Bahnhofsbuchhandlung Ludwig, noch immer. Eine Lesung mit Koffertreiben im Augenwinkel. Nicht nur mittwochs schweift der Blick über Anzeigentafel, Bahnschalterschlange, Fahrpläne hinter Plexiglas, während das Ohr der Spur der Bücher folgt.

Am Rande Ostwestfalens: St. Vit. Ein ganzes Dorf in Bewegung: von Bobbycar-Rennen über Bambini- und Schülerlauf bis zu 4,8- sowie 10-km. START – Kreisfeuerwehrschule, Kirche, Kindergarten, Fichtenbusch, Friedhof, Flüchtendenunterkünfte – ZIEL. Fahnen schmücken die Straßen ringsum. Wer nicht mit seinem Laufen Gutes tut, feuert die rund 1000 LäuferInnen an. Musikgruppen, Cheerleader, Wasserstationen. Oder sitzt mit Nachbarn und Freunden an der Strecke. Auf der Bierbank vor der Garage. Bei Start- und Zielgeraden gibt‘s Kuchen, Kaffee, was Warmes.

Für die Sieger ein großes Weizenbier. Von der Brauerei um die Ecke. Ich bin fast zurück.

Über Land blickt man nachts durch Panoramascheiben ins Dunkel. Der Außenraum verwehrt ein Durchdringen, der Innenraum hell erleuchtet. Dazwischen die Funklöcher. Gegen Mitternacht nur noch wenige Blicke, die man treffen könnte. Während der Fahrt also erstmals wieder der Griff zu Tinte und Papier. Schreiben in Bewegung. Kugel und Räder rollen gleichmäßig. (Ge-)Schichten überlagern sich. Orte im Wandel. Momentaufnahmen. Zwischendrin Innehalten, erleuchteter Bahnsteig, Schotter und Schienen. Irgendwo im Dunkeln der Flieder.

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Hier und Nichthier

Ort: Burg Hülshoff | Datum: Sa, 26.08.2017 | Wetter: bewölkt, 19°C

Der Parkplatz füllt sich schnell. Die Leute strömen. Um das hier! zu sehen. Die Sehnsucht in die Ferne. Und das NICHTHIER. Ich bin gerade – in der Mitte. Zwei Monate mit dem Bulli unterwegs durch das Münsterland. Immer ein Stück zuhause dabei: mein Bett, meine Bücherkiste, mein Draht zur Welt. Durch die Windschutzscheibe jeden Tag ein neuer Ausblick. Vor der Tür jeden Tag ein neuer Vorgarten. Bin ich hier oder nichthier, in der Fremde oder doch noch im Eigenen? Vielleicht ist auch die Grenze dazwischen bewohnbar. Die Bewegung. Für kurze Zeit. Wenn die Unruhe nicht wäre.

„Rastlos treibts mich um“

Ein Fünftel ihres Lebens verbrachte die Droste auf Reisen. Zehn Jahre bewegte sie sich auf familiären Routen. Ostwestfalen, der Bodensee, die Schweiz und die Niederlande. Etwa die Hälfte ihres Werks entstand auf Reisen. „The World as Raw Material.“ Ohne das Unterwegs-Sein, in Gedanken wie auf der Straße, hätte auch ich den Großteil meiner Texte so nicht schreiben können. Begegnungen. Menschen in Bewegung. Abgelegene Orte. Ich habe einige gesehen und werde noch einige aufsuchen. Von manchen hatte ich zuvor gehört. Über andere bin ich gestolpert, habe sie auf meinem Weg für mich entdeckt. Einige habe ich beschrieben und geteilt.

„Sehnsucht in die Ferne“ ist der Titel der Ausstellung. So nennt die Droste ihren ganz persönlichen „Plagedämon“. Immer dort sein zu wollen, wo sie nicht ist. Die Sehnsucht in die Ferne immer auch eine Sehnsucht nach dem (anderen) Hier? Nach weiblicher Selbstbestimmung, nach Handlungsmacht? Eine erträumte Freiheit im Schreiben, im heimlichen Lösen des gebundenen Haars. Eine Frau. Unverheiratet. Betritt man die Ausstellung, tritt man zunächst wie selbstverständlich den Reisegefährten entgegen. Auf Augenhöhe. Manchmal begegne ich ihnen auf meinem Road Trip. Dann erntet meine Antwort – „Ja, genau, ich bin allein unterwegs, mit dem Bulli“ – Stirnrunzeln und hochgezogene Augenbrauen.

