Möchtest Du Post bekommen?

Gerne schicke ich Dir eine Karte! Such Dir einen Ort aus (siehe Liste unten) und ich sende Dir einen Umschlag mit Deinem persönlichen Text von dort.

Die Auflage ist limitiert – jeden Text gibt es nur einmal. Er hat die Form eines japanischen Kurzgedichts (Haiku oder Tanka) und greift Eindrücke vor Ort auf. Bisher sind 21 solcher kurzen Texte/Karten entstanden, jeweils an einem anderen Schauplatz in der Region Aachen. Ab Freitag versende ich zwei Wochen lang jeden Tag einen davon per Post an die erste Bestellerin oder den ersten Besteller. Gratis natürlich.

Möchtest Du Dein eigenes Haiku oder Tanka geschickt bekommen? Dann schreib mir Deine Adresse mit einem Hinweis zum Text Deiner Wahl an: schreiber@regionaachen.de

Hier die alphabetische Liste der 21 Kurzgedichte nach ihren Schauplätzen:

  • A44, Immerath (alt), (1 Haiku, 1 Tanka)
  • Änderungsschneiderei, Düren (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Buchhandlung, Kreuzau (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Buslinie 52, Aachen (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Carl-Alexander-Park, Baesweiler (1 Haiku, 1 Tanka) [Haiku bereits bestellt]
  • Elisenbrunnen, Aachen (1 Tanka) [bereits bestellt]
  • Good Morning Vietnam (Imbiss), Aachen (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Hochsitz (A44), Jülich (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Kosmetikladen, Düren (1 Haiku)
  • „Lago Laprello“, Heinsberg (1 Tanka, erhältlich auf Niederländisch und Deutsch) [NL bereits bestellt]
  • Langweilerstraße, Niedermerz/Aldenhoven (1 Tanka)
  • Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen (1 Haiku, 1 Tanka) [beide bereits bestellt]
  • Rurtalradweg, Kreuzau (1 Haiku)
  • Spargelfeld, Merzenich (1 Tanka)
  • Spiel- und Grillplatz, Gey/Hürtgenwald (1 Haiku) [bereits bestellt]
  • Sportplatz, Jackerath (1 Haiku)
  • Wassersportsee, Zülpich (1 Haiku)
  • Wilhelmina-Turm, Vaalserberg (1 Haiku, erhältlich auf Niederländisch und Deutsch)

Mehr von Pascal Bovée

Zeitkapseln – Phönix in 3D

In dieser kleinen Stadt – kaum zu glauben – seien schon alle gewesen: Römer, Spanier, Holländer, Schweden, Franzosen, Preußen, Briten, Amerikaner… Als Gründer, als Eroberer, als Konkurrenten, als Krieger, als Rachsüchtige. Am Ende lag die Stadt am Boden. Vollkommen flach.

Nach meiner virtuellen Reise in die Geschichte von Jülich reise ich jetzt analog. Um zu forschen.

In Jülich gähnt das Präsens vor leeren Läden, lässt sich von einem Hund durch die Straßen zerren, trinkt Tee in nostalgischen Cafés,  schlägt die Zeit mit Ankömmlingen am Bahnhof tot.

Vom Perfekt spricht  in Jülich keiner. In der Vergangenheit lag die Stadt im Koma. Sie war fast völlig zerstört. Sie sollte ein Mahnmal werden. Eine Abschreckdame für die Zukunft. Doch sie stand auf und erfand ihr Futur. Nun gehen alle wieder hin: zum Phönix aus der Asche, nach Jülich. Zum Forschen.

Landsmann

Am Rande der Stadt, mitten im Wald, wächst ein Zauberriese, entworfen von den klügsten Köpfen der Welt: „das Forschungszentrum“.

Auf dem Weg dorthin warte ich mit 15 anderen Pendlern auf den Bus. Mein Blick wandert zwischen der im Schatten liegenden Zuckerfabrik und einem hochgewachsenen Mann im blauen Sakko mit dichtem, dunklen Haar, der nervös auf seine Armbanduhr schaut.

