Unerwartete Schönheit

Die Nachricht über einen neuen Krieg in Europa ist wie ein Steinschlag, während der alte Krieg im Nahen Osten ungehindert weiterwütet.

Flüchtende, die nach Süden ziehen, stehen bei der vereinigten Welt niedriger im Kurs als die, die sich nach Norden wenden. Söldner aus dem Westen sind zunächst weniger gefährlich als die aus orientalischen Ländern. Heimlich über die Grenzen eingesickerte Kämpfer sind blutrünstiger als die, die mit Flugzeugen kommen. Beide jedoch lassen den Dollarkurs steigen und erschöpfen den Gemüsemarkt.

(https://weiterschreiben.jetzt/texte/rabab-haidar-kriegsbericht/ (2017)  

 

Verschmutzte Ozeane, ölverschmierte Möwen und an Sixpack-Ringen aus Plastik erstickende Schildkröten sind die einfachste Darstellung menschengemachter Katastrophen auf diesem Planeten – der Wechsel von Plastiktüten zu Tüten aus Papier scheint wenig zu bringen –, unsere bewusste Entscheidung für Avocado-Dressings als natürliche, vegane Alternative hat zu einem Avocado-Kartell geführt, wo parallel zu den Drogen-Kartellen in Mexiko Geld in falschen Kreisen zirkuliert.

Heutzutage ergeben Verschwörungstheorien mehr Sinn als Artikel mit politischen Analysen in findigen Zeitungen und Wirtschaftsmagazinen. Dass Aliens über die NASA Kontakt aufnehmen wollen, klingt nach einer vielversprechenden Nachricht, während die Theorie einer Weltherrschaft „dominanter, böser reptilischer Blutlinien“ eine Art ist, Korruption zu sehen.

Komm“, sagt ein Freund einladend, „das ist eine berühmte, alte Bar, die im Laufe der Zeit schon so einiges gesehen hat. Da gehen viele Künstler hin. Komm! Es ist schön da.“

Ich packe die Schwermut in eine kleine Tasche, doch sie rempelt mich weiterhin an, während ich versuche, in der eleganten und gemütlichen Bar eine Unterhaltung zu führen.

Unna“, schlägt mein Freund vor, „das ist ein nettes Städtchen für einen Ausflug.“

Der Kellner lauscht unserer Unterhaltung mit halbem Ohr und stimmt zu.

Also fahre ich nach Unna.

…..

Bei der Kirche, die sich in der westdeutschen Stadt natürlich mitten auf dem Hauptplatz breitmacht – oder hat sich eher der Rest der Stadt um die Kirche herum versammelt? –, beginnt die Hauptstraße von Unna, wo alte Häuser stolz die vergangene Zeit zeigen, während sie weiterbestehen, bescheidene, schöne, lebendige, braun-weiße Fachwerkhäuser.

Hinter einer Ecke verbirgt sich ein Garten, wie direkt auf einen etwas erhöhten Gehsteig gepflanzt, zu dem man über drei Stufen gelangt, mit bunten Stühlen und interessanten Tischen unter großen Bäumen, in denen Windspiele hängen, zarte und präzise, glasartige Melodien; „probier mal“, sagen die Glocken, also gehe ich die drei Stufen hinauf, ein altbekannter Trick der menschengemachten, aerodynamischen kinetischen Kunst!

Zwischen den Stühlen steht ein knallrosa Tisch mit einer alten Schreibmaschine und einem handgeschriebenen Schild neben einer Vogeltränke, an einer Mauer dahinter hängen alte Kompasse, recycelte Kunst, ein paar alte Vasen mit spielerischen, beinahe kindlichen Mustern, ein oranger Krug mit weit aufgerissenen Augen bemalt, er starrt uns an und wir starren zurück. Wer hat behauptet, Kunst sollte ungefährlich sein?

Die Zeit steht still und das kinetische Element tut, was es am besten kann: täuscht Bewegung vor und manipuliert Raum und Zeit – besondere Merkmale der kinetischen Kunst. „Wie schön!“, sagen wir ehrfürchtig.

Beim Verlassen des wundersamen Kleiderschranks/Gartens fehlt ein Schild, um uns zu sagen, ob der Weg nach links oder rechts weitergeht, ein kleiner Durchgang zwischen zwei Gebäuden führt aber in einen kleinen Hintergarten oder vielleicht auch eine Hintergasse.

Die Hintergasse ist eine alte Hauptstraße mit Häusern aus Holz und Lehm, leise klingt Jazz aus einer offenen Tür, fordert uns auf einzutreten, so wie der Garten uns vorhin mit Farben und Glockenklängen eingeladen hat, heißen uns der Jazz und die offene Tür jetzt willkommen. Drinnen wird die Musik deutlicher, in einem kleinen Eingangsbereich hängen ein paar Bilder ohne Rahmen und eine Treppe mit rotem Handlauf führt zu einem Dachboden.

Oben auf der Treppe stehen Alice-im-Wunderland-Taschenuhren gefangen in einer klaren Flüssigkeit in Einmachgläsern auf einem langen Holzregal. Daneben befindet sich eine riesige Glühbirne befüllt mit einer dunkelblauen, meerartigen Flüssigkeit, auf die zwei winzige Taucher versuchen hinaufzuklettern.

Das befriedigende Gefühl, wenn man bereitwillig aus der Realität gerissen wird. „Wie schön“, sagen wir staunend.

Gegenüber von dem Glühbirnen-Meer steht ein Mini-Fahrrad mit einem Mini-Radler, der auf einer hölzernen Wolke schwebt, hinter uns an der Wand hängt ein Bild von einer Metallspirale, vor uns tickt eine Uhr und bewegt darin gefangene Mini-Leute, die immer wieder dieselbe Geste wiederholen.

Man fühlt die Botschaft, bevor man sie versteht. Kinetische Illusion, Ästhetik der Zeit!

Wer hat gesagt, kinetische Kunst wäre unschuldig? Es ist das Recyceln von Materialien und Produkten, nachdem Menschen und Zeit sie konsumiert haben, es ist die Wiederbelebung des Konsumierten, wer hat gesagt, Wiederbelebung wäre ein geschmeidiger Vorgang?

 

Outside, back in the old streets of Old Unna, where houses of dark timber and white clay stand straight, while time has folded back. high on a corner of two buildings hangs a statue of the last night’s guard of Unna, with a spear in one hand and a lantern on the other; a blast from 500 years ago.

As sustainability and recycling! Rethinking the problems we humans can shamelessly create, then the beautiful street art of Unna, sustainability and recreation, the Nowodworskis art house, the old brewery that becomes a part of an exhibition of light, light, is it possible the solution relies on individual endeavours? May individuals manage to be the change?

Can we?

Can Man carry the planet with one hand?

 

A Professional PTSD

[Hier geht’s zur deutschen Übersetzung]

My personal interpretation of the post-trauma stress is “the aftermath of facing the demolition of the world and witnessing the fragility of existence yet simultaneously, and unwillingly, observing the real monstrous human face. Disorder, means it sabotages your perception of the world, and of the humans, and of the existence, and of life.”

I left Berlin while I was still at an“Enchuldegung, welche U-bahn ist aus Alexander platz gehen, bitte?“ level of German language; the verb comes at the end of the sentence and the Germans use a very polite language so we start with “Enchuldegung” and end with “bitte”, those are the things I am sure of.

I used to be a professional traveller for more than twenty-five years, I visited almost 30 countries, and lived in four cities and tens of houses. leaving your “home”, fleeing a war and human destruction, is not like taking a flight ‚traveling‘ away for a vacation or adventure. The destination is vague, the road is more dangerous, the faces are darker, the hearts are heavier, uncertainty and doubts, your degrees are irrelevant, your knowledge of how to roam strange lands is not useful, the two languages you use are not enough, and the ugly face of humanity you once saw in war cannot be unseen, a permanent mental sear.

For all the facts mentioned above, I decide it is wise to wait for my man to come to visit me to determine how I might start my four months of my life in Dortmund as a Stadt-land-text writer, it is his homeland after all.

Raba, Seriously baby?” His face is frowning in concern on the screen in a video call.

here comes the argument that I am a better person than I really am “you are an intelligent, clever person, go out, walk around, meet people in coffee shops, in nice local bars, meet nice normal couples”

“Baby, the last time I went out to a normal Bar was in Prague, and there I met alocal ordinary nice couple, they suggested an ordinary threesome.. as a nice ordinary adventure, so no thank you” I argue back, and continue:

” I know what you don’t know, or maybe you don’t want to know: Humans can’t be trusted! This is a fact”

Eight years of war, the articles of fun facts about the PTSD will not help me, and three years of “auslanding” in Germany, with no tour guide to tell me what to avoid, only added to my mistrust in humans:

“.. Besides, I am not a white German dude.” I say it as if One final word to the wise!

This is prejudice Raba,” my boyfriend says ”do not put all people in such vicious suspicions”

“I am not going to argue about this now” I argue” I am trying to get to know the city I am trying to write about, and I am still lost!”

Silence.

“.. ah!” Says my man as in a moment of Eurekea! “Galleries, visit Galleries, you like art, don’tyou? They have a very strong theater movement in Dortmund,go and check its program, you trust theater, don’tyou? ”

Rabab Haidar

I choose to ignore his language-

It is nice to watch a loved one confused about how to defuse your mental jam and inner wounds, so he addresses you as a four years old kid trying to convince her to let go of the swing “let go of the swing, you like the rest of the play ground, you like the spring rocker, you want to check thespring rockerdon’tyou!”

Fact check: I indeed love art, I trust art, even more than the people who create the art, far more thanI trust history- which is mostly written by the victorious, and the non-lost.

SO,I shall go out to have a walk around the house, as my man suggested, around the park, in nature, to defuse the stress, watching dogs and kids playing in a faraway world from their attentive concerned parents. Around Bocciaplaygrounds, the Italian Roman game, the corner Indian kiosk-Späti just outside the park. I reach the road, the crossroad, to the other road, where the U-Tower is displaying white digital pigeons as a sign of peace on a background of the Ukrainian flag, Ukrainian war is the most recent human-made catastrophe, as if humans learned nothing of the horrible prices of war, what a surprise!

And hundreds of thousands of Ukrainians are fleeing the “ monstrous human face” again.

And.. what do we have here?

A restaurant with people standing on the counter drinking beer, a burger place called Olafs.

Mmmmmh!

Rabab Haidar

The place is full of locals; to say “locals” is a very pretentious assumption for one do not know for sure but almost always assume- but they seem like they are having fun. Some of them froze for a second watching me watching them from outside.

“This is a chance to prove my boyfriend wrong,” I think to myself.“Go to a local bar he says! Do not be prejudiced, he says!”

Recalling the last bar I went to in Berlin, in Wollank Street, the barman whispered “bye bye, whore” as I paid the bill while my man was still in the restroom.. Later on I discovered from the evaluations and reviews that the two brothers who own the Wollank Street bar for two years now are well reviewed as raciest A@$%^ L-I did not check the reviews beforehand. At that moment in time and space, the barman was still looking straight into my eyes with a wicked smile and a sparkle in his eyes, with no witnesses and no one to tell. I had to swallow the insult and wear my smile- for my man is so dear to me to upset him, every time, with what I know of the human heart!

Now, in this place of locals in Dortmund, I will enter with head held high; if they mistreat me I will be more than happy to make a scene, with witnesses this time- and to prove my boyfriend wrong: “Do not be prejudiced, he says!”

The beer was a local Moritz Fiege, a golden amber beer recommended by the young polite attendant.

Smiling he explains that the Hamburger place,today, on a once-every-three-months occasion, is hosting “from around the world cuisine,” and for my good luck today’s cuisine is from Greece!

The reservation was closed after twenty minutes of the announcement,, my nice bartender proudly declares, almost screaming in an attempt to be heard over the screams of the children. I look around: the parents are running with scarf and tiny hats in their hands, around the tables, behind the screaming children, the colorful little jackets beneath the benches under the chairs and on the floor.

I see the Shawarma, our Syrian Shawarma which is not Syrian but Turkish, its Turkish name meant “to turn” and in Armenia is Terna: “to turn“, then it is the Greek Gyros,

Olaf’s Gyros, is the Arabic/Turkish Shawarma, and the Armenian Terna.. 

Only if humans could move and adapt like the food does. Our dishes have a better life than us.. my guess is our stomach has no ego like our brains do. 

I order the pita bread to accompany the Tzatziki: Greek yogurt wrapped in cucumber: “Nojoumiah, which translates to “full of stars”, as we call it in my home town, the lazy Mediterranean city of Lattakia, or Laodicea as the old Greeks called it.

and now, the cold light Fiege beer is a blessing.

Looking outside the glass storefront – as the frightened and anxious foreigner I am- I start to count the adults who went outside for one last cigarette before they go: one white man, two white men, three white men, one white woman, one brown woman, looking inside to a brown man, smiling towards one white man, one kid running outside followed by one dad carrying a red hood and a small colorful jacket in his hand, one proud mother behind, the kid and I lock eyes for a second, thus the father smiles, the mother looks at me and smiles, I take a couple of minutes to remember to smile back, they are already walking away, I am smiling to no one now.

The dad is still trying to convince the kid to wear her jacket but managed to place the hat on her tiny head with two ponytails.

‚How many beautiful moments one can miss trying to protect-in order to heal- one’s inner wounds!‚ I dare to ask myself

The digital pigeons on the U-tower seem brighter now as the sky darkens since the time is sliding towards the night.

Rabab Haidar

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Vollzeit-posttraumatische-Belastungsstörung

[Click here for the English text]

Meine persönliche Auffassung der posttraumatischen Belastungsstörung PTBS ist: „die Nachwirkungen dessen, mit der Zerstörung der Welt und der Zerbrechlichkeit des Daseins konfrontiert zu werden, während man gleichzeitig und unfreiwillig das wahrlich monströse Gesicht des Menschen sieht. Störung bezieht sich auf die dadurch verzerrte Wahrnehmung der Welt und der Menschen und der Existenz und des Lebens.“

Ich habe Berlin verlassen, als mein Deutsch noch auf einem Level von „Enchuldegung, welche U-bahn ist aus Alexander platz gehen, bitte?“ war; das Verb kommt am Ende des Satzes und die Deutschen drücken sich sehr höflich aus, also beginnen wir mit „Enchuldegung” und enden mit „bitte“, das sind die Dinge, die ich sicher weiß, und dass der Alexanderplatz „der Platz“ ist, muss man in Berlin nicht weiter erklären.

Über fünfundzwanzig Jahre lang war Reisen mein Beruf, ich war in fast dreißig Ländern und habe schon in vier verschiedenen Städten und dutzenden verschiedenen Häusern gelebt. Vor drei Jahren habe ich mein letztes „Zuhause“ in Syrien verlassen. Aber ein Zuhause zu verlassen, vor Krieg und menschlicher Zerstörung zu flüchten, ist anders als auf dem Weg in den Urlaub oder zum nächsten Abenteuer in den Flieger zu steigen. Das Ziel ist unklar, die Wege sind gefährlicher, die Gesichter finsterer, die Herzen schwerer, Ungewissheit und Zweifel begleiten dich, alle deine Zeugnisse sind irrelevant, das Wissen, wie man sich in fremden Ländern bewegt, bringt dich nicht weiter, deine beiden Sprachen reichen nicht aus und das hässliche Gesicht der Menschheit, das du im Krieg gesehen hast, lässt dich nicht los, es hat sich für immer in dein Gehirn eingebrannt.

Also beschließe ich, erstmal mit meinem Partner zu sprechen, bevor ich entscheide, wie ich mein Leben in Dortmund als Stadt-Land-Text-Schreiberin angehen will – er ist Deutscher und das ist immerhin sein Heimatland.

„Raba, ernsthaft Baby?“ Auf dem Bildschirm sehe ich, wie er bei unserem Videochatbesorgt die Stirn runzelt.

„Aber, Baby“, jetzt kommt das Argument, dass ich ein besserer Mensch bin als ich eigentlich bin, „du bist ein intelligenter, schlauer Mensch, geh aus, mach Spaziergänge, triff Leute in Cafés, in netten Bars, triff nette, normale Paare.“

„Baby, das letzte Mal in einer normalen Bar war ich in Prag, und da hab ich ein nettes, normales Paar getroffen, und die haben einen ganz normalen Dreier vorgeschlagen … so als nettes, normales Abenteuer, also nein danke“, entgegne ich und fahre fort: „Ich weiß Dinge, die du nicht weißt und vielleicht auch nicht wissen willst: Menschen kann man nicht trauen! So ist das nun mal!“

Nach acht Jahren Krieg bringen mir die Artikel mit Fun-Facts über posttraumatische Belastungsstörungen nicht viel und drei Jahre „ausländern“ in Deutschland, ohne Guide, der mir sagt, was ich besser vermeiden sollte, haben mein Misstrauen anderen Menschen gegenüber nur verstärkt:„… Außerdem bin ich kein weißer, deutscher Kerl“, sage ich und denke, dass damit alles gesagt ist.

„Das sind Vorurteile, Raba“, meint er, „du darfst mit

Rabab Haidar

deinem gemeinen Misstrauen nicht alle Leute so über einen Kamm scheren.“

„Ich werde darüber jetzt nicht streiten“, sage ich streitend. „Ich versuche, die Stadt kennenzulernen, über die ich schreiben will, und fühle mich immer noch verloren!“

Stille.

„Ah!“, sagt er wie in einem freudigen Ausruf der Erkenntnis. „Ausstellungen, geh in Ausstellungen, du magst Kunst, nicht wahr? Und in Dortmund gibt es eine tolle Theaterszene, schau dir mal die Spielpläne an, du magst doch Theater, nicht wahr?“

Ich beschließe, seinen Tonfall zu ignorieren.

Es ist schön zu sehen, wie jemand, den du liebst, versucht, das Gewirr in deinem Kopf zu lösen und innere Wunden zu heilen, und dabei mit dir spricht, als würde er ein vierjähriges Mädchen überzeugen wollen, die Schaukel loszulassen: „Lass die Schaukel los, du magst doch den Rest vom Spielplatz auch, du magst die Federwippe, du willst doch auch auf der Federwippe spielen, nicht wahr?“

Aber es stimmt: Ich mag Kunst tatsächlich. Ich vertraue der Kunst. Sogar mehr als den Kunstschaffenden, noch viel mehr als ich der Geschichte traue – die meist aus Sicht der Sieger geschrieben ist, aus Sicht der Überlebenden.

Theater Dortmund und Oper also – ich komme!

Aber erst mache ich besser noch einen Spaziergang, wie mein Partner vorgeschlagen hat, zum Park, in die Natur raus, um Stress abzubauen, sehe Hunden und Kindern beim Spielen zu, in ihrer eigenen Welt, weit weg von den aufmerksamen Blicken ihrer besorgten Eltern. Ich gehe vorbei an einer Bocciabahn, einem alten Spiel, das schon die Römer kannten, an einem von Indern betriebenen Späti gleich neben dem Park und je weiter ich mich von dem Park entferne, desto enger werden die Straßen, desto draufgängerischer die Autofahrer, auf dem U-Turm leuchten digitale weiße Tauben als Zeichen des Friedens vor dem Hintergrund einer ukrainischen Flagge; der Krieg in der Ukraine ist die jüngste von Menschen verursachte Katastrophe, als hätten alle vergessen, welch schrecklicher Preis für Krieg zu bezahlen ist, was für eine Überraschung!

Und hunderttausende Ukrainer sind wieder auf der Flucht vor dem „monströsen Gesicht des Menschen“.

Und …oh, was ist das?

Ein Restaurant, wo Leute an der Theke stehen und Bier trinken, ein Burgerladen namens Olafs.

Mmmmmh!

Rabab Haidar

Dort tummeln sich die Einheimischen; ich kann sie von außen gut durchs Fenster sehen. (Davon auszugehen, dass sie „Einheimische“ sind, ist natürlich eine anmaßende Vermutung, denn man kann sich nie wirklich sicher sein, sondern eigentlich immer nur mutmaßen). Aber sie sehen aus, als hätten sie Spaß. Manche halten kurz inne und beobachten, wie ich sie durchs Fenster beobachte.

Das ist die Chance, es meinem Freund zu zeigen, denke ich mir. Geh in eine lokale Bar!, hat er gesagt. Hab keine Vorurteile!, hat er gesagt.

Ich muss daran denken, als ich das letzte Mal in Berlin in einer Bar war, das war in der Wollankstraße, da hat der Barkeeper mir zugeflüstert: „Bye bye.. whore“, während mein Partner noch auf der Toilette war und ich die Rechnung bezahlt habe. Später habe ich beim Lesen der Bewertungen herausgefunden, dass die beiden Brüder, denen die Bar auf der Wollankstraße seit zwei Jahren gehört, als rassistische Arschlöcher bekannt sind – ich habe die Bewertungen vorher nicht überprüft. Der Barkeeper hat mir direkt in die Augen gesehen, mit einem boshaften Grinsen und einem Funkeln in den Augen. Es gab keine Zeugen und niemanden, dem ich davon hätte erzählen können. Ich musste die Beleidigung schlucken und lächeln – mein Partnerbedeutet mir so viel, ich will ihn nicht ständig aufregen, wenn ich erzähle, was ich über die Menschen weiß!

Aber dieses Lokal der Einheimischen in Dortmund will ich erhobenen Hauptes betreten; wenn sie mich schlecht behandeln, habe ich kein Problem damit, eine Szene zu machen, diesmal gibt es genug Zeugen – und gleichzeitig will ich meinem Freund zeigen, dass er sich irrt: Hab keine Vorurteile!, hat er gesagt.

Auf Empfehlung eines jungen, höflichen Kellners trinke ich ein lokales golden-bernsteinfarbenes Bier, ein Moritz Fiege.

 

Lächelnd erklärt er mir, dass der Burgerladen alle drei Monate Gerichte aus einer bestimmten Ecke der Welt serviert und zu meinem Glück ist heute Griechenland dran!

Ich sehe Shawarma, unsere syrische Shawarma, die eigentlich nicht syrisch, sondern türkisch ist. Das Wort bedeutet „drehen“ und in Armenien sagt man Terna, was auch von „drehen“ kommt, und in Griechenland ist es Gyros, Olafs Gyros, arabische/türkische Shawarma, armenische Terna …

Wenn Menschen nur so leicht von einem Ort zum anderen reisen und sich anpassen könnten wie Essen. Unsere Gerichte haben ein besseres Leben als wir … Ich schätze, unser Magen hat im Gegensatz zum Gehirn kein Ego.

„Zwanzig Minuten nach der Ankündigung wurden keine weiteren Reservierungen mehr angenommen“, sagt mein netter Kellner stolz. Er muss fast schreien, um die lauten Kinder zu übertönen. Ich sehe mich um: Eltern rennen mit Schals und kleine Mützen in ihren Händen um die Tische hinter brüllenden Kindern her, unter den Bänken und Stühlen liegen kleine, bunte Jacken.

Ich bestelle Pita-Brot und Zaziki, eine griechische Joghurtsauce mit Gurke: „Nojoumiah“, was so viel bedeutet wie „voller Sterne“, wie wir sie in Lattakia nennen, meiner Heimatstadt, einer verschlafenen Küstenstadt am syrischen Mittelmeer, oder Laodicea, wie man sie im antiken Griechenland genannt hat.

Das kalte, leichte Fiege-Bier ist ein Segen.

Ich blicke durch die Fensterfront hinaus. Ängstliche, besorgte Ausländerin, die ich bin, fange ich an, die Leute zu zählen, die draußen noch eine letzte Zigarette rauchen, bevor sie gehen: ein weißer Mann, zwei weiße Männer, drei weiße Männer, eine weiße Frau, eine braune Frau, die drinnen einen braunen Mann ansieht, der einen weißen Mann anlächelt, ein Kind, dass draußen herumrennt, gefolgt von einem Vater mit einer roten Mütze und einer kleinen, bunten Jacke in der Hand, eine stolze Mutter hinterher, das Kind und ich sehen uns kurz in die Augen, da lächelt der Vater, die Mutter sieht mich an und lächelt auch. Ich brauche ein paar Minuten, bis ich auf die Idee komme, zurückzulächeln, da gehen sie schon weg und ich lächle ins Leere.

Der Vater versucht immer noch, das Kind zu überzeugen, seine Jacke zu tragen, hat es aber immerhin geschafft, die Mütze auf dem Kopf mit den zwei Zöpfen zu platzieren.

Wie viele schöne Momente man einfach verpasst, wenn man versucht, die inneren Wunden – im Heilungsprozess – vor weiteren Verletzungen zu bewahren!

Die digitalen Tauben auf dem U-Turm wirken heller, jetzt, wo es dämmrig geworden ist und die Zeit langsam der Nacht entgegenrollt.

Rabab Haidar

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partnertherapie ist zwingend notwendig!

melanie ließ den scheibenwischerarm mit einem saftigen schmatzen an die windschutzscheibe zurückschnalzen. zwischen wischerblatt und windschutzscheibe klemmte nun auf der fahrerseite mit der schriftseite nach unten ein kleiner weißer zettel. jens würde ihn sicher sehen, wenn er morgen – möglicherweise endgültig – ihre gemeinsame wohnung in erlangen verlassen würde.

sie hatten gestern schon wieder gestritten. viel heftiger als früher. das kam jetzt oft vor, seitdem ihr gemeinsamer sohn im frühjahr zum studieren nach münchen gezogen war und sie nun auf niemand mehr rücksicht nehmen mußten. nach dreiunddreißigjähriger routine aus maloche, haushalt und ehe hatten sie sich auseinandergelebt. melanie hatte schon lange geahnt, dass da was im busch war und vermutet, dass jens unter wasser schießt und diesmal nicht lockergelassen bis sie alles, aber auch wirklich alles, aus seinem mund erfahren hatte. und das war weit mehr als sie verkraften konnte. wie bei einem eisberg, bei dem der größte und gefährlichere teil unsichtbar unter der wasserlinie liegt, war sie mit ihm im schlepptau von der eisigen oberfläche ihrer erkalteten beziehung zu den dunklen abgründen getaucht, auf denen ihre marode beziehungskiste mit einem heftigen knirschen aufgelaufen war. das schiff war leck geschlagen, wasser an bord, jens und melanies titanic sank. langsam aber sicher und jetzt immer schneller.

jens hatte nicht nur einen kleinen seitensprung, nein sogar eine feste bettgeschichte und das mit ihrer besten freundin, zu der sie sich seit kindertagen innig verbunden gefühlt hatte. schon seit fast einem ganzen jahr ging das so mit den beiden. als er ihr dann noch gestand sich obendrein beim heimlichen bumsen in ute verliebt zu haben, war melanie wie eine wahnsinnige über ihn hergefallen. jens hatte ihre schläge kaum abgewehrt. schließlich hatte er eine abreibung verdient. aber was sollte er tun? bis zu seinem lebensende das haus abzahlen und sich dafür von seinem aufgeblasenen ausbeuterchef anbrüllen und rumschubbsen lassen und dann wieder abends nach hause zu seiner schwermütigen hausfrau mit der schon lange nix mehr lief… alles was früher einmal aufregend gewesen war war mittlerweile stinklangweilig und zur lästigen gewohnheit verkommen. sein inneres navi sagte: sackgasse – bitte wenden! oder mit vollgas gegen die wand…

jens war nach seiner schmerzhaften beichte wie ein geschlagener hund nach oben gegangen und hatte angefangen wortlos seinen buko* zu packen. wenn du jetzt zu IHR gehst, dann brauchst du dich hier nicht mehr sehen zu lassen! hatte sie ihm gedroht und dabei so fest die faust geballt bis ihre knöchel weiß hervortraten. und so hatte er heute im wohnzimmer übernachtet und sie sich im gemeinsamen schlafzimmer die augen ausgeheult voll trauer und wut über den gemeinen verrat. morgen früh würde er dann erstmal zu seinem alten kumpel kai zurück ins ruhrgebiet fahren für ein paar tage. hauptsache ihn erstmal nicht mehr sehen hier. aber sie hatte beschlossen ihm noch eine wichtige nachricht mit auf den weg zu geben…

melanie kramte schniefend in ihrer handtasche nach kuli und papier und fand dabei den abreißblock, den ihr heute nachmittag der sympathische apotheker von dechsendorf geschenkt hatte. der junge attraktive mann im weißen kittel hatte sie angelächelt und gefragt, ob sie neben dem ibu vielleicht noch ein paar taschentücher oder einen notizblock gebrauchen könnte. die taschentücher lagen nun vollgerotzt und zerknüllt zwischen den scherben der familienbilder, die sie vor empörung über den idioten und die falsche schlange an die ausgeblichene schlafzimmerwand geschmettert hatte. sie hatte sich irgendwann beruhigt, ihren kopf mit den unfrisierten haaren und grauen ansatz am scheitel auf die fadenscheinige bettwurst gelegt und traurig an die kahle zimmerdecke mit dem häßlichen wasserfleck gestarrt. gleich sollte auch der praktische notizblock mit dem aufdruck IHR ZUVERLÄSSIGER PARTNER FÜR IHREN PRAXISBEDARF seinen zweck erfüllen. ob sie morgen noch was aus der apotheke gebrauchen könnte und ob ER jetzt wohl einen mundschutz über seinem gewinnenden lächeln tragen würde?

jens hatte gestern noch in seiner verbannung eine halbe flasche seines geliebten single malts niedergemacht und war frühmorgens mit einem üblen kater aufgewacht. nein, kein alptraum, der absolute supergau, vor dem er immer so schiß gehabt hatte war eingetreten. nur gut dass melanie gestern schmerztabletten besorgt hatte… er stellte sich unter die dusche, zog sich rasch an und verzichtete sogar auf seinen morgenkaffee, dachte, das könne an der nächsten raststätte nacholen. pustekucken, pandemie- times, baby!

die haustür schloss sich hinter ihm mit einem satten endgültig klingenden geräusch. nach dem ehedramamief von drinnen tat ihm die frische morgenluft gut. jens atmete tief, stieß die verbrauchte luft mit einem tiefen seufzer wieder aus und übersah zunächst den zettel, als er in seinen wagen stieg. erst auf der autobahnzufahrt zur A3 entdeckte er melanies nachricht, die er für einen im wind flattertenden werbezettel gehalten hatte: kein wir, kein du, kein ich: PARTNERTHERAPIE IST ZWINGEND NOTWENDIG hatte sie für sie beide lapidar beschlossen und verkündet und die wichtigkeit ihrer fachfräulichen diagnose mit einem energischen ausrufezeichen unterstrichen. als ob man eine verunfallte ehe wie einen klapprigen wagen zur reparatur in die werkstatt bringen könnte. war es zum hohn oder aus gewohnheit, dass sie ihre sardonische nachricht mit LIEBE GRÜSSE gekröhnt hatte? ach, mellie! seufzte er wieder nachdenklich und tieftraurig. was ist nur aus uns geworden. er wurde sich plötzlich bewußt, wie sehr er sie immer noch liebte und hatte absolut keine ahnung, wie sie aus dieser scheiße wieder heil gemeinsam rauskommen sollten. für einen kurzen augenblick spielte er mit dem furchtbaren gedanken die augen zu schließen und mit vollgas gegen einen der betonbrückenpfeiler zu rasen. aber wozu? wer hätte das verdient? dann vielleicht sogar lieber erstmal partnertherapie versuchen? doch beim gedanken daran einem fremden menschen, womöglich noch so einer studierten klugscheißerischen, männerhassenden emanzentussi, ihre schmutzige ehewäsche auszubreiten drehte sich ihm sein knurrender magen um… und wie verdammt nochmal sollte er aus der nummer mit ute rauskommen!  bildete er sich doch ein, sich bei den heimlichen nummern in sie verguckt zu haben, oder vielleicht doch nur – verrannt?

irgendwann hatte jens die A45 erreicht und war ohne halt oder stau über die leere autobahn durchs siegersauerland gerast, dann wie immer in dortmund süd abgefahren und am stadion und rombergpark vorbei durch die fast leeren innenstadtstraßen in die weststadt gerollt. die adlerstraße war dank home office, kurzarbeit und quarantäne voll mit parkenden autos, aber er fand trotzdem eine parklücke nahe kais haustür. als er ausstieg klebte melanies zettel immer noch an der windschutzscheibe. jens erinnerte sich an das das große heupferd, das sich mit seinen saugnäpfen an den füßen erfolgreich an der windschutzscheibe festgeklammert hatte, als sie von einem grillfest im grünen in die stadt zurückgefahren waren. jens hob den den scheibenwischer leicht an und ein schwaches lüftchen erfaßte den treuen begleiter aus erlangen, das papierne zeugnis seiner verkackten ehe, das nun elegant mit der schriftseite nach oben indiskret auf den bürgersteig segelte.

die nette eckneipe in der adlerstraße, in der sie oft zusammen mit den anderen stammgästen am tresen gesessen hatten, war pandemiebedingt geschlossen, also hatten sie zwei mal pommes schranke mit curry bei kommarando bestellt und nach dem dritten lecker pilsken mit korn in kais knautschledernen sitzlandschaft hatte er seinem alten kumpel alles erzählt, was ihm auf dem herzen brannte. kai schüttelte den kopf! ausgerechnet ute – ute die stute! ob er nicht wüßte, dass kai auch mal mit ihr… so ein luder! mensch, jens, da haste dir was eingebrockt, junge junge… und was wollt ihr denn immer noch in dem scheißbayern? kommt endlich zurück in den pott! eine kurze zeit herrschte betrenes schweigen zwischen den alten freunden. dann hatten sie in nullkommanix kais laptop an die stereoanlage angeschlossen, ein neues bier am hals und spielten schon leicht angesoffen youtube-disco.

eben noch hatte kai max goldt den sänger von foyer des arts (es gibt so viel) wissenswertes über erlangen, jensens fränkische wahlheimat, höhnen lassen. goldt hatte sich in seiner studentenzeit seine holstener liesel auf finncrisp als fremdenführer in franken finanziert. danach schlug jens mit ihrer gemeinsam lieblingspotthymne versöhnliche töne an: wir sind das ruhrgebiet, die geile meile die dich glücklich macht röhrte wolle petry zu schlagerhaftem stadionrock. wie auf kommando gröhlten die beiden freunde lauthals mit und lagen sich in den armen als sie mit pipi in den augen wie derwische durch kais erdgeschosswohnung hoppsten. und hol‘ dir bloß den blöden zettel von mellie wieder! in meiner nachbarschaft lebt neuerdings ein asphaltbibliothekar, wer weiß was der damit anstellt, woll?

* beischlafutensilienkoffer

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beste zutaten für das jüngste gericht

unter unsern schreibgestählten hintern

toter rasenteppich

über leeren gräbern

WER

hat die zombies in die rückgebaute kirche gesperrt

in den sterbenden wald gejagt

tief vergraben unter den rotbuchenwurzeln der autonomen baumhäuser

der schwarz vermummte block

beantwortet lieber keine fragen

hat keinen bock

auf allzu klein kariertes

ist sich selbst

freundlich

antworten genug

nicht nur ihm fehlt

was WER

aus dantes inferno

abpumpt

aus brunnen ohne stöpseln

für IHR all zu gemeines wohl

unnatürlich

exlex

per gesetz

im schatten der friedhofsmauer

durch pandämlichen sicherheitsabstand

streng limitiert

braten wir kross in der sonne

nach dem pfannthastischen rezept

eines christlich motivierten patchworksupergauleiters

mit einem bunten resteeintopf

aus korruption, betrug, krieg und gewalt

gefickten sondermüllschicksalen

und fahrn fahrn fahrn

turbo auf der alten autobahn

mit e-bike hin und weg

ganz easy

ohne autowahn

hurrah

hambi bleibt

am sterben

weil wir sowieso nicht zusammen leben können

die bande of refugees

spukt derweil in the geisterhaus

der zug ist abgefahren

der bus fährt selten

no exit

aus die maus

entstanden unter dem eindruck der stadt.land.text -veranstaltung GEISTERDÖRFER UND SEHNSUCHTSORTE zusammen mit kolleg*innen, organisator*innen und führern beim gespräch mit waldschützern im hambacher wald am größten loch von NRW (hambacher tagebau) und dem bürgermeister von morschenich unter corona und der bevorstehenden sommerdürre. WER ist ein anagramm?

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an den haaren herbeigezogen

warum wollen bei corona immer alle zum frisör? haare brennen doch gut und wachsen nach dem tod bekanntlich weiter. ersteres hab ich vor ein paar jahren beim zigarilloanzünden auf michas rheinhessischer schafsweide in lörzweiler zu spüren bekommen. ein laues lüftchen wehte mir bei einer grillfete eine meiner langen fusseligen haarsträhnen in die feuerzeugflammme und dann hat’s FAWUSCH! gemacht und die komplette strähne sich mirnixdirnix in rauch aufgelöst. die vor mir stehende mone hat sich noch gewundert, warum ich mir mit der hand hektisch auf die geheimratsecke einschlage, als sie sich des unangenehmen geruchs wegen umgedreht hatte. mittlerweile sind die schafe gefressen, meine schüttere brandschneise nachgewachsen und der michi mäht wieder selbst. ansonsten gilt für langhaarige das gleiche wie beim freiluftluftpinkeln: vor der verrichtung immer erst die windrichtung prüfen! denn: not only the answer my friend is blowing in the wind!

dabei wäre ich anfang merz beinahe selbst zum frisör gegangen. ich hatte gerade mein wohnatelier in dortmund bezogen und beim fundzettelsammelnden flanieren durch die adlerstraße den salon cappadocia entdeckt. hätte dort sicher einiges über meinen neuen kiez aus erster hand erfahren können. solche eckläden mit schaufenstern gibt’s hier viele und zum teil sind dort bereits junge künstleroderdesignerundso schon am start up oder gerade frisch am renovieren. das unionsviertel ist sich fleißigst am gentrifizieren, mit allen vor- und nachteilen. am anfang ist das immer klasse: die anwohner, meist alteingessene arbeiterfamilien mit geringem einkommen oder migranten freuen sich mehr oder weniger über die lebenslustigen jungen leute und umgekehrt. hinterher übernehmen die nun nicht mehr ganz so jungen leute papis firma und konto und ziehen mit der kleinfamilie in die vorstadtvilla.

die schule die ist aus

die kinder gehen nach haus

sie spielen freak sie spielen punk

und schaffen morgen bei der bank

so ist das eben heute

aus kindern werden meute

die mieten sind mittlerweile langsam aber sicher ins unbezahlbare gestiegen, weil die ehemalige tristesse so bunt, lustig, interessant und begehrenswert geworden ist. wenn die uranwohner ihre mietwohnung nicht rechtzeitig gekauft und abgestottert haben müssen sie sich nun eine neue bleibe in einer anderen (noch) unbeliebten gegend suchen und dort mit gemischten gefühlen die nächste hipsterwelle abwarten…

diesem marktwirtschaftlichen automatismus, ein perfider teufelskreis des totalitären kapitalismus, hatte auch ich sicher einst unfreiwillig öl ins feuer gegossen. 2008 gründete ich mit tanja und den anderen walpoden im bleichenviertel, dem einst verrufensten stadtteil, quasi der alphabet city von mainz, im verwaisten fastnachtsarchiv die walpodenakademie, um dort ausstellungen, experimentelle musik, lesungen und performance durchzuführen. seitdem ist da nicht nur das vereinsheim des mainzer kunstverein walpodenstraße 21 e.v. sondern auch mein atelier brandstift, die homebase der asphaltbibliotheque. kann man das denn dann noch als zufall durchgehen lassen, wenn sich direkt nebenan ein skaterladen namens asphaltinstrumente und gegenüber eine nach dem glück des findens benannnte modeboutique ansiedeln? oder fällt das schon unter: nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind…

im hinterhof von kiosk & trinkhalle adler 59, wo ich jetzt in dortmund immer meine post abhole, hat sich bereits die graffitiszene fleißig, bunt und dekorativ verewigt. überhaupt bekommt in dortmund und im gesamten pott anscheinend alles was alt und kein industriedenkmal ist, üppig grafitti übergebraten. können sich da mittlerweile alle drauf einigen? also ich mag nur authentisches also wildes, illegales grafitti. idee oder botschaft sind wichtiger als technisches können oder coffee- table-booktauglichkeit. für mich können tags und stencils nicht trashig genug sein und nur diese sind authentisch und wert von mir beim zettelsammeln mit stets schußbereiter kamera dokumentiert zu werden. ob plakatabriß oder vogelschiß: unsere welt ist ebenso bunt wie kaputt und ich ihr punk (= zunder) mit zettel in der hand.

es gibt dort auch ein atelier mit punkkonzerten, wenn es nicht gerade wegen corona abgesagt ist. sowas hätte es in den späten 70er/80er Jahren nicht gegeben. jung kaputt spart altersheime war damals die devise und ich geh kaputt, gehste mit? heute wollen alle vernünftig sein, steinalt werden und dabei wie junge poshe pebbles aussehen. ich erinnere noch wie ich erschrak, als sich 2009 in manhattan eine von hinten wie 17 aussehendes girlie umdrehte und mich ein faltiges gesicht im rentenalter anblickte. figur und klamotten hatten mich getäuscht und falsche vorstellungen geweckt. der schein trügt. das schwein betrügt. ich fand das schlimm damals. heute seh ich das komplett anders: schließlich kann jeder rumlaufen wie er/sie/es es will und wofür bitte die klischees kleingeistiger spießer erfüllen? ob das daran liegt, dass ich älter geworden bin oder seitdem zuviel zeit in new york verbracht habe kann ich nicht sagen.

ist auch völlig wurscht. denn warum bitte sollte man als reifer mensch keine sogenannten dummheiten mehr in würde begehen und das ausgerechnet in dieser unseren welt, die immer dümmer und dümmer zu werden scheint? kiffen und so, das macht man doch nur bis zum abi. danach geht man gefälligst zügig studieren, arbeiten, verdient geld und gründet eine familie – wie mir eine dämliche schülerin aus dem hunsrück mal erzählen wollte. und wozu überhaupt das ganze? soll dieser impertinente schwachsinn etwa nie aufhören?

mittlerweile waren alle frisörläden in schland außer NRW (hat der laschet etwa schiss, dass die jungen nackengeschorenen muslime geschlossen zum IS überlaufen, wenn sie nicht jede woche beim frisör zusammen hocken dürfen?) geschlossen und mußten um ihre existenz bangen. als ich mir in in den 80ern in der rheinhessischem provinz den fokuhila zu einem punkwave volahiku umändern liess hatte mich im ewig blöden bad kreuznach doch glatt einer gefragt, ob ich jetzt nazi geworden sei. cut your hair or miss the boat! heute sehen fast alle meine geschlechtsgenossen wie hitlerjungen aus und solange dass so ist bleiben se bei mir lang, schon aus reiner nonkonformität. da ich meine angegraute matte schon lange nicht mehr nachschwärze gehe ich bei oberflächlichen menschen gerne mal als ungepflegt durch. wirkt jetzt bei corona auch als abstandshalter und man spart sich so die eine oder andere knoblauchzehe.

ein bekannter aus mainz hatten sich mal mit der äußert gewagte these von der rache der schwulen frisöre aus dem fenster gelehnt. also ich finde kurze haare bei frauen sexy – egal welchen alters. schließlich bin ich in den 80ern aufgewachsen und wir hatten als GOTT30 & BRANDSTIFTER in berlin auf der bühne von christoph schlingensiefs CHANCE 2000 kongress gesungen: ich will zurück in die 80er Jahre/ denn da wo ich gestorben bin/ da will ich auch beerdigt sein. GOTT30 ist der markenname einer kühlbox. diese steht immer noch im keller der galerie free range mit siebdruckstudio von oli watt in chicago. als ich 2018 dort ausstellte und ein  konzert spielte (brandstifter with 2 watts) benutzten wir den urGOTT30 als ablage und dancefloor für meine spielzeuginstrumente und labertierchens.

zehn jahre zuvor hatte ich mir schon einmal während meines ersten literaturstipendiums im münsterländischen künstlerdorf schöppingen – dort wo gerade vor der coronabedingten schließung meine stadt.land.text-kollegin charlotte krafft untergebracht war – auf dem lande kopfhaare und bart zum ersten mal wuchern lassen. künstlerdorfleiter josef spiegel sprach von meiner ähnlichkeit mit solschenizyn, andere erinnerte ich eher an charles manson, ich mich selbst an benjamin franklin und auf einer autoraststätte wurde ich von einer fremden auf einen gewissen jesus von nazareth angesprochen… damals waren lange vollbärte noch nicht salonfähig und auf einer zugfahrt nach bingen war eine frau kommentarlos aufgestanden als ich mich zur ihr ins leere abteil gesetzt hatte. heutzutage werde ich angesichts meines gezwirbelten schnurbarts oft für einen fan von dali gehalten – dabei hab ich mir den in rajasthan wachsen lassen! die inder erkennen das sofort und geizen nicht mit komplimenten.

irgendwann war ich wuchermatte und vollbart leid und als ich ende 2008 vom literaturbüro mainz für eine lesung angefragt wurde, hatte ich endlich eine gute gelegenheit, mich von dem subventionierten gewölle publikumswirksam befreien zu lassen. Meike winter, eine resolute und waschen-schneiden-legen-echte frisörin und musikerin, heute verlagskauffrau, hatte bei unserer gemeinsamen performance alle register gezogen: da ich mein spiegelbild nicht sah, hatte ich vom hitlerbärtchen und anderen fiesen finessen nur das lachen des direkt vor mir sitzenden publikums mitbekommen. ich hielt also tapfer den kopf hin während meike munter schnippelte und fräßte und ich mit ihr ganz intim von kunde zu frisörin über meine brandstifteraktionen im münsterland plauschte. apropos spiegel: josef muss immer lachen bei meinen performances und ich dann auch wenn ich ihn sehe…

haarschneideaktionen hatte es seit DADA immer mal wieder gegeben, von einem meiner lieblingsFLUXUS-künstler, dem new yorker al hansen zum beispiel. der großvater von beck hansen hat als besatzungssoldat in frankfurt den pianodrop erfunden, als er ein klavier aus einem ausgebombten fünfstöckigen haus warf. er lebte in NY quasi auf der straße und machte wunderbare madonnenskultpturen aus zigarettenstummeln. in den 90ern zog er nach köln und gegründete dort die ultimate akademie. oder mein freund hans-joachim knust aka dr. proll aus hannover: für seine super8-filmreihe ferwackeltunscharf FWU hatte auch er professionelle hilfe in anspruch genommen, um sich für einen stopptrickfilm mit einer grausamen dauerwelle verunglimpfen zu lassen uns sich dann eine glatze scheren ließ. in dem buch neoismus /neoism von edition selene, hatte ich haareschneiden als programmpunkt, zur erlangung der für den neoismus typischen kollektiven indentität, auf einem flyer für ein neoistisches trainingscamp gefunden. spannender finde ich allerdings die überlieferten neoaktionen mit brennenden brothüten, die ich selbst mit einem überzähligen fladenbrot und schifferklavier auf der verlobungsfeier von dr. treznok mit gottes oma plagierte.

am besten wir machen es so wie’s meine kollegin justine z. bauer  vorschlägt: nach der isolation in einem halben jahr schneiden wir uns alle gemeinsam gegenseitig die länger gewordenen haare und gehen dann zum friseurIn.

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