Daneben dann das Reisegefährt. Die Postkutsche, die Eisenbahn, das Dampfschiff. Technische Entwicklungen ihrer Zeit veränderten das Wie und das Wohin der Reise. Mein Gefährte und Gefährt wäre vielleicht auch etwas für die Droste gewesen: Der Bulli als ein Stück Eigenes in der Fremde. Und statt mobiler Münzsammlung die Bücherkiste. Statt Erpernburger Butterbröde der Filterkaffee im Thermobecher. Und die Rastlosigkeit. Die Unruhe. Sirenengesang der Ferne oder „klingts wie Heymathslieder“? Sehnsucht – in beide Richtungen? Flucht. Suche. Traum. Ziel. Rückkehr.

„Mein Indien liegt in – “

Sehnsucht treibt die Schreibenden um. Nach Räumen. Vermeintlich fern, vermeintlich nah. Die musikalische Performance „NICHTHIER“ lässt die Droste ebenso zu Wort kommen wie westfälische KünstlerInnen der Gegenwart. Ersehnen von Orten. Von Aufbrechen und Ankommen. Nach globaler Entgrenzung und lokaler Verortung. Stimmen sprechen von Westfalen und der Welt. Das Eigene braucht immer auch das Fremde. Zur Abgrenzung. Zur Selbstvergewisserung. Zur Verortung. Wobei beides zum Sehnsuchtsort werden kann: Heimat und Fremde. Heimweh und Fernweh. Im Sehnen scheint die Unmöglichkeit schon verankert – ein künstlerischer Motor?

Wo entsteht Kunst? Was ist der richtige Ort des Schaffens? Der DichterInnen-Ort. Der Ich-Ort der Poesie. Braucht es Sesshaftigkeit oder Bewegung? Verwurzelung oder Ungebundenheit? Den Rückzug ins Ich oder das Mitten-in-der-Welt-Sein? Um Inspiration zu finden. Um kreativ sein zu können. Annettes Ort kann man in der Ausstellung aufsuchen. Die virtuelle Realität ist vor allem – schwer. Im Schaukelstuhl sitzend halte ich die Brille mit beiden Händen. Bin hier, bei mir, das Kissen im Rücken. Das Schaukeln. Bin nichthier, wo sich das Licht im Wassertropfen am Rocksaum bricht, im Grase. Bewege mich. Stetig vor und zurück.

Was sind meine Souvenirs? Was nehme ich mit von meiner bisherigen Reise durch das Münsterland? In meinem „Schatzkästlein“ liegen: ein Stück Sandstein, eine rosafarbene Feder, ein Festivalbändchen, eine venezianische Maske. Mein Atlas des Münsterlandes, der mit jedem besuchten Ort dicker wird. Mehr Zettel ansammelt. Und verschiedenste Texte, die ihren Weg hinein und hinaus finden. Hier dann die Postkarten meines Road Trips. Von: Mir. An: Alle, die mögen. Briefmarke: Sehnsucht in die nahegelegene Ferne, ins Fremde im Eigenen.

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Lebendiges Wasser

Ort: Gemen | Datum: Mi, 23.08.2017 | Wetter: sonnig, 24°C

Putten und Paradiesvögel. Rahmen mit üppigen Rundungen. Vergoldete Schnörkel. Spiegel in allen Größen und Formen. Lüster, Blumenvasen, Ziersäulen. Akkurat gefaltete Handtücher auf weiß-goldenen Haltern. Altmodisch wirkende Trockenhauben über den Waschbecken. Die Mitte des Raumes beherrscht eine massive antike Kasse. Zwischen weißer und goldener Pracht Rollhocker, Wasserhähne und Haarpflegeprodukte.

 Mit Blick auf die schmale Straße schnippen die Scheren und rieseln die Haarspitzen.

Durch eine Tür nach hinten, wenige Stufen hinauf. Das emsige Geräusch verklingt. Auch hier Spiegel, Waschbecken und Handtücher. Barocke Rundungen. Dazwischen aber – eine Nische. Ein weißes Regal. Keine Schnörkel. In der Mitte steht ein neunarmiger Leuchter. Das Gebäude an der Neustraße 5 war seit Anfang des 19. Jahrhunderts in der Hand der jüdischen Kaufmannsfamilie Löwenstein. Dieser Raum ein Ort der Versammlung und des Gebets für die jüdische Gemeinde Gemens und der Umgebung. In dieser Nische stand der Thoraschrein, erklärt Berno Rohring.

Berno Rohring hat in den späten 1960er Jahren zunächst nur den Raum im Erdgeschoss gepachtet. Der Frisörmeister richtete hier seinen barocken Salon ein. Vor 15 Jahren kaufte er dann das denkmalgeschützte Haus, das nach dem Stadtbrand von Gemen ca. 1870 wieder aufgebaut worden war. Nach und nach renovierte er die anderen Räume. Dabei entdeckte er etwas, das den Stadtbrand überdauert hatte. Im Keller, zugeschüttet und vergessen.

x_Orte sind auf den ersten Blick oft nicht zu erkennen, werden aber mit wenigen Hinweisen im Dialog von Wissenschaft und Alltag sicht- und erklärbar.

An der Wand ein feinsäuberlich ausgeschnittenes rechteckiges Loch im Holzfußboden. Etwas mehr als schulterbreit. Die Holzstiege hinunter ist steil. Wir machen uns rückwärts an den Abstieg. Mehrere hundert Jahre in anderthalb Metern. Das weiß getünchte Kellergewölbe ist niedrig. Wir müssen die Köpfe einziehen, gebückt stehen. Der Boden besteht aus dunklen quadratischen Steinen. Kühl ist es hier. Die Wände feucht. Noch vor einem Jahr, am 25. Juni 2016, hätten wir hier kniehoch im Wasser gestanden. Zur Linken ein schmaler Durchgang.

Im zweiten Raum flackerndes Kerzenlicht. Hier wurde vor 15 Jahren die Mikwe entdeckt. Das rituelle Tauchbad ist nicht viel größer als das Loch im Boden, durch das wir eben gestiegen sind. Ich lasse mich auf der niedrigen Empore am Durchgang nieder. Ob hier Tücher und Kleidung gelegen oder helfende Hände gewartet haben? Der rechteckige gemauerte Schacht liegt direkt vor meinen Füßen. Sein Grund nicht auszumachen. Ein Mensch konnte hier damals vollständig untertauchen. Noch heute steht das Grundwasser hoch. Gleich um die Ecke des Hauses wird die Bocholter Aa gestaut.

Das Wasser ist essenziell für die rituelle Reinigung.

Eine Mikwe muss von „lebendigem Wasser“ gespeist werden, erklärt mir Wilhelm Bauhus. Gesammeltes Regenwasser, Quellwasser, oder Grundwasser. Zur spirituellen Reinigung. Kein Wasser von außen. Auch kein warmes. Auch nicht im Winter. Wir sprechen hier leiser als oben im Salon. Das einzige kleine Fenster ist verschlossen, geht gen Westen. Zum Kleinen Hook hinaus. Zum Abendstern? Auf einer zweiten Empore hinter der Mikwe flackern Kerzen. Die Wasseroberfläche liegt still im Dunkeln. Ohne Spiegelungen.


Frisörmeister Berno Rohring hat uns heute mit seiner Tochter Pia, Inhaberin des barocken Salons Rohring, die Türen in die Geschichte seines Hauses in Gemen geöffnet. Mir und dem Team der Expedition Münsterland um Dr. Wilhelm Bauhus, dem Leiter der Arbeitsstelle Forschungstransfer der WWU Münster. Die Expedition Münsterland bringt seit 2010 Universität und Region ins Gespräch.

Im Rahmen des Teil-Projektes x_Orte werden Wissenschaft und Alltag an weitgehend vergessenen Orten des Münsterlandes zusammengebracht. Wissenschaftlich, künstlerisch und kulturell aufbereitet, werden ihre Geschichten der Öffentlichkeit wieder in Erinnerung gerufen und zugänglich gemacht. Dabei arbeiten Wissenschaftler, Studierende, lokale Institutionen und interessierte Bürger im Sinne der Citizen Science zusammen.

Anhand von Ortserlebnissen werden aktuell Spuren jüdischen Lebens im Münsterland aufgearbeitet. Neben der Mikwe in Gemen werden im Rahmen des Projekts der jüdische Friedhof in Münster, der jüdische Friedhof in Darfeld, der Kibbuz in Westerbeck und die ehemalige Synagoge in Ascheberg einbezogen. In einer Ausstellung im Haus der Wissenschaft in Darfeld sind ab April 2018 diese x-Orte und ihre Geschichten zu sehen.

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Jam-Session am Highway 2

Ort: Kulturgut Haus Nottbeck | Datum: Fr/Sa, 18./19.08.2017 | Wetter: bewölkt, Regen, 20°C

Aus der Helligkeit und Wärme des Cafés hinaus auf den Hof. Das Auge braucht einen Moment. Es ist dunkel. Nacht- und Land-dunkel. Die leuchtenden Linien um den Sandplatz und die Lichtsäulen vor den Gebäuden sind vor einer Stunde erloschen. Die umliegenden Höfe nur zu erahnen. Um die Ecke, verklingt Stimmengewirr. Das Glimmen von Zigarettenspitzen außer Sicht. Über Brücke und Gräfte auf die Streuobstwiese. Der Wind steht richtig. Man hört das Rauschen der A2.

Highway in Hörweite

Statt einer Tankstelle an einem Highway hier ein altes Rittergut mitten im Nichts. Hier hält nicht mal mehr ein Bus. Der ehemalige Sitz des Amtsdrosten. Kreisgrenze. Kulturregionsgrenze. Jetzt Ort der Westfälischen Literatur. Und statt amerikanischer Rockstars on the road Westfälische Literatinnen und Literaten. Ebenfalls auf Tour. Anreisende aus Berlin, Hamburg, dem Ruhrgebiet. Und hier: Stop! – And Read! Eine literarische Jam-Session umgeben von Klinker, Wassergraben und Münsterländischer Felderlandschaft. Unplugged und down-to-earth.

„Fast schon Natur-Kitsch hier. Aber wenn’s schon mal da ist…“

Lese-Sessions rund um das Kulturgut. Auf einer Picknickbank mit ehemaligem Stallgebäude im Rücken. Entlang der Gräfte gehend. Auf dem Fußballplatz gegenüber dem Kulturgut. Soundscapes im Gartenhaus und im Saal. –Verschränktes Gelände – Lügende Landschaft – Kreisverkehr – An der Tankstelle – am kai – Immer wieder: Orte. Räume. Blicke. Und Bewegungen. Über allem: Sprache(n). Und dazwischen: tauscht man sich aus.

Wir stehen dicht gedrängt unter einem Sonnenschirm aus meiner Camping-Bulli-Ausstattung. Auf dem Fußballplatz. Hinterm Parkplatz. Gegenüber vom Sandplatz. Philipp mit Kamera und Equipment neben mir. Daniel mit Zeichenblock und Stift hinter mir. Ich halte den Schirm. Ein paar Ausfallschritte entfernt das Tor. Darin: Christoph Wenzel. Ebenfalls mit Schirm. Um uns herum: Regen. Satte grüne Wiesen. Und Lyrik. Gelesen vom Autor himself. Live und unplugged.

„Wer Lyrik schreibt, ist verrückt, wer sie für wahr nimmt, wird es.“        (Peter Rühmkorf)

Am Samstag Lese-Live-Streams. Vom Stop am Highway raus ins Netz. Lokal & digital. Junge Lyrik aus Westfalen für ein paar Minuten fast weltweit. Nottbeck an den Kreis- und city limits: ein Ort, der verknüpft. Einige waren bereits hier. Eine Woche, um zu schreiben, zu sortieren. Gedanken und Texte. Andere sind das erste Mal da. Man kennt sich. Man sieht sich zum ersten Mal. Geht um das Gut, gen Stromberg, allein und gemeinsam.

Lyrik riecht nach Orangen und Zigarettenqualm. Schmeckt nach Ginger Ale und Bier. Und dem heimischen Klaren.


Seit Herbst 2016 geben sich Künstler und Künstlerinnen aus Westfalen auf dem Kulturgut Haus Nottbeck in Oelde-Stromberg die Klinke in die Hand. Stop ˈnˈ Read ist ein Projekt der LWL-Literaturkommission für Westfalen in Zusammenarbeit mit der Kulturgut Haus Nottbeck GmbH. Idee und Konzept stammen von Walter Gödden, die Kommunikation übernimmt Fiona Dummann.

Um die Kurzlesungen zu verfolgen, muss man nicht in die unendlichen Weiten der Westfälischen Provinz aufbrechen. Die Stops werden auf der Website des Projekts zugänglich gemacht. Mit vielen bekannten Gesichtern, gezeichnet von Daniel Unrau. Und den Clips von Philipp Wachowitz. Das Line-Up des Wochenendes und in Kürze auf der Homepage des Projekts Stop ˈnˈ Read zu sehen:

   Greta Ganderath | Marius Hulpe | Adrian Kasnitz | Georg Leß |              Arnold Maxwill | Sarah Marie Meinert | Hendrik Otremba | Charlotte Warsen | Christoph Wenzel | kolberg+stern


Die Veranstaltung „Junge Lyrik“ mit Live-Streams und Abendveranstaltung am Samstag fand im Rahmen des hier! festival. regional. international. des Netzwerks literaturland westfalen statt. Das Literaturfestival bietet noch bis zum 30. September verschiedenste Veranstaltungen in ganz Westfalen  – und auch über die Regionsgrenzen hinaus. Stadt.land.text NRW 2017 ist mit einer Lesung der RegionsschreiberInnen Westfalens am 26. September 2017  in der Studiobühne der KulturRäume Gütersloh dabei.

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Once Upon a Hill

Ort: Stromberg | Datum: 15.08.2017 | Wetter: bewölkt, Regen, 26°C

Wind weht um den Stromberger Berg. Und trägt Düfte heran. Alte Obstbäume. Pflaume, Apfel. Spärlicher die Holunderbeeren. Kürzlich gemähtes Gras. Und etwas Malziges. Maische aus der naheliegenden Brennerei oder Brauerei? Silage? Leberwurstbrote? Leberwurstbrote in Tupperware. Apfelstücke. Trinkpäckchen. Den Strohhalm aus der Hülle friemeln. An einer Stelle ist die durchsichtige Hülle an den weißen Halm geschmolzen. Knibbeln mit dem Fingernagel. Durch die Silberfolie pieksen. NICHT RENNEN BEIM TRINKEN!

„Erwachsene erinnern sich nicht daran, wie es war, ein Kind zu sein.

Auch wenn sie es behaupten.

Sie wissen es nicht mehr. Glaub mir.“

Burg im Rücken, der Blick vom Stromberger Berg: überwiegend Äcker, Weiden und Dörfer OWLs. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt, den Hals lang macht und an den Brombeerranken und Büschen vorbeischielt, kann man einen Blick in Richtung meiner Heimatstadt werfen. Und meiner Grundschule. Die App sagt, sie liegt etwa 20 Minuten entfernt.

Gepicknickt wurde auf der Wiese an der alten Kastanie. Es brauchte etwa die Hälfte meiner Klasse, um sie mit weit ausgestreckten Armen und Gesicht in der Borke zu umschließen. Der Stamm schon damals zu Teilen ausgehöhlt. Den Kopf weit in den Nacken gelegt, um nach den Früchten in der Krone zu sehen. Heute springt der Blick. Zoomt. Stellt scharf. Der Hügel, ja. Aber sie ist nicht mehr da. Etwa 130 Jahre ist sie alt geworden. Ich komme ein Jahr zu spät, erfahre ich am Abend.

„Manchmal reden die Erwachsenen davon, wie schön es war, ein Kind zu sein. Sie träumen sogar davon, wieder eins zu sein.“

Ich steige die verschiedenhohen und -breiten Stufen des Stromberger Bergs herunter. Das Gassbachtal. Stöcke von der Brücke werfen. Schiffchen fahren. Bis sie am nächsten Kiesel hängen bleiben. Oder – Attacke! – kentern. Und der Spielplatz mit der längsten Rutsche überhaupt. Noch immer rutschen die Turnschuhe auf nassen Halmen beim steilen Aufstieg. Ob mir beim Erklimmen die Puste ausgegangen ist? Heute kann ich den Gegner zumindest benennen: Beckumer Berge.

Musik fließt mir die Stufen herab durch den Wald entgegen. Ein erster Vorgeschmack auf den Abend. Das Herzstück eines jeden Stromberg-Ausflugs: das Kinderstück der Freilichtbühne. Damals waren es Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Eine Insel mit zwei Bergen und dem tiefen blauen Meer. Auch heute Abend alte Bekannte. Und ein weit entfernter Ort. Eine geheimnisvolle Insel. Und wieder: Meer.

Bunte Gestalten bevölkern bereits jetzt den Vorplatz. Ein Weihnachtsmann, ein Mädchen mit Huhn, zwei Statuen. Dazwischen Kinder in Regencapes mit Stift und Zettel. Die Figuren führen bereits ein in die Welt der Kinder- und Jugendbuchautorin Cornelia Funke. Ein Kinder-Funke-Fest. Ein paar glaube ich bereits in den Kostümen des heutigen Abends zu sehen. Die beiden Statuen zum Beispiel. Die Meerjungfrau. Die Nonne. Und die beiden alten Damen in schwarzen Kleidern.

„Aber wovon haben sie geträumt, als sie Kinder waren?

Weißt du es?

Ich glaube, sie träumten davon, endlich erwachsen zu sein.“

Der Herr der Diebe. Ein Kinderstück? Eher ein Familienstück. Wie auch die ihm zugrundeliegende Geschichte. Die Geschichte der Waisen Prosper und Bo, die es in die Stadt aus den Erzählungen ihrer Mutter verschlägt. Die magische Stadt. Die Stadt des Mondes. Venedig. Auf den Stufen vor der Heilig-Kreuz-Kirche. Den Burgplatz zu fluten habe man dann doch nicht in Angriff genommen. Auch wenn sich das Wetter kurz vor Beginn der Abendvorstellung nochmal alle Mühe gibt. Aber: Taubenschwarm, Touristen, Löwen und geschwungene Brücke. Und Musik.

Zu Melodiefragmenten aus der Unendlichen Geschichte und dem Herrn der Ringe entrollt sich das Abenteuer der beiden Brüder, die bei einer venezianischen Kinderbande Unterschlupf finden. Einer Bande um den Herrn der Diebe, hier die jüngste Meisterdiebin aller Zeiten. Die erwachsen sein will. Weil dann niemand mehr Vorschriften machen kann. Ihnen auf den Fersen der Detektiv Victor. Und über allem: eine Erzählung. Und Magie. Die schließlich auch am Rad der Zeit drehen kann.

„Was tun Erwachsene so den ganzen Tag, Victor?“, fragte er.

„Arbeiten“, antwortete Victor. „Essen, einkaufen, Rechnungen bezahlen, telefonieren, Zeitung lesen, Kaffee trinken, schlafen gehen.“

Ich habe den Bulli an der Grundschule am Hang geparkt. Es sind Sommerferien, die Parkplätze leer. Mittlerweile ist es dunkel. Asphalt und Blätter noch nass vom Regen. Erstes zögerliches Gezirpe. Vom Stromberger Berg schaue ich in die Ferne. Oben Wetterleuchten und Windradblinken. Unten wabernde Lichter. Die Musik noch im Ohr, die Geschichte im Kopf. Der Schemen einer Kirchturmspitze zwischen den Lichtpunkten. Vielleicht der Campanile di San Marco.


Venedig im Münsterland, könnte man das Programm der Burgbühne Stromberg diesen Sommer überschreiben. Der Herr der Diebe, für die Bühne bearbeitet von Wolfgang Adenberg, stand zuerst fest. Mit dem Wunsch, beide Stücke mögen am selben Ort spielen, wurde dann das Erwachsenenstück ausgesucht: Der Impresario aus Smyrna (Carlo Goldoni). Noch bis Anfang September erweckt das ca. 100-köpfige Ensemble auf und hinter der Bühne die Lagunenstadt unter der Regie von Hendrik Becker zum Leben. Dafür lohnt sich das Erklimmen des Burgbergs!

Die Zitate sind Cornelia Funkes Herr der Diebe (2000) entnommen.

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