Er verstehe es nicht, wo bleibe der Bus, wo sei er schon wieder stecken geblieben, fragt er nervös, als sich unsere Blicke kreuzen. Sein Akzent macht mich neugierig. Ich hake nach: ob er jeden Tag mit dem Bus fahre, frage ich. Ja, er forsche hier seit Monaten mit einem Team internationaler Wissenschaftler, Spitzenmediziner, das „heiße Thema“, das ihn seit acht Jahren um die Welt treibe: „Demenz!“

Seit er seinen Master in Medizin in Skopje abgeschlossen hat, gäbe es für ihn nichts anderes. Ich lächle, finde gut, dass er, der Arzt aus Skopje, mein Landsmann, pardon, mein Ex-Landsmann gegen das Vergessen kämpft.

„Das kann nicht nur der Balkan gut gebrauchen“, sage ich und stelle mich vor:

„Ich komme aus Sarajevo!“

„Dejan“, sagt er und gibt mir die Hand. Er freut sich nicht weniger als ich, das Gespräch in „unserer“ noch gemeinsamen, inzwischen „toten“ Sprache, in Serbokroatisch, fortsetzen zu können. Sechs Jahre lang habe Dejan in Aachen an der Uni Klinik geforscht, jetzt warte auf ihn ein neuer Job in England. Morgen früh fliege er für zwei Tage endlich einmal wieder nach Skopje. Seine „Familienbande“ könne es nicht abwarten.

Als wir nach sieben Minuten aus dem Bus, der wegen Umbauten auf dem Gelände herum kreist, aussteigen, sind wir schon fast Freunde, echte Balkanverwandte.

Futur

An der Pforte werde ich registriert und dann einem jungen Doktoranden aus Erkelenz übergeben, der mir die nächsten zwei Stunden gehört. Sebastian von Helden, mein persönlicher Führer, erforscht in Jülich die durchsichtige Keramik, erfahre ich, als wir auf dem Fahrrad über das riesige Gelände des Jülicher Forschungscampus kurven.

Sebastian von Helden, Doktorand am FZ Jülich

In einem Crashkurs steige ich in die aktuelle Forschung in Werkstoffmechanik ein: transparente Keramik, ein kostbarer Stoff für Sensoren. Der Ultraviolette-Rote-Bereich sei bislang nur Militärdomäne gewesen. Die „teure Ware“ solle er mit dem Team, das sein Professor-Vater Singheißer um sich gesammelt hat, für Zivilzwecke salonfähig machen. Kostengünstig. Neben ihm, dem einzigen Deutschen unter den Doktoranden, seien in der „Crew“ noch ein Japaner, ein Iraner, zwei Chinesen, zwei Brasilianer…

Bei der Zentralbibliothek, die mit einer 340 mschrägen Solarplatte als Dach für Forschungszwecke geschmückt worden war und zu einer Art Dauerinstallation wurde, spüre ich Durst.

Zentralbibliothek des Forschungszentrums Jülich

Das Wetter ist sonnig, nicht zu heiß, ideal für eine Tasse Kaffee am See. Der Doktorand verwirft seine Pläne und folgt mir in das „Seecasino“ des Forschungszentrums, eine Art Kantine.  Der Campus ist riesig. Auf 2, 2 km2 seien die Labore zwischen den Bäumen „wie Pilze nach dem Regen gewachsen“, erklärt mir der junge Doktorand, „in alle High-Tech-Richtungen“.

In Jülich rast die Zukunft  in den Bereichen Energie, Umwelt, Medizin schneller als ein ICE.

Superstars & Sündenböcke

Begeistert ist der junge Wissenschaftler aus Erkelenz auch vom „SAPHIR„, der Atmosphäresimulationskammer mit reinem Sauerstoff, in dem Spurenelemente wie Silizium im Nano-Bereich untersucht werden. Die Wissenschaftler beobachten dort die chemischen Reaktionen von UV-Licht.

Algen, die ultimative Energiealternative zu Kerosin

Doch das „aufregendste Thema“ auf dem Gelände der Superhirne sei eine Wunderpflanze, die schnell und überall wachse und dabei Kohlendioxid verschlucke: „die Alge als ultimative Energiealternative zu Kerosin!“ Gelänge es den Wissenschaftlern mit Algen die schmutzigen Standardstoffe Öl und Gas zu ersetzen, könne man mit „einer Klappe zwei Fliegen schlagen“: die Umwelt retten und Jülich endlich als „Heldin“ in der Geschichte verewigen.

In Jülich, dem Mekka des High-Tech, sei auch das Biomolekularzentrum mit der Gehirnerforschung „ganz vorne in der Welt“. Das Gehirn sei ein noch immer „unentdecktes Feld“, voller Rätsel, reize die Medizinforscher überall auf der ganzen Welt.

Das Besondere aber in Jülich sei die interdisziplinäre Gehirn-Forschung, die Biologie, Medizin, Informations- und Computerforschung und die Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz vereine und sich „gegenseitig inspirieren lasse“.

„Sündenböcke“ des Forschungszentrums

Zum Schluss stehen wir vor zwei Rentnern: den beiden übrig gebliebenen Kern-Reaktoren im Ruhestand. „Merlin“, der älteste Bruder, mit dem alles hier in Jülich begann, sei schon lange unter die Erde gebracht worden. Die jüngeren „Dido“ und  „Große Heiße Zellen“, der eine in Form einer Mosche, der andere in Form einer Kaffeekanne blicken wie Sündenböcke auf uns. Abgeriegelt mit doppeltem Maschendraht. Ob das die restlichen Strahlungen verhindern wird…

„Pioniere“ mit Stacheldraht abgeriegelt

Der junge Doktorand, der mich durch das Gelände führt, weiß auch nicht, wo der Atomabfall der Jahrzehnte langen radioaktiven Forschungen landen solle. Das Zwischenlager mit den dicken Betonmauern, eine Art temporärer Friedhof, sei noch im Betrieb. Die Pioniere der Zukunft von Jülich, einst fortschrittlich, kämen langsam ins Alter, zum alten Eisen…

Am Anfang seiner Forschung in Jülich sei er, der Doktorand aus Erkelenz, „gesundheitlich gecheckt“ worden, so wie jeder anderer, der hier ankomme. Wenn er seine Forschung beendet habe, werde er wieder gecheckt. „Erst Vorsorge- dann Sicherheitsmaßnahme…“

 

Plusquamperfekt, die Zitadelle…

In Jülich glänzt das Plusquamperfekt gut bewahrt unter der Erde, unsichtbar für die Überirdischen und Normalsterblichen, glorreich wie die imposante Festung mitten in der Stadt: die Zitadelle.

Eingang in die Zitadelle

Das Monument der Vergangenheit sei nun die Zukunft für die Rentner aus dem Forschungszentrum, scherzt Wolfgang Barkhoff. Kurz bevor er die Touristenführungen ehrenamtlich in der Zitadelle übernahm, war er Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Aachen Abteilung Jülich und habe lange als Maschinenbauingenieur mit dem Jülicher Forschungszentrum kooperiert. Nun habe er, der gebürtige Hamburger, die Ehre mir die Jülicher Geschichte in den Katakomben zu präsentieren: von den Römern, den Gründern, über die Holländer und Spanier, die im Mittelalter Erzfeinde gewesen seien bis zu den Preußen … Achtzig Jahre lang hätten sich die Holländer und Spanier bekriegt. Auch wegen Jülich. Dann waren da noch die Dänen, Schweden, Franzosen mit ihrem Napoleon, Preußen, Fürsten, Kaiser, Könige.

Blick zurück mit historischen Gestalten

 

Doch einer hat sich hier einen besonderen Platzt erkämpft, der Renaissancefürst Wilhelm V., der als „reicher Fürst“ die Zitadelle bauen ließ und sich dafür bis zum Hals verschuldet habe.

Ab hier bleibe ich mit der Jülicher Geschichte alleine. Der Hamburger wurde für eine andere Zitadellen-Aufgabe gerufen. Eine Hochzeit steht an. Er steigt die Treppe hoch, ich schaue genauer hinter die Kulissen.

Die ganze Macht der Feudalherren basiert eigentlich auf sorgfältig geplante und arrangierte Hochzeiten, um sich politisch zu verketten und die Territorien europaweit zu sichern. Mit meiner Analyse gehe ich weiter und traue mich nun zu behaupten, dass die heutige EU-Überlegenheit politisch, wirtschaftlich und kulturell genau auf dieser Hochzeitsklüngelei basiert. Der Jülicher Held Wilhelm V. hat z.B. seine erste Frau, eine adelige Französin aus politischen Gründen geheiratet und kurz danach aus den gleichen Gründen wieder verlassen. Schlecht kalkuliert. Diese Ehe hat der Papst – kaum zu glauben – eigenhändig annulliert, um dann die neue Ehe mit einer Habsburgerin, auch politische motiviert, jungfräulich zu segnen. Das mit „bis uns der Tod scheidet“ scheint bei Katholiken aus dieser  Zeit nur für „Normalsterbliche“ gegolten zu haben.

Europa und der Vatikan von damals mit ihren arrangierten Zwangsehen als Vorbilder für die armen und verspäteten Nationen im Nahen Osten heute?

Perfekt

Angefixt von den Hochzeits-Geschichten und frisch gerüstet mit einer Fotokamera steige ich am nächsten Tag wieder in die Katakombe. Diesmal mit Helmuth Gröber, einem „Exoten“, einem geborenen Jülicher. Er, Betriebswirt, habe fast 40 Jahre lang im Forschungszentrum in der Verwaltung gearbeitet. Seit vier Jahren nun ist auch er ehrenamtlicher Zitadellen-Führer. Er liebe diese 500 Jahre „alte Dame“, die prächtig, viereckig mitten in der Stadt von einer glorreichen Geschichte zeuge.

Helmut Groebel und Wolfgang Berghoff, ehrenamtliche Zitadellen-Führer

 

Heute sei Jülich wieder gut auf den Beinen, meint der Patriot. Wissenschaftler aus 56 Nationen der Welt forschen hier für die Zukunft. Die Vergangenheit, Nachkriegszeit, kenne er nur aus den Erzählungen seines Vaters. Engländer und Amerikaner hätten in Jülich gegen Hitler gewütet und Rache ausgeübt. Als sein Vater nach dem Krieg aus der französischen Gefangenschaft nach Jülich zurückkam, habe er den Weg nach Hause nicht mehr finden können. Alles lag in Trümmern. Ja, aus Geschichte solle man lernen. Aber immer mit dem Blick auf die Zukunft.

Chinesen

Nun beglückt die Zitadelle  unter und über der Erde die Kunst zweier Chinesen.  „China-German-Story“, ein China-Deutschland-Alltagsvergleich als Thema des chinesischen Photografen Steve Zhao: deutsche Ordnung und Korrektheit gegen chinesischen Humor und Improvisation.

 

Steve Zhao: Chinesischer Humor vs. deutsche Korrektheit

 

Und im Garten der Zitadelle herrschen bis Ende November die riesigen Rostskulpturen von Ren Rong, Künstler aus Peking, der seit dreißig Jahren in Bonn lebt und  überall zu Hause sei oder umgekehrt wie es in seinem Katalog steht: „die ganze Welt ist in seinem Schaffen daheim: in seine Eisenskulpturen fließen Symbole östlicher und westlicher Kulturen ein… ein Zeichen der Hoffnung  und des Friedens…“  Er zaubert aus dem schweren Rost-Material fein ziselierte, schwebende Traumsymbole so zart wie Brüsseler Spitze.

     

Präsens

Jülich, dreiunddreißig Tausend Einwohner, eine Provinzstadt. Vier Tage, ein paar Runden in der Fußgängerzone und schon sammelt sich mein Stammtisch um mich herum. Ein dürrer Junge mit schwarzen Käppi und Hängehose, an jeder Seite zwei Mädchen und einer halb ausgetrunkenen Plastikflasche Spezi in der Hand, zwinkert mir zu als ich ihn beim Vorbeigehen zum zweiten Mal genauer anschaue: „Beim  dritten Mal geben sie uns einen aus…“ sagt er und bringt die Mädels zum Kichern.

 

     

An dem stillen Alltag und den leeren Läden sei das „Internet schuldig“ diagnostiziert eine gesprächige Dame im „Infocenter“. Alle kauften heute virtuell, bei Amazon. Das mache Jülich arm und die Amerikaner reich. Sie täte es ja auch, inzwischen. Leider. Ihr Geld sei knapp und über das Netz sei alles wirklich viel günstiger.

Jülich, jung, alt, mächtig, gebrechlich, lebt parallel. Gleichwertig. In 3 D. Drei Zeiten. Drei Welten. Drei Dimensionen.

 

 

Mehr von Slavica Vlahovic

Welcome to Jülich

Diese Stadt, älter als Jesus, ärmer als eine Kirchenmaus, klüger als die Zukunft –

Meine neue Muse! Im Präsenz.

Angereist aus Düren, mit der Rurtal-Bahn. Alleine.

Mit einem Köfferchen in der Hand und einer roten Hängetasche.

Die Vorstellung, unsichtbar zu sein. In Jülich.

Schon nach drei Schritten werde ich am Bahnhof registriert.

Und herzlich begrüßt: „Welcome to Jülich, Madame!“

Verehrer

Er, Radfahrer, Ende 20, dunkler Teint, bedürftiges Deutsch,

bietet mir Hilfe an und das sofort: sein „friendship?“

Ich lächle verlegen, bedanke mich, schaue mich nach meinem Gastgeber um,

der jede Minute eintreffen sollte.

„Would you have a problem with my friendship, Madame?” will er wissen.

„No, no… „…just, no time!.. Sorry!“

„Thank you Madame, for ‚no problem with me’…“ sagt er.

Ja, er wisse, „in Germany no one have time… Only refugees, like him“

Er habe viel Zeit und suche Freunde, sagt er.

„My Name Ravi!“ stellt er sich vor…

„Es freut mich, Ravi“, sage ich und schaue in die Ferne auf der Suche nach meinem Gastgeber.

„Please give me your Phonenumber… if you like… “

„Excuse me?..“. Ich glaube, ich höre nicht richtig. Er will meine Telefonnummer?

Ich schüttele den Kopf. „I don´t understand you…“

„You and me… friendship, I call you…“ lässt er sich nicht verunsichern.

„Oh Gott!“ Ich fühle mich überrumpelt, belästigt, auch ein wenig geschmeichelt.

Ich schätze ihn zehn, fünfzehn Jahre jünger als mich.

„Nein! Es tut mir leid!“, drehe ich entschlossen den Kopf

Und bevor er seinen Mund aufmacht noch ein mal: „No! Sorry!“

Das scheint ihn aber überhaupt nicht zu beeindrucken. Er versucht es noch einmal:

„Please Madame… we can be friends… sometime…“ fleht sein zerknitterter Blick.

Ich werde nervös, sauer, lasse meinen Kopf aus dem Hals wachsen. Er steht vor mir und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich könnte ihn anschreien, würde er mir nicht – so fremd, so verloren, so hoffnungslos nach Nähe, Wärme, Zuneigung auf dem anonymen deutschen Bahnhof bettelnd – leid tun.

„Wo kommen Sie her?“ frage ich ihn auf Deutsch; die Frage, die ich gar nicht mag, die mir aber in diesem Moment Hilfe und klare Distanz zwischen uns beiden bietet.

„Aus Pakistan…!“ meint er. Seit einem Jahr in Deutschland… einsam, keine Freunde… vor „Bum-Bum“ geflüchtet.

Bevor das Auto meines Gastgebers, das ich von weiten anfahren sehe, ankommt, höre ich mich im Befehlston sagen:

„Gehen Sie, bitte! Mein Mann kommt nun, mich abzuholen. Ich möchte nicht, dass Sie Probleme bekommen…!“

Dieses Argument versteht der einsame Flüchtling aus Pakistan sofort.

„Ok… Ok…“ sagt er, blickt angespannt auf die Straße, dreht seinen Fahrrad herum und verschwindet.

***

Ich werde ins Gästehaus des Forschungszentrum gebracht und bin schnell wieder auf der Straße:

„Panciera“

Unsichtbar sein beim Bummeln, beim Blicken, beim Beobachten… in Berlin, Köln, vielleicht auch in Aachen… nicht in Jülich!

In Jülich verhaken sich die Blicke der Neugierde sofort. Ohne Zögern. Ohne Versteckspiele.

Heiß-kalt-süß

Auch bei „Emanuele Panciera“, in der italienischen Eisdiele gegenüber der Zitadelle unter Sonnenschirmen, wird das fremde Gesicht sofort ins Visier genommen. Meine Tischnachbarin, ältere Dame mit Rollator, ein ausgetrunkenes Glas Tee vor sich, hat den Blick von der Zitadelle auf mich gelenkt.

„Kalt-heiß-süß… wie das Leben selbst“ , kommentiert sie meine Kreation, Crêpes & Eis, die ich genüsslich verschlinge.

„Ihr Zucker“ mache so was leider nicht mehr mit.

Ich schenke der Dame mein Ohr, sie mir ihre Geschichte: ein Stück Bundesrepublik.

Waltraud heißt sie, „wie der Wald, der sich traut“, kommentiert sie den Namen mit dem sie sich seit 81 Jahren alles traut.

Neugierig und nachdenklich wie das Ostberliner Pflegekind, das sie einst war, von den eigenen Eltern verlassen, scheint sie ihrer Mutter, die nach Düsseldorf zu Arbeit geflüchtet war, und dem Vater, der von dem Kind nichts wissen wollte, längst vergeben zu haben.

Auch wenn in den kleinen Pausen, die sie einlegt, um einem tiefen Seufzer Luft zu geben, der kleine Rest des Schmerzes des verlassenen Kindes nicht zu überhören ist.

Das „Gute an der DDR“ sei, sagt Waldtraud, die Bildungs -und Geschlechtergleichheit gewesen. Sogar sie, als Mädchen ohne Eltern, durfte lernen, was sie wollte. Sie habe Elektromechanik gewählt, einen Beruf, mit dem sie später in der Bundesrepublik als Frau nichts anfangen konnte. Ende „der 50er“ sei sie nach Westberlin gegangen, es wurde gemunkelt, dass man „auf der anderen Seite besser lebt“. Ganz alleine sei sie gegangen, meint sie. Die amerikanischen Soldaten haben mit ihr kurz geredet und sie gehen lassen.

Ihr seidiges, adrett gekämmtes Haar, die hohen Wangen, spitzbübisches Lächeln… vor  60 Jahren musste sie die Jungs ganz verrückt gemacht haben.

Geheiratet hat sie einen gut aussehenden Mechaniker aus Siegburg, mit dem sie zwei gesunde schöne Kinder, Tochter und Sohn, auf die Welt brachte, ihr ganzes Glück.

In Jülich habe ihr Mann in der Kernforschung im Forschungszentrum einen gut bezahlten Job bekommen. Als Mechaniker habe er praktisch umgesetzt, was die Wissenschaftler theoretisch erforscht haben.

Sie dagegen habe mit ihrem Beruf die Beamten beim Arbeitsamt völlig überfordert. Damals haben in Jülich die männlichen Beamten nur die Männer beraten und die weiblichen nur die Frauen, schüttelt Waltraud den Kopf.

Mit ihr, einer Frau mit einem „Typisch-Mann-Beruf“, konnten sie nichts anfangen. So musste sie sich „in die Bundesrepublik integrieren“, einen „Frauenberuf“ lernen. Sie wurde Krankenpflegerin und habe dreißig Jahre lang die alten, kranken Menschen bis zum Tod begleitet.

„Den Tod habe ich satt!“

Ihr Mann sei vor 13 Jahren verstorben. An Krebs… „Vielleicht zu viel Kernforschung…“

Sie habe einen Gehirnschlag überlebt.

Jetzt wolle sie leben.

„Punkt“.

Sie komme täglich in diese Eisdiele mit dem Blick auf die Zitadelle, trinke ihrem Tee und lasse ihr Leben vor sich vorbeilaufen „wie auf der Leinwand im Kino“.

Sie wäre gerne wieder so jung wie ihre Enkelin, Doktorandin an der Aachen Universität. Sie sei ganz die Oma. Liebe Technik. Ihre Tochter arbeite auch als Mechanikerin im Forschungszentrum.

„Männerdomäne. Jetzt in Frauenhand. Endlich“.

„Auf das Leben!“ stößt Waldtraud mit einem neuen Glas Tee an.

„Auf die Zukunft… in Jülich!“

Jülich sei ihr Glück, so klein es auch sei, da kenne jeder jeden, sagt Waltraud.

„Vielleicht deswegen…“sage ich.

„Vielleicht…“, antwortet sie.

Mehr von Slavica Vlahovic

Manchmal in Jülich

Manchmal ist die Zeit reif

Sich mit seinem Schatten zu treffen

Auf der Straße

Im Spiegel eines leeren Ladens

Beim Ausführen seines Hundes

In seiner Stadt

In Jülich

 

Manchmal springt ein Hund ins Bild

Ein Schnappschuss der Touristin

„Entschuldigen Sie“,

sagt das Herrchen

Als Ouvertüre seines Lebens-Laufs

Die Überlebensbiografie voller Brüche

Transportiertes Wesen

 

Der Kampfhund, ein Kuscheltier

 

Seine Stadt und sein Hund,

Er blinzelt – stolz wie Oskar – auf Jülich und Alfa,

Er streichelt das kräftige Tier,

Das ihn, dürre Stange, über die sonnige Jülicher Straße zieht

Unter dem blauen Käppi glühen seine schwarzen Augen,

Lachen die weißen Zähne

Sein Rottweiler, Muskelpacket, bringe ihn manchmal

Zu seinen Lieblingsplätzen:

Der Zitadelle und dem Campus der Fachhochschule,

In Jülich

 

Der Kampfhund schnüffelt an der Touristin

Sie zuckt, zieht sich zurück,

Keine Angst, sein Hund sei sanft,

wolle spielen

Das Kuscheltier sei gut erzogen, sagt der Herr

Er habe mit Alfa alle Hundeschulen besucht

Teuere Schulen

wie die Kampfhundejahressteuer

Sein Vater verdrehe heute noch die Augen

Seine Freunde auch

Warum Hund in die Schule, und er, das Herrchen, ohne Abschluss

Er habe seine Schule abgebrochen

Früher sei er

„ – sagen wir mal so – “

zu temperamentvoll gewesen,

Früher vor Alfa, habe er seine Fäuste sprechen lassen

Als hoffnungsvoller Boxer und Fußballer

In Jülich

 

Nun bringe Alfa seine kaputte, nie zusammengewachsene Hüfte,

auf die Straße

Der Kampfhund mit Hochschulabschluss spare ihm eine Menge Pillen

Sein Kuscheltier stