Spiritueller Sommer 2017, Prolog

Ich sitze im kältesten Zug NRWs. Auch bei 28 Grad Außentemperatur habe ich extra für diese Fahrt mit dem Abellio immer einen Schal dabei. Andere Passagiere müssen auf Stofftaschen oder mitreisende Hunde zurückgreifen und ungelenk versuchen, sich diese um den Hals zu legen. Wenn Schal, Beutel und Cocker Spaniel fehlen, kann man immer noch später im Krankenhaus auf eine Halskrause wegen steifem Nacken hoffen und hat dann immerhin schon mal einen Kälteschutz für die Rückfahrt.

In der linken Hand halte ich Kafkas Brief an den Vater und scrolle mit der rechten auf meinem Handy durch Facebook – Mindy Kaling ist schwanger?! – als wir stehen bleiben. Wir stehen. Und stehen. Haben die Stadt.Land.Text-Götter mitbekommen, dass ich mich Richtung Regionsgrenze begebe und schnell die Notbremse gezogen? Dann kommt die Durchsage: Personenschaden. Polizeieinsatz. Es wird dauern.

Eigentlich wollte ich zu McDonalds im Hagener Hauptbahnhof fahren, weil ich dort gut schreiben kann. Bei McDonalds im Hagener Hauptbahnhof erhebe ich mich über den kreischenden Fast-Food-Wahnsinn und finde mich in Zen-Konzentration wieder. Zu meinen Ausflügen an diesen besonderen Ort trage ich extra lange Röcke, damit niemand sieht, dass ich schwebe. Nicht auf so eine angeberische Guck-mal-was-ich-kann-Art, in der Jesus übers Wasser lief. Nur ein bescheidenes Vier-Zentimeter-über-dem-Boden-Schweben.

Worüber ich schwebend bei McDonalds schreiben wollte: Entschleunigung und Meditation und den Spirituellen Sommer 2017. Der Spirituelle Sommer 2017 wird vom Netzwerk „Wege zum Leben. In Südwestfalen“ organisiert und bietet über drei Monate verschiedenste spirituelle Angebote inner- und außerhalb christlicher Tradition. Ich wollte über spirituelle Orte in Südwestfalen schreiben, auf die ich mich freue, und meinen eigenen Spirituellen Sommer 2017 einläuten.
Ich übe mich also in einer ersten spirituellen Tugend: Geduld. Vielleicht gibt es gar keinen besseren Ort, über Entschleunigung nachzudenken, als einen stehenden Zug?
In Letmathe, ein Ort, der mir bisher vor allem aufgefallen ist, weil dort der Zug von Essen nach Siegen geteilt wird, bietet sich eine prima Gelegenheit, inne zu halten und zu lernen, mal genauer hinzusehen.

                                        Stillleben, Letmathe, oder: Warum ich keine Fotografin bin ©lka

Auf den ersten Blick denke ich, „Toll, nen Bahngleis, ne Lagerhalle und ein paar Bäume. Was soll ich da jetzt sehen?“. Dann entdecke ich Drahtrollen, entdecke einen Felsen und stelle fest: Das, was ich sehe, entspricht genau dem, wie ich Südwestfalen in den letzten Wochen erlebt habe. Atemberaubend grüne, felsige Landschaft, ganz viel Industrie mit Fokus auf Draht. Oder ist das, was ich durchs Fenster sehe, Stahl? Eisen? (Randnotiz: Ich muss dringend ins Drahtmuseum nach Altena.) Ich starre 20 Minuten auf meine kleine Welt, begrenzt durchs Zugfenster, atme ein und aus, bin einfach da.

Beinahe gelingt es mir sogar, den selbstgerechten Typ auszublenden, der mittlerweile seinen dritten Anruf tätigt, um sich zu beschweren. Aber nur beinahe. Ich habe – nicht ganz spirituell – ein eigenes Fach in meinem inneren Apothekerschrank der kleinen Gemeinheiten für Menschen wie ihn reserviert. Leute, die bei „Personenschaden“ im Zug laut aufstöhnen und in einen Monolog über den Egoismus des Selbstmörders ausbrechen. Heute wird die unsympathischste Performance von diesem Mann abgeliefert, der sich in bester Klischee-Bösewicht-Manier durch sein Donald Trump, Jr.-Gelhaar fährt und sich gerade in Rage geredet hat, „man kann sich ja auch einfach zu Hause umbringen“, als sein Kopf beginnt zu qualmen. Erst kaum sichtbar, dann so sehr, dass Eiszapfen von der Zugdecke klirrend zu Boden fallen.
„Ich hab noch gesagt, ich fahre mit dem Auto. Hätte ich mal! Wegen dem müssen wir jetzt hier bestimmt noch ne Stunde oder so stehen. Scheiße!“ Er merkt nicht, dass er mittlerweile in Flammen steht. Er brennt kurz aber heftig und als nur noch Staub übrig ist, sind wir froh, ihn los zu sein. Ein bisschen wärmer ist es auch.

Dann, das Undenkbare: Bewegung. Nicht unsere eigene, aber die eines benachbarten Güterzuges.
Bomben rollen an uns vorbei, riesige Bonbons auf einem Fließband. Werden sie in wenigen Wochen in einem fernen Land über eine Stadt fallen, wie von einem stark erkälteten Drachen ausgehustet?

„Das nenn ich mal Turbinen, ne?“, sagt ein Mann irgendwo hinter mir. Achso, Turbinen, auch gut.
Ich bin immer so damit beschäftigt, Leute auszublenden, um in Zügen lesen und schreiben zu können, dass ich ganz verlernt habe, mal zuzuhören.
Hinter mir ein lauter werdendes Gespräch einer Clique, die zum einem Festival unterwegs ist. Es geht um Feminismus, eine Frau sagt:

„Was die Gesellschaft uns als Fortschritt verkaufen will, ist doch, wenn Polinnen und Rumäninnen für uns putzen und Babysitten, während wir zum Yoga gehen. Als ob wir nicht merken würden, dass solche Arbeit dann immer noch ausschließlich von Frauen gemacht wird.“
Interessant, so habe ich nie drüber nachgedacht.

Ich nehme mir vor, in den nächsten Wochen mehr zuzuhören, mehr nach außen zu schauen, nicht alle Antworten in mir selbst finden zu wollen. Ich starre eine weitere halbe Stunde bewegungslos aus dem Fenster, lasse Letmathe auf mich wirken, höre zu. Ich bin völlig durchgefroren. Ich bin völlig frei.
Die Fahrt geht weiter. Fast bin ich ein bisschen enttäuscht.

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