Meine erste Woche auf Instagram oder: Tag 4. Gemeine Insekten und Lernen von den Profis
17. Mai 2020
Es ist mein vierter Tag auf Instagram und ich erinnere mich an meinen Vorsatz von Tag 3, etwas professioneller zu werden. Ich besuche den stadt.land.text-Account. Will mir die Posts der Stipendiatin ansehen, die in der Woche vor mir dafür zuständig war, den stadt.land.text-Account mit eigenem Inhalt zu bespielen. Ich finde, sie ist ein richtiger social media-Profi und bin gespannt. Ich finde keinen Posts. Bin verwirrt. Ich suche weiter. Bei „Highlights“ kann ich mich durch sogenannte Storys klicken. Aha. Es sind hauptsächlich Videos. Und hauptsächlich beim Fahrradfahren. Schön den Schatten mitgefilmt. Praktisch, denke ich mir, gefällt mir, da sieht man das Gesicht nicht. Ich hasse Videos von mir, mein Gesicht in Nahaufnahme würde ich nie filmen. Das nächste Video zeigt eine Nahaufnahme ihres Gesichts, sie erzählt uns, dass sie gerade eine Fliege verschluckt hat. Oh, denke ich. So wählen Profis ihre Contents. Vielleicht solltest du dein Konzept der Professionalität und der Informationsrelevanz nochmals überdenken. Aber gefällt mir. Ich fahre ständig Rad und verschlucke ständig Fliegen. Es wird mir ein Leichtes sein, meinen von jetzt an professionellen Instagramaccount zu füllen.
Das Video läuft weiter. Ich checke, dass das mit der Fliege einen pädagogischen Hintergrund hat. Sie bezieht gekonnt beiläufig die Leser, besser gesagt Zuschauer und Zuhörer, mit ein, fragt: „Vielleicht hat da jemand n Tipp, was es genau is. Weil ich finde das halt insgesamt sehr früh für Insekten im März und es ist auch echt nervig, die fliegen einem überall rein.“
Inhalte in Fallbeispiele verpacken, die betroffen machen, und selbst bei Sachfragen ehrliches Interesse suggerieren. Dann antworten die Schüler bereitwillig. Ich freue mich, weil ich etwas aus meinem Pädagogikstudium wiedererkenne. Da freut man sich immer, wenn man doch etwas mitgenommen hat, trotz des Bulimielernens und der alkoholbedingten Komplettamnesie nach den Prüfungszeiträumen. Ich freue mich auch, weil ich vom Land komme. Zum ersten Mal, seit ich auf Instagram bin, fühle ich mich wieder schlau. Jaja, ich weiß zwar nicht, wie diese blöden Storys funktionieren, die ihr da ständig macht, aber ich könnte jetzt antworten, dass man im März durchaus schon Insekten beim Rad fahren verschlucken kann. Bei diesen milden Temperaturen und flachen Weiten wie in NRW wahrscheinlich zwei Drittel vom Jahr. Und es ist ja offiziell Frühling seit ein paar Tagen. Aber wenn sie mir ihre Zunge nicht filmt (oder wo auch immer die so reinfliegen), kann ich auch nicht sagen, welches Insekt das ist.
Dann wird mir klar, dass ich ihr gar nicht antworten kann, erstens hab ich keine Ahnung, wie das in der Story geht, außerdem stellt sie die Frage ja extra, um die Leute in unser stadt.land.text-Projekt einzubeziehen und das wäre ja wie, wenn zwei Lehrer gemeinsam unterrichten und der eine stellt eine Frage und der andere beantwortet sie dann, weil die Schüler vielleicht zu langsam oder zu doof sind und er nicht will, dass sein Kollege dumm stirbt oder in meinem Fall immer und immer wieder Insekten verschluckt und dabei nicht einmal ihren Namen kennt. Man will ja schließlich wissen, was oder wen man isst.
Puh. Ich bin ratlos.
Ich sollte ihr das mit den Insekten vielleicht wirklich sagen, dass mir das dauernd passiert, dass die einzige Lösung nicht mehr Rad fahren ist. Oder: Mit Mundschutz fahren – aktuell sogar ohne dass einen die Leute blöd anglotzen. Und dann sollte ich sie gleich mal fragen, ob ich denn auf ihre Storys antworten könnte, wenn ich wollte, und ob ich denn nicht einfach ein Bild posten kann, weil das war mein Plan, oder ob ich auch so eine Story posten muss, weil mein Gesicht filmen, das könnt ihr vergessen und meine Stimme schon gar nicht. Ich kriege da immer noch diesen Kleinkindreflex: Aaaaah!!!! Nein!!!! Mach das aus!!! Das bin nicht ich!!!! Wem gehört diese schreckliche Stimme!!!!
Ratlos und erschöpft beschließe ich, dass das für heute mit diesem social media reichen muss. Ich gehe ins Bett.
Instagram blinkt auf. Ich kann nicht widerstehen.
Mein Account hat die 100-Abonnenten-Marke geknackt. Sofort sind da wieder diese Endorphine. Aaah. Wie es mich überlistet.
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Exkurs: Das gemeine Insekt
Es ist ästhetisch.
Scheint sogar irgendwie zu arbeiten.
Wow. Wie die Flügel schimmern. Mein Mund steht offen.
Wage mich näher ran.
Bin beeindruckt. Kriege den Mund gar nicht mehr zu.
Kann es sein, dass es mich gerade verhöhnt??