Für stadt.land.text auf Instagram oder: Tag 0. Mein Leben vor Instagram
5. April 2020
Liebes Tagebuch, oder: Tag 0. Mein Leben vor Instagram.
Es ist ein kalter, windiger Tag im November 2019. Nein, es ist kein schlechter Romananfang. Es ist ein Hüttenwochenende mit meinen Mädels. Außer mir hat jeder Instagram. Zwischen Unmengen an Frühstückszeug, ähnlich einer Löwenfütterung, werden Instagram-Posts angesehen, wie man das eben macht, unter Freunden, in der Natur, ohne Strom und mit begrenztem Handyakku. Falls wir überraschend eingeschneit werden – oder überfallen – sind wir immerhin auf dem Laufenden gestorben. Zwei von uns finden Typen XY gutaussehend, zwei finden, er sieht aus wie ein Bauer (no offense, sie meinten keine richtigen Landwirte, keine, die mit echten, lebenden Tieren arbeiten, die finden die Mädels nämlich wiederum heiß, nein, so einer der aussieht wie ein Bauer, aber in Wirklichkeit zwei linke Hände hat, das ist wohl am Schlimmsten). Ich habe keine Ahnung, von wem sie sprechen. Ich will ein Foto sehen, weil ich die entscheidende Mehrheit in unseren basisdemokratischen Abstimmungsverhältnissen bilde. Wir müssen uns dafür durch die Fotos seiner Freundin zippen. Ich habe in meinem Leben davor, meinem tristen, leeren, instafreien Leben (ja, so etwas gibt es! Ich sage euch, man überlebt, aber Spaß macht es natürlich nicht, nein, wirklich nicht, ja, ich weiß, nein, ich meine es ernst) vielleicht zwei „Insta-Bilder“ gesehen, die mir auf fremden Handys vor die Nase gehalten wurden, und stelle jetzt fest: Instagram ist genau so wie ich es mir vorgestellt habe. Und genau das der Grund, warum ich es nicht habe und nutze. SommerSonneStrand-Fotos, peinlich gefiltert, reihen sich aneinander. Besser gesagt: SummerSunBeach-Pics, ist ja jetzt alles auf Englisch, selbst, wenn es bei den meisten nur für das Basisvokabular vom letzten All inlusive-Urlaub reicht.
Alles entspricht meinem Klischee so gut, übertrifft es, dass ich kurz erschüttert bin. Normalerweise sieht man sich Sachen ja näher an, damit die eigenen vorurteilsbehafteten Klischees widerlegt werden und man mit ganz neuen Augen darauf sehen kann. Bei Instagram hätte ich das mal lieber nicht getan. Meine Vorstellung und die Realität ist wie Faust auf Auge. Es tut weh. Die Bilder sehen für zwei ungeschulte Augen wie meine quasi gleich aus (dass das der „Filter“ macht, habe ich mittlerweile begriffen) – außer, dass unsere Bekannte auf jedem Foto ein anderes Outfit trägt, vielleicht ist auch ab und zu eine Müsli-„Bowl“ mit kunstvoll drapierten Bananenscheiben dazwischen, ich weiß es nicht mehr. Das Trauma muss eine partielle Amnesie hervorgerufen haben. Unter den Bildern steht so etwas wie: Wind in my hair oder hair in my wind, whatever. Ich schäme mich fremd, falls diese Person das noch nicht zu genüge getan hat, wovon ich ausgehe, weil sie mindestens einmal am Tag ein neues Foto von sich in die Netzwelt lädt. Wozu diese 5 Millionen Hashtags mit nichtssagenden Wörtern darunter gut sind, ist mir auch nicht klar. Ganz ehrlich: Wer hat denn Zeit, sich das durchzulesen? (Ja, ich denke da noch, dass es darum geht, sich das durchzulesen. Was ja ewig braucht, weil ohne Punkt und Komma und Leerzeile. Wofür hat die Menschheit denn Satzzeichen erfunden, wenn ihr es nicht nutzt? Mittlerweile bin ich diesbezüglich beruhigt: Mit unserer Gesellschaft ist es doch noch nicht so schlimm, wie ich damals dachte. Die Hahstags sind nicht unbedingt zum Durchlesen. Vielleicht machen das manche doch. Deshalb verwende ich sinnlose, aber witzige Hashtags. Also witzig für mich. Ich muss sie ja auf jeden Fall mindestens einmal lesen.)
Ich rolle mit den Augen. Wind in my hair, ernsthaft? Wer hat für so etwas denn Zeit? Wen interessiert das denn? Bin ich gerade innerhalb von 5 Minuten mindestens 5 Prozentpunkte dümmer geworden?
Es sind alles rhetorische Fragen. Ich fühle mich schwach, dumm, resigniert. Und müde, weil ich mich so echauffiert habe.
Wenn du ein Gedicht schreibst, interessiert das vielleicht auch nicht jeden, sagt meine Freundin. Jaaaa, stöhne ich von der Tischplatte auf, davon gehe ich aus. Aber ich poste das gleiche Gedicht ja auch nicht jeden Tag für die ganze Welt, damit sie es sich durchlesen muss.
Naja, schlauer auf jeden Fall, sagt meine andere Freundin.
Danke, denke ich, danke.