Sieben: Freiherr

Ich bekomme Besuch, mit dem Auto fahren wir nach Brakel, es ist spät, zwei gelbrot schimmernde Augen an einer Kreuzung, graues Fell, ich glaube, es ist ein Dachs. Im Lidl leere Gänge, es ist kurz vor Ladenschluss und wir brauchen lange, es gibt alles und zu viel, es ist unübersichtlich, anders als bei Frischehandel Schäfer. Dann wollen wir essen, wir gehen die Straßen ab, manchmal finden wir ein Gasthaus, innen sitzen Männer an der Theke, die sich kaum rühren, die Tische sind frei, die Küche sicher schon zu, einmal eine Frau im beleuchteten Gang, die Köchin oder Wirtin, sie wischt sich die Hände an der Schürze und sieht müde aus. Am Ende sprechen wir ein Paar an, das den Hund ausführt, sie blähen die Backen, als wir fragen, wo wir noch etwas zu essen bekommen. Versucht‘s mal bei Avanti, dort vor, dann links. Danke, sagen wir, sehen zum Hund, der friert, es ist kalt. Wir passieren das Rathaus, eine Mischung aus Gotik und Renaissance, prächtig und stolz, die Fenster rötlich beleuchtet, dann finden wir den Imbiss, setzen uns auf abgewetzte Barhocker, der Pizzaiolo ist freundlich, knetet unseren Teig zurecht, ein Mann tritt herein, einmal wie immer, ruft er, der Pizzaiolo nickt, Pizza Cipolla mit extra Käse und extra Kapern. Korrekt, ruft der Mann, greift sich ein Bier aus dem Kühlschrank, trinkt, guckt aus dem Fenster. Als wir in Bellersen auf dem Parkplatz halten, springt etwas ins Gebüsch.

Am Morgen sitze ich am Roman, dann machen wir uns auf nach Marienmünster, gehen Umwege, passieren ein Gehöft mit hohen Scheunen, modernes Gerät steht darin. Entlang der Straße ein gedrungener Bau, die Mauern alt, ein Baum wächst aus dem Dach, vor einem Jahrhundert muss er hindurch gebrochen sein. Zwei ältere Herren stehen in der Einfahrt, einer von ihnen am Rollator, er trägt Jägerhut. Ich grüße, aber sie reagieren nicht. Dann, als wir vorbeigehen, ruft er: Guten Tag, sagt man! Ich drehe mich um, bin etwas ratlos. Ich habe doch Guten Tag gesagt! Achso, macht der Mann. Entschuldigung. Erst später wird mir klar, es war die Abbenburg, der Mann vermutlich August von Haxthausen.

Einige Tage später habe ich einen Termin mit seinem Sohn, Caspar Moritz von Haxthausen. Ich halte vor der Rentei der Abbenburg, steige aus, der Freiherr steht in der Tür, telefonierend, er grüßt mit einer Hand, winkt mich herein. Ich halte Abstand, eineinhalb Meter, weil man das inzwischen so macht, trete also zwei Schritte hinter ihm ins Gebäude, ein kühler Flur. Nach links ein weitgehend leerer Raum, an der Wand Bilderrahmen mit Pflanzendarstellungen, die einer französischen Enzyklopädie zu entstammen scheinen. Hinter der Schwelle liegen Dielen, die nicht knarzen, aber alt aussehen, von hier geht rechts ein Zimmer ab, das einmal als Speiseraum gedient haben könnte, aber es wirkt nicht bewohnt oder genutzt, eher wie die Landhausversion eines Besprechungsraumes, in den man sich nur setzt, wenn es wirklich sein muss, in der Mitte ein imposanter Tisch umstellt von ausgeblichenen Polsterstühlen, aus dem Fenster ein Blick auf die Weide. Hinter mir Schritte, der Freiherr tritt aus dem Büro. So, sagt er.

Wir gehen über den Hof, in der Wohnung ist es warm, zwischen Gebälk eine moderne Küche, er kocht Tee, schneidet Kuchen auf, dann setzen wir uns auf den Balkon, weil das vermutlich sicherer ist. Unten recht ein Arbeiter das Laub aus dem Gras, der Tee schmeckt eigenartig rauchig und scharf, zugleich ein wenig dumpf. Annette von Droste-Hülshoff nennt er nur Annette. In der Familie kursieren Geschichten, dass sie etwas eigen war, altjungfernhaft, erzählt er, aber er erinnert sich an die häufigen Besuche der Menschen in grauen und beigen Regenjacken, die, manchmal schon am Stock gehend, sich die Abbenburg ansehen wollten, manchmal auch den Steintisch im Garten, an dem Annette Das Geistliche Jahr geschrieben haben soll. Der steht dort drüben, sagt er, deutet mit dem Daumen über die Schulter.

In den Neunzigern sei der Bökerhof in einem miserablen Zustand gewesen, seine Eltern hätten ihn aufwendig renoviert, das kleine Museum eingerichtet, das heute schon wieder geschlossen ist. Damals kamen viele Menschen, ein Hype war entstanden wegen des Zwanzigmarkscheins, auf dem die Annette lockig und kühn in die Ferne blickte. Inzwischen hat das Interesse wieder etwas abgenommen. Ich vergesse zu fragen, was er von Karen Duve hält und ihrem historischen Roman, Fräulein Nettes kurzer Sommer. Der Arbeiter, in orangfarbener Reflektorenjacke, macht sich an der Hecke zu schaffen.

Die drei Lehen der Haxthausens in Abbenburg, Bökendorf und Vörden wurden durch die Stein-Hardenbergschen Reformen und die Bodenreform von 1949 geschmälert, der heutige Betrieb bewirtschaftet das, was von ihnen geblieben ist. Die Forstwirtschaft sei ein langsames Geschäft, erzählt er. Eine Eiche ernte man nach etwa zweihundert Jahren, sie wachse langsam, deswegen sei sie auch so fest, eigne sich bestens für Fachwerk, er zeigt auf die Verstrebungen am Balkon, von denen der Lack blättert. Aber industriell seien sie ein Albtraum, bei jedem Stamm müsse man schauen, wie man ihn zerteilen könne, oder ob. Eine Fichte dagegen wachse schnurgerade in die Höhe, die könne man einfach in die Maschine legen und fertig. Hier, sagt er, stampft mit dem Fuß auf die Diele, das hier ist Fichte. Sie ist der Brotbaum des Fortwirts, nach achtzig Jahren schon erntereif. Wenn sie nicht der Käfer frisst.

Was heißt verantwortlich, sagt Haxthausen, also, natürlich engagiere er sich in der Region, er sitze im Bezirksausschuss Bökendorf, aber dort sei er hineingewählt worden wie jeder andere auch. Und dann gebe es noch ein paar alte Zöpfe, die aber auch Wurzeln seien. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seien ja so viele Traditionen über Bord geworfen worden, dass es heute vielleicht ganz schön sei, noch an einigen festzuhalten, die geblieben sind. Das sei nichts Institutionalisiertes, erklärt er, nichts in Stein Gemeißeltes, das könne jederzeit aufhören, wenn die Menschen davon genug hätten. Aber wer das Gut in Vörden besitze, dem werde beim Schützenfest ein Ständchen gespielt. Und deswegen bekomme eben er das Ständchen. Wenn Sie das Gut kaufen, sagt er, dann bekommen Sie das Ständchen.

Zöpfe, die Wurzeln sind, überlege ich, stelle mir das vor, wie die Menschen vom Kopf herab ins Erdreich wurzeln.

Ja, Horst Krus ist tatsächlich der letzte Mensch, der auf der Abbenburg geboren wurde, in diesem Gebäude, Caspar von Haxthausen zeigt auf die Fichtendielen. Seine Eltern haben auf der Abbenburg gearbeitet, als was genau, das weiß Caspar von Haxthausen nicht, er müsste seinen Vater fragen. Krus hatte immer behauptet, hier sei auch der Gerichtssaal gewesen, von dem in der Judenbuche die Rede ist, aber Caspar von Haxthausen ist skeptisch, zeigt auf die tragenden Eichenpfeiler und auf die Decke über uns. Da liegen Wesersteine drauf, sagt er, die sind sehr schwer, diese Pfeiler können Sie nicht versetzen oder rausnehmen, also ist nicht sonderlich viel Platz. Ich glaube nicht, dass das hier in diesem Haus war, aber Horst Krus wollte halt unbedingt im Gerichtssaal der Judenbuche geboren worden sein. Haxthausen lacht.

Eine Frau tritt gegenüber aus der Tür, meine Mutter, sagt Haxthausen und winkt, sie kommt näher, schaut zu uns herauf. Das ist Herr Federer, ruft er ihr zu, er wohnt in Bellersen und schreibt über die Region. Oha, macht die Mutter. Guten Tag, sage ich. Dann geht sie spazieren.

Wir treten hinaus, die Sonne scheint, ich muss die Hand an die Stirn legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. In der Landwirtschaft hat der Betriebsleiter einen Mitarbeiter, in der Forstwirtschaft zwei. Es hat sich alles sehr verändert, sagt er, die Maschinen GPS-gesteuert, computergestützt. Und diese Angestellten wohnen dort unten?, frage ich, zeige auf den langgezogenen Bau am Ende des Hofes, aber Haxthausen schüttelt den Kopf. Nein, nein, die sind einfach vermietet. Aber sonst, er deutet auf eine Scheune, auf eine zweite, ist noch alles in Betrieb, der Getreidespeicher, die Getreidetrocknung, das Lager für das Pflanzenschutzmittel, und so weiter. Und die gefleckten Schafe da draußen? Ja, sagt er. Aber die sind nur ein Hobby. Es sind Jakobsschafe.

Als ich vom Gut fahre, überhole ich zwei Fußgängerinnen, Mutter und Tochter, vermute ich, mit vorgespanntem Hund. Sie bleiben stehen, grüßen, forschend gucken sie durch die Windschutzscheibe. Ich halte in der Ausfahrt, der Arbeiter blickt vom Laubberg auf, den er inzwischen aufgetürmt hat, er hebt die Hand, wie ich auf die Landstraße fahre, ich tue es ihm gleich, im Rückspiegel sehe ich seinen Arm sinken.

Mehr von Yannic Han Biao Federer

Unterwegs im vestimentären Feld

Mein Kleidungsstil ist keinesfalls modisch, eher lässig und ungezwungen. Nicht besonders schick, ist ein Kommentar, an das ich mich gewöhnt habe, lange schon. Ein Statement zu meiner Person, ihrem Auftreten, dass ich eigentlich als Teil meiner Identität integriert habe, das, was mich ausmacht, nicht besonders elegant, eher natürlich, selbstverständlich. Zugegeben, Nagellack juckt mir die Fingernägel, vom Kajal tränen meine Augen, der Lippenstift klebt und Lidschatten kratzt mich. Die Differenz von gestylter Schönheit leben, statt aufgebrezelt aus der Haustür zu stürzen zog ich lieber frei nach Curt Kobain come as you are vor und habe immer geglaubt, es sei mein Markenzeichen.

Als ich kürzlich mit meiner selbstgebastelten Atemmaske unterwegs war und auf meinem Fahrrad vor einer roten Ampel wartete, ging ein Herr mit Industriemaske ausgerüstet an mir vorbei. Seine weibliche Begleitung trug auch eine Stoffmaske, allerdings mit sichtbar besserer Nähqualität als meine.

So eine Bastelei, stöhnte der Herr, als er schon an mir vorbei war und glaubte, ich würde ihn nicht mehr hören können. Am liebsten wäre ich vom Fahrrad gesprungen, um ihm oder mir die Maske herunter zu reißen und diese vor seinen Augen zu zerreißen.

Aber die Ampel sprang auf Grün und ich fuhr weiter, mich jedes Mal, wenn ich in die Pedale trat, fragend, ob ich nochmal den Mut haben würde, meine Maske zu tragen.

Ich fühlte mich zurückversetzt in die Zeit, als ich aus Südwestfalen nach Bonn gezogen war und dort als Jugendliche auf eine neue Schule ging. Wie hatten die aus der Stadt damals über meinen Kleidungsstil, meine neongelben Radlerhosen gelacht!

Die Beziehungen zwischen Kleidung und Welt sind vielfältig. Der Modeaspekt ist stets implizit enthalten. Für Roland Barthes bilden Kleidung und Mode ein ebenso komplexes System wie unsere Sprache.

Zusammengesetzt aus Zeichen und Kommunikation ergibt sich eine Matrix, von der auch der Träger abhängig ist. Unser persönlicher Stil ist niemals frei von der sozialen Welt, die uns umgibt.

Das Wort Trachten kommt von dem Verb tragen und nichts eignet sich besser, darzustellen, wie sehr unser Kleidungstil auf einem Zeichensystem beruht, das wie unsere Sprache zur Kommunikation dient. Trachten stellen weniger das Besondere oder Eigene einer Region dar, als dass sie eine Aussage machen, die sich auf ein bestimmtes System beziehen, das meist für identitätsbildende Zwecke eingesetzt wird. So ist auch das Dirndl eigentlich keine traditionelle Kleidung, die in Süddeutschland die Jahrhunderte überdauert hat, sondern eine Erfindung. Auch Annette von Droste-Hülshoff hat festgestellt, dass es in Südwestfalen keine spezifisch traditionelle Kleidung gab. Die Menschen trugen, was der Epoche, in der sie lebten, angepasst war. Dabei gab es wenig einheitliche Kleidung, sondern dem Stand und den Klassen angepasst. Wer auf dem Feld arbeitet oder in der Grube gräbt, trägt die Arbeitskleidung bis sie aufgebraucht ist.

Dabei hat sich immer wieder eine Berufskleidung heraus gebildet, wie beispielsweise die Zögertracht im 19. Jahrhundert mit der sich die Drahtzieher in Südwestfalen kleideten. Doch da niemand diese für Identitätsbildende Zwecke eingesetzt hat, ist auch sie wieder in Vergessenheit geraten.

Dafür gibt es heute eine Unmengen an Schützentrachten, angelehnt an frühere Jägertrachten, wurden sie früher ausschließlich von Männern getragen, heute gibt es immer mehr Frauen, die den Vogel abschießen und dafür tragen sie dann selbstverständlich auch eine der lokal üblichen Uniformen. Kleidung kennzeichnet eine gewisse Zugehörigkeit oder eben nicht.

Der Eigenwille, sich selbst nicht inszenieren zu wollen, kann eben ein Statement sein.

Es geht immer um den Eigensinn, mit dem Gegenstände getragen oder benutzt werden, damit diese dann zu einem Identitätsmarker werden. So ungefähr wie eine selbstgebastelte Atemmaske, die, mit dem gewissen etwas, von dem auch France Galle schon gesungen hat, das eben nur sie hat.

Drahtzieher Ehepaar, Altena um 1800

Mit herzlichen Dank an Prof. Dr. Gudrun M. König und Prof. Dr. Lioba Keller-Drescher für die hilfreichen Gespräche zur Anthropologie des Textilen.

 

 

Mehr von Barbara Peveling

Fünf: Die Chronik

Wieder klopft es, diesmal bin ich schnell genug, eine Meise, aufgeregt flattert sie um den Türknauf, pickt dumpf mit ihrem Schnabel gegen die Scheibe, sie setzt sich, fliegt wieder auf, als sie mich bemerkt, ist sie fort. Später sehe ich sie am Fenster, neugierig blickt sie hinein, was will sie nur? Sobald ich mich nähere, flieht sie, ich trete hinaus, sehe ihr nach, von irgendwo tschilpt es, aus sicherer Entfernung.

Ich mache Fortschritte, habe die Eieruhr entdeckt, die im Bad über der Steckdose sitzt. Wenn ich sie aufziehe, gibt die Steckdose Strom, mit einem hohlen Klick springt die Elektroheizung an, Wärme für zehn tickende Minuten. Später gehe ich hinaus, laufe an der Brucht entlang in Richtung Brakel, dann rechts den Berg hinauf und zurück ins Dorf. Im Frischehandel Schäfer kaufe ich Brot und Käse, ein wenig Obst, Nudeln, eine Fertigsoße. Die Registrierkasse ist alt und mechanisch, fast traue ich mich nicht zu fragen, ob ich mit Karte zahlen kann. Na klar, sagt Frau Schäfer, reicht mir das EC-Terminal über die Theke.

Dann sitze ich wieder an der Chronik, blättere durch die Jahrhunderte. Krus fängt von vorne an, ganz von vorne, im siebten oder achten Jahrhundert, in dem das Dorf gegründet wurde, vermutlich von einem Mann namens Balder oder Baldhari. Der Winter 1072/73 ist mild, vier Jahre später fällt er dagegen streng aus. 1181 tragen die Bäume schon im Februar Früchte, einige Jahre darauf liegt bis Pfingsten Schnee. Der Kirchenzehnt geht an Kloster Corvey.

Der Tag, an dem die Haxthausens ins Spiel kommen, ist der 13. März 1465. Krus zitiert aus der Urkunde: „Wir Simon von Gottes Gnaden Bischof von Paderborn […] haben belehnet und belehnen in diesem Brieff unsern lieben getrewen Godtschalk von Haxthausen undt seine Erben mit der Apenborgh und mit allen ihren Zubehoerungen […]“. Das Gut Abbenburg liegt an der Landstraße nach Bellersen, die Haxthausens residieren dort noch heute. 1479 expandieren sie, erhalten weitere Lehen, diesmal aus Corvey, darunter Bökendorf, wo der Bökerhof liegt, das Anwesen also, in dem später Annette von Droste-Hülshoffs Großeltern wohnen, wo die Gebrüder Grimm ein und ausgehen, Brentano, aber auch der Jurastudent Heinrich Straube, ein Bürgerlicher, der die adlige Dichterin umwirbt, kurz darauf stößt August von Arnswaldt hinzu, auch er macht ihr den Hof, aber es ist eine Intrige, in die ihre Verwandtschaft verstrickt ist, sie wird bloßgestellt, reist ab, erschüttert. Fortan meidet sie den Bökerhof, überhaupt die Haxthausens, erst siebzehn Jahre später traut sie sich zurück, zieht es aber vor, in der Abbenburg zu nächtigen, der Bökerhof bleibt ihr suspekt. Bei Krus kein Wort zu Droste-Hülshoffs Jugendkatastrophe, für das Jahr 1820, in dem sich diese zugetragen hat, nur zwei Einträge. Bellersen und Bökendorf errichten gemeinsam ein Pfarrhaus. Ludwig Emil Grimm malt eine Karikatur. Eine Kaffeerunde beim Bellerser Pastor.

Ich blättere zurück, bleibe an der Paderborner Reformation hängen. Bischof Hermann ist von Luther offenbar sehr beeindruckt, 1545 will er die katholischen Zeremonien abschaffen, kurz darauf gibt er sein Amt auf. Sein Nachfolger ist erst 1578 gefunden, er ist verheiratet, will das Hochstift in ein weltliches Fürstentum überführen, aber er stirbt, bevor er das verwirklichen kann. Dann kommt Bischof Dietrich von Fürstenberg an die Macht, ein strammer Gegenreformator. „Das ist die grobe Skizze der Entwicklung, die auch in Bellersen ihren Neiederschlag findet“, kommentiert Krus. Man merkt, er hätte hier gerne ausführlicher berichtet.

Dann Konflikte zwischen Dorf und Adel, 1644 beschwert sich der Pastor, die Haxthausens hätten dem Gesinde ketzerische Schriften vorgelesen. Ich rätsele über diesem Eintrag, kein Hinweis, welcher Art diese Schriften gewesen sein könnten. Kurz darauf gibt es Streit um Holz, die Bellerser klagen vor dem Reichskammergericht, sie haben ohne Genehmigung im Wald geschlagen, der Förster hat alles beschlagnahmt, was die Bellerser nicht akzeptieren, störrisch haben sie es dem Förster wieder abgenommen, sie wollen es als Baumaterial für das Haus des Küsters nutzen. Daraufhin fordern die Haxthausens 20 Taler von ihren Untertanen, die ihrerseits Klage gegen ihre Herren erheben, zuerst in Paderborn, dann in Speyer. Irgendwann geht es um einen Graben auf dem Schmandberg und um die Frage, ob der Graben das Waldstück markiert, in dem die Bellerser schlagen dürfen oder nicht, auch das Mastgeld ist von Bedeutung, das bezahlt werden muss, um Schweine darin zu treiben, ich komme nicht ganz mit.

1780 stirbt Pastor Böger. Krus notiert akribisch seinen Hausstand: „Im Pastorat werden vorgefunden: In der Stube eine Bettlade mit Gardinen mit einem Unterbett, zwei Kissen und zwei Pfühlen (Daunenbetten); ein Tisch; sechs neuwertige Stühle; drei alte Stühle; zwei kleine Tische; zwei Fensterläden, neun einfache Bilder; eine Flinte; sechs Karthienne“, hier macht Krus ein Fragezeichen, offenbar weiß er auch nicht, was das sein soll, ich google, finde vier Einträge, alle auf portugiesisch, außerdem Bilder, einmal eine freundliche Ärztin, die auf die stilisierte Darstellung einer Gebärmutter deutet, außerdem eine Frau mit Lupe vor dem Gesicht.

Ich lese und lese, 1788 schreibt Winkelhan, der mutmaßliche Mörder des Soistmann Berend, einen Brief aus Algier an den Fürstbischof in Paderborn, er bettelt, man möge ihn aus der Sklaverei freikaufen. Vergeblich, sein Gesuch wird zu den Akten gelegt, solche Bittschriften, notiert Krus trocken, gehörten zum Geschäftsmodell des damaligen Sklavenhandels.

Ich überblättere strenge Winter, Namensregister, statistische Erhebungen, auch einen Jungen, der tödlich vom Huf seines Pferdes getroffen wurde. 1936 halten Bellerser Schweine den Wagen von Adolf Hitler auf, der Hirt vertreibt die Tiere von der Fahrbahn, Hitler steigt aus, bedankt sich mit Handschlag. Am Ende bleibe ich bei einem Eintrag von 1956 hängen, ein Lehrer schickt seinen Schüler Terpentin holen, übergießt damit den Nachbarshund, ein Freund des Lehrers steckt ihn in Brand. Die Putzfrau hört das Jaulen und Winseln, findet und löscht das brennende Tier mit einem Eimer Wasser, es ist schwer verletzt, der Metzger tötet es mit einem Bolzenschuss. Vor Gericht behauptet der Lehrer, er habe dem Hund nur eine Lehre erteilen wollen, um ihn von seiner Hündin fernzuhalten. Der Freund gibt an, er habe das Tier keinesfalls anzünden, ihn mit der brennenden Lunte lediglich vertreiben wollen. Sechs Wochen Gefängnis ohne Bewährung. Sie gehen in Revision. Es bleibt bei vier.

Es wird spät, aber ich lese weiter, es geht um die Bundestagswahlen, um den Stand der örtlichen Viehhaltung, aber auch um Schützenfeste und den steigenden Wasserverbrauch, irgendwann schrecke ich auf, das Licht brennt noch, draußen dämmert es wieder, ich liege halb auf der Chronik, aufgeschlagen, ein bisschen ver­knickt. Herbst 1990. Die Kläranlage bekommt einen zweiten Block, außerdem einen Schönungsteich.

Schönungsteich, denke ich, als ich Zähne putze. Schönungsteich, als ich Kaffee koche. Ich gehe vor die Tür, laufe in die Bruchtauen, passiere die Anlage, den Tümpel, in der eine Ente sitzt. Schönungsteich, denke ich.

Mehr von Yannic Han Biao Federer

Vier: Der Archivar

Frederik reicht mir ein schweres Buch über den Tisch, der Umschlag waldgrün. Kleine Chronik des Dorfes Bellersen. Der Autor ist ein Horst-D. Krus. Schenk ich dir, sagt Frederik. Oh, wow, sage ich. Das Kind steht im Flur, lugt schüchtern in die Küche, versteckt sich dabei halb hinter der Mutter, ich sage hallo. Das Kind heißt Antonia, die Mutter Andrea, beide sind kränklich und heute zu Hause geblieben, erzählen sie. Antonia quengelt etwas, aber als ich mit Frederik aus der Haustür trete, läuft sie uns neugierig hinterher, ich winke, sie winkt, dann wird es ihr unheimlich, sie rennt zurück in die Küche. Was denn?, höre ich Andrea von dort. Was ist denn?

Draußen erzählt Frederik von Horst Krus, dem ehemaligen Kreisarchivar, kürzlich verstorben, ein herber Verlust für das Dorf und die ganze Region. Er führt mich durch das Werkhaus, dem Vereinssitz, zeigt mir eine Ausstellung, die Krus noch selbst kuratiert hat. Es geht um einen Mordfall, um Hermann Georg Winkelhan, der den jüdischen Händler Soistmann Berend hinterlistig ermorderte und dann floh. Um die von Haxthausens, das örtliche Adelsgeschlecht, das damals über Bellersen herrschte, und um die Tochter einer geborenen von Haxthausen, Annette von Droste-Hülshoff, die aus Winkelhan den Protagonisten ihrer Novelle „Die Judenbuche“ machte, Friedrich Mergel, das Opfer hieß dort schlicht: Aaron. Würde man heute alles anders machen, sagt Frederik, deutet auf die Exponate, aber trotzdem, damals haben wir einen Preis bekommen. Aha?, mache ich und fotografiere die Schautafeln, damit ich sie später in Ruhe lesen kann. Krus sei ein Getriebener gewesen, habe einen unendlichen Forscherdrang gehabt. Zuletzt habe er sich Arabisch beibringen wollen. Ich blicke auf. Aha?, mache ich wieder. Die deutschen Archive seien so schlecht, habe er immer gesagt. Er habe in Algier recherchieren wollen, wo Winkelhan in Gefangenschaft und Sklaverei geraten sei, bevor Napoleon ihn freikaufen ließ. Aha, mache ich. Und dann, zack bumm, sei er tot umgefallen, einfach so. Das habe keiner erwartet. Frederik schüttelt den Kopf. Schlimm sei das für das Dorf. Für den Verein. Schweigend gehen wir durch die Ausstellung, ich trete so weit von den Sperrholzwänden, wie möglich, um alles ins Objektiv zu bekommen. Er könne mir sein Haus zeigen, sagt Frederik irgendwann. Wessen Haus?, frage ich.

Warte hier, murmelt er, geht über die Straße, ich bleibe stehen, sehe an der Fassade hinauf, roter Klinker, Efeu und wilder Wein, nebenan ein schief stehender Verschlag mit Feuerholz, das feucht aussieht, der Garten ein Urwald, Gestrüpp und Sträucher mit verholzenden Stämmen. Der Aufgang zur Tür ist überdacht, eine Sitzbank mit Aschenbecher, der angefüllt ist mit verblichenen Zigarettenfiltern. Dann steht Frederik hinter mir, ein klingender Schlüsselbund in seiner Hand.

Innen riecht es, modrig und schwer. Moment, sagt Frederik, geht hinein, ein blechernes Geräusch, dann das Klicken eines Schalters, endlich Licht. Staub liegt auf dem Boden, vor einer alt gewordenen Tapete hängen Bilderrahmen, ein Glückwunschschreiben adressiert an den Kreisarchivar a.D., eine Urkunde, daneben das Bellerser Wappen als Schnitzarbeit aus dunklem Holz. Links geht ein Raum ab, Bücher bis unter die Decke, in den Regalen, vor den Regalen, in der Mitte des Raumes stehen Regale gestapelt. Er hat alles gesammelt, sagt Frederik, alles, was mit der Region zu tun hat, oder mit Irland, Irland war ein Hobby. Mhm, murmle ich, während ich die Buchrücken abgehe, sein Ablagesystem zu verstehen versuche. Die Säugetiere Westfalens. Die Amphibien und Reptilien Westfalens. Die Avifauna von Westfalen. Darunter: Die Geschichte des Corveyer Waldes. Verbreitungsatlas der Farn- und Blütenpflanzen Nordrhein-Westfalens. Historische Landkarten Europa. Dann eine Illustrierte Geschichte der Medizin in sechs Bänden. Ein biographisches Lexikon in zehn Bänden. Ein Nachschlagewerk zum Deutschen Aberglauben in zehn Bänden. Neben der Tür ein beinahe mannshoher Stapel von Jahrgangsbänden der Westfälischen Forschung, außerdem vierunddreißig Bände Grimm-Gesamtausgabe. Abwesend streife ich durch die Räume, lege den Kopf nach links, nach rechts, nach links. Burgenkunde. Europas Wehrbau. Die deutsche Stadt im Mittelalter. Jüdische Literatur in Westfalen. Historische Orgeln. Barock in Westfalen. Wie viel Geld hier drin steckt, sagt Frederik, sieht sich um. Er muss jeden Cent in Bücher investiert haben. Ja, sage ich, kniend, um mir die Bände in den unteren Fächern anzusehen. Lexikon für Theologie und Kirche. Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Lexikon der Philatelie.

Wir haben schon etwas aufgeräumt, aber du siehst ja selbst, er zeigt auf einen schiefen Stapel Unterlagen, Broschüren und Ordner. Plötzlich ein Menschenschädel, grinsend starrt er zwischen Buchrücken hervor. Hm, ja, macht Frederik. Horst Krus war der Meinung, jeder große Denker müsse einen Schädel besitzen. Frederik zuckt mit den Schultern. Mir fällt ein: Goethe hat sich Schillers Schädel auf einem blauen Samtkissen bringen lassen. Er soll einen geblümten Gehrock getragen haben, während er in Schillers Mundhöhle umherfingerte.

Oben geht es weiter, mehrere Regalmeter voll nummerierter Aktenordner. Das ist die Chronik, sagt Frederik, zieht einen heraus und schlägt ihn auf. Ausgeschnittene Zeitungsartikel auf Kopierpapier geklebt, handschriftlich daneben Datum und Quellenangabe, manchmal zusätzlich mit Schlagworten versehen, dann in Klarsichthülle abgeheftet. Was für eine Fleißarbeit. Er hat alles archiviert, dokumentiert und abgelegt, alles, erzählt Frederik, während er den Ordner zurück ins Regal schiebt. Und das da ist das Fotoarchiv, ich drehe mich um, bemerke jetzt erst die Stapel von grauen und schwarzen Dia-Behältern. Bei jedem Dorffest, bei jedem runden Geburtstag ist er vorbeigekommen, hat fotografiert, das ist alles hier abgelegt, sagt er. Langsam wird mir klar, was hier lagert, zwischen staubigen Teppichen, vergilbten Tapeten, es ist das kollektive Gedächtnis eines Dorfes. Wahnsinn, sage ich. Wahnsinn, mehr bringe ich nicht heraus.

Frederik erzählt von Anträgen, die sie gestellt hätten, von einem riesigen Projekt. Sie wollten die Bibliothek unbedingt erhalten, das Archiv, und die Dias müssten digitalisiert werden. Unten solle ein Begegnungsraum für das Dorf entstehen, oben vielleicht ein Atelier für Kunstschaffende, Schreibende, wer auch immer sich mit Bellersen beschäftigen wolle, mit seiner Geschichte, mit der Region.

Am Ende des Ganges ein dunkles Zimmer, schemenhaft erkenne ich ein breites Doppelbett, darüber einen Bilderrahmen, verstreut stehende Möbelstücke. Ah, mache ich, das ist das Schlafzimmer gewesen? Nein, Frederik schüttelt den Kopf. Das war das Schlafzimmer seiner Eltern. Es wirkt unverändert, wie die Eltern es zurückgelassen haben. Echt? Frederik nickt. Das hat er also auch archiviert, murmle ich. Wir schweigen. Hm, ja, macht Frederik dann. Draußen dämmert es.

Ich gehe über die Straße, sehe mir von dort das Haus an, für einen Moment wirkt es beinahe belebt, bewohnt, aber innen läuft Frederik durch die Räume, ich höre seine Schritte, nach und nach erstirbt das Licht in den Fenstern, bis alles dunkel ist, verlassen liegt es da. Die Haustür scheppert hohl im Rahmen, dann kommt Frederik die Treppe herunter. Der Garten, sagt er, zeigt mit dem Daumen über die Schulter, wie er die Fahrbahn quert, ist eigentlich auch eine Sammlung. Er hat sich für Botanik interessiert, alle möglichen seltenen Pflanzen hat er da draußen gehabt, konnte dir genau sagen, was das eine ist und was das andere. Aber jetzt, Frederik guckt zurück, jetzt ist es ein Dschungel.

Mit der Chronik unterm Arm laufe ich durchs Dorf, die Laternen springen an. Als ich die Tür aufschließe, brüllen die Rinder von der Weide.

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Zwei: Totholzhaufen

In den Wald, immer tiefer, irgendwo bin ich falsch abgebogen und zu stur, um umzukehren, es wird schon gehen, irgendwie. Anfangs noch eine ganze Reihe von Symbolen und Kennziffern für verschiedene Wanderrouten, A20, A21, AW, Historischer Agrarwanderweg, Droste-Hülshoff-Rundweg, jetzt aber nichts mehr, die Bäume ohne Hinweisschild, ohne Pfeil und Entfernungsangabe, ohne Logo des Regionalmarketings, manchmal liegen umgeknickte Buchen und Eichen auf dem Trampelpfad, manchmal versinkt der Weg in Schlamm. Irgendwann breche ich durchs Unterholz, stehe am Rand einer Weide, dahinter geduckte Hügelketten, davor ein Holzverschlag mit Wellblechdach. Links eine kleine, verlassene Ansammlung von Fichten oder Tannen. Dann, in einiger Entfernung, wieder Wald, aber nicht sehr dicht, blaues Licht schimmert zwischen den Stämmen hindurch. Darüber Windräder in unregelmäßigem Abstand, aber immer weit genug, um sich nicht in die Quere zu kommen.

Ich folge der Baumgrenze, in den Wipfeln lärmen Vögel, als ich näherkomme, verstummen sie, schweigend fliegen sie auf, wechseln den Baum, dann geht es wieder los. Später das Gleiche noch einmal. Als hätten sie Interna zu besprechen.

In der Ferne ein Windrad mit doppelter Rotorzahl, ich staune, dann erkenne ich, es sind zwei, das eine vor dem anderen, wie eine Tanzchoreographie.

Einmal bleibe ich stehen, blicke zurück, sehe mir das Dorf an, wie es daliegt, eingefasst von braun und grün, über den Dächern eine niedrige Wolkendecke, ich beobachte, wie sie absinkt, sich zu Boden reckt, sich ergießt. Abseits hellt es auf.

Jetzt regnet es auch bei mir, sobald ich den Schirm aufspanne, hört es auf, ich packe ihn weg, dann fängt es wieder an.

Der Wald steht locker, manchmal hat er breite Schneisen davongetragen, mir fällt der Geruch von brennendem Kaminholz ein, der mir in die Nase stieg, als ich in Bellersen aus dem Bus getreten war. Anderswo schließt es sich schon wieder, struppiges Geäst, störrisch und bräunlich steht es da, von Moos unterfüttert, undurchdringlich auch für den, der eine Axt mitbrächte. Es wehrt sich.

Man sieht so viel. Es ist ein Problem. Weil ich immerzu stehen bleiben muss und tippen muss, dass mir die Finger frieren, ich sollte gehen, später schreiben, aber dem Kurzzeitgedächtnis ist nicht zu trauen.

Mitten im Gestrüpp: Schneeglöckchen. Sie lassen den Kopf hängen, schwächlich blicken sie zum Moos. Ich kann es ihnen nachfühlen, es ist kalt und feucht. Und hinter ihnen, tiefer noch, kleine Kolonien zwischen schmalen, blattlosen Bäumen.

Immer wieder Wege, die unscheinbar ins Abseits führen, sie locken mich, aber ich gehe weiter, will nicht verschwinden zwischen Totholzhaufen und Gesträuch.

Abseits eine Amsel. Sie warnt. Vor mir.

Irgendwo eine Motorsäge. Anderswo ein Specht. Alles arbeitet hier. Auch das Moos. Es klettert die Stämme hinauf, störrisch.

Seit Stunden kein Mensch, niemand, nirgends.

Überall Hochsitze, mir fällt auf, ich trage eine braune Jacke, gehe querfeldein, jetzt werde ich nervös. Ich mache auslandende Schritte, schlenkere mit den Armen, als könnte ich auf diese Weise weniger mit einem Hirsch verwechselt werden.

Plötzlich eine Lichtung abseits des Weges, ich trete ins Offene, in die Sonne, wo es warm ist, Baumstüpfe, weißlich emporquellende Pilze, das Gras kniehoch, dazwischen ein schmaler Pfad. Dann fällt die Wiese ab, ein Hang, irgendwo fliegt ein Greifvogel auf, ich störe schon wieder. Unsichtbar, aber hörbar, die Landstraße Richtung Bellersen. Wie komme ich dorthin? Ich gehe weiter, pötzlich das Logo des Historischen Agrarwanderwegs, dann eine Schautafel mit einer Karte der umliegenden Ländereien, unterteilt nach Eigentümern: Freiherr von der Borch, Graf von der Asseburg, Stadt Marienmünster, Stadt Brakel, Freiherr von Haxthausen, ich glaube, das ist Verwandtschaft von Droste-Hülshoff.

Den Hang hinunter, über die Landstraße, über den Bach, der Brucht heißt, jetzt dämmert es. Rechts eine matschige Piste, sie führt zurück in den Wald, ich würde gerne, aber bald ist es Nacht. Einmal ein Hochlandrind, grimmig guckt es über den Zaun, Augen verborgen unter brauner Zottelmähne. Dann eine Kläranlage. Dann das Ortsschild.

Mehr von Yannic Han Biao Federer

Eins: Wendeplatz

Es ist schon spät, als ich meinen Koffer packe, ich stehe zu lange am Bücherregal, kann mich nicht entscheiden, am Ende vergesse ich den Droste-Hülshoff-Band, den ich auf jeden Fall mitnehmen wollte, er fällt mir erst am nächsten Morgen wieder ein, als ich schon zur Stadtbahn hetze. Stattdessen habe ich Frost von Thomas Bernhard eingepackt, ein Famulant reist im Auftrag seines vorgesetzten Assistenzarztes nach Weng, ein kleiner, düsterer Ort, so schildert es der Erzähler, die Menschen dort seien kleinwüchsig und schwachsinnig, die Wirtin macht ihm Avancen, die ihm sehr zuwider sind, der Maler, dem er nachspionieren soll, ist der Bruder des Assistenzarztes, er ist voller Hass, der Erzähler hilflos, hinter Wuppertal lege ich das Buch zur Seite, ich merke, es ist das falsche, jetzt gerade ist es das ganz falsche.

Ein ältlicher Mann setzt sich neben mich, er ächzt etwas und riecht, außerdem trägt er eigenartige Kopfhörer, sie sehen aus wie die Modelle, die man aus den Nachrichten kennt, wo sie am Kopf von Vladimir Putin klemmen oder an dem von Angela Merkel. Der Mann aber hat keine deutsch-russische Übersetzung im Ohr, vielmehr ein bassloses Scheppern, ich glaube Run DMC, er wippt mit dem Bein, ich sehe aus dem Fenster.

Dann eine Frau in Blazer und Bluse, sie isst ein komplex belegtes Brötchen, ich entdecke Ei, aber auch Frikadelle und Gurke. Als sie aufgegessen hat, wischt sie sich den Mund mit einer Serviette, kurz darauf ist sie eingeschlafen, hängt mit der Stirn an der Fensterscheibe, hinter der ein Waldrand vorüberzieht. Wiesen. Himmel. Häuser am Siedlungsrand. Einmal ein langes, hallenartiges Gebäude, daneben ein schmales Silo, vielleicht Futtermais oder Soja aus Brasilien. Die Bahn leert sich.

Altenbeken, Bad Driburg, die Frau schläft noch immer. Ich frage mich, ob ich sie wecken sollte. Hinter ihr dunkeln die Felder, sie atmet, als träumte sie. Die Ställe. Die Höfe. Manche verlassen, andere mit mehrstöckigen Anbauten. Die Dämmerung.

Am Brakeler Bahnhof eine Reihe von Bushaltestellen, an keiner ist Bellersen angeschrieben, gegenüber noch mehr Bushaltestellen, also gehe ich über den Zebrastreifen, zwei Kleinwägen müssen halten, einer links, einer rechts, beide von Opel, aber nur einer mit Duftbaum. Ein Bus mit geöffneter Tür, der Fahrer raucht aus dem Fenster, ich frage nach der 585, er sagt, von Nummern weiß ich nichts, wohin willste denn? Nach Bellersen, sage ich. Er nickt. Da fährste gleich mit mir, aber drüben einsteigen, hier darfste nicht. Danke, sage ich, ziehe meinen Koffer zurück über den Zebrastreifen, diesmal ein Mazda links, ein Audi rechts.

Ich bin der einzige Fahrgast, schaue hinaus. Drei Männer auf einem Parkplatz, gemeinsam starren sie auf das Heck eines BMW. Ich gucke auch hin, kann aber nichts entdecken. Dann Supermärkte. Ein Rossmann, der aussieht wie ein Edeka. Ein Rewe, der aussieht wie ein Aldi. Skulpturen vor der Sparkasse. Ein bisschen Fachwerk. Ein Skatepark, darauf kleine Kinder mit Fahrrädern und Tretrollern, keine Halbstarken in Baggypants, kein 50-50 an der Curbbox, kein Heelflip auf der Quarterpipe. Dann freies Feld. In der Ferne Kräne und Einfamilienhäuser, eine Scheune. Windräder.

Ein Wald. Ein Bach. Eine Weide. Im Gras steht das Wasser. Höfe, Scheunen, keine Menschen, manchmal ein Auto, das uns entgegenkommt. Strommasten. Verstreut stehende Neubauten mit Solarzellen auf dem Dach. Eine Rutsche.

Dann biegen wir ins Dorf, die Straße windet sich durch den Ort, die letzte Haltestelle heißt Wendeplatz, ich steige aus und tatsächlich, der Bus macht kehrt, lässt mich zurück.

Hohl klappert mein Koffer auf dem Pflaster. Schöne Fachwerkhäuser, beinahe imposant, eine schlichte Kirche, ich glaube romanisch, eine Porzellanwerkstatt, kurz darauf ein Altbau, die Fenster schmutzig, wildes Gestrüpp, das am Gemäuer emporkriecht. Am Ende des Dorfes wird es kühl, ein paar Kühe stehen auf der Weide, ratlos, als hätten sie vergessen, was sie zwischen Tümpel und Holzverschlag verloren haben. Dann finde ich die Straße, die ich mir notiert habe, die Rezeption ist geschlossen, aber ein Umschlag klebt an der Tür, ich löse das Tesa, finde meinen Schlüssel. Innen taste ich nach dem Schalter, mache Licht, trete ein. Leise ticken die Nachtspeicheröfen, ein kleiner Wlan-Repeater blinkt in der Wand.

Nichts. Gar nichts. Ich höre nichts. Es fühlt sich an wie Druck auf den Ohren. Dann tippe ich weiter. Die Tastatur klappert. Es hilft.

Am Morgen wache ich auf, tappse ins Bad, es ist kalt, ich fummle am Elektroheizkörper, aber er will nicht anspringen. Als ich mich gewaschen habe, mache ich Kaffee, sehe aus dem Fenster. Erst Schneeregen. Dann nieselt es, fein, fast unmerklich. Gerade setze ich mich an den Schreibtisch, da klopft es. Ich stehe auf, gehe zur Haustür, die aus Glas ist, ich kann niemanden sehen. Ich öffne, schaue nach links, nach rechts.

Den Vormittag verbringe ich am Romanmanuskript, dann bekomme ich Hunger. Ich ziehe mich an, Jacke, Schal, Mütze, draußen ist es kalt. Als ich die Haustür hinter mir ins Schloss ziehe, spüre ich es nasskalt in der Handfläche, es ist weiß und grünlich, auf dem Türknauf auch, ein Vogel muss seine Kloake darauf entleert haben. Ich gucke mich um, als könnte der Übeltäter noch irgendwo im Gebüsch sitzen, hämisch zwitschern, aber nur leere Sträucher um mich her. Keiner da.

Nachmittags bin ich zurück und müde, ich versuche zu lesen, schlafe aber ein, als ich aufwache, klopft es. Ich horche, schleiche zur Tür. Niemand.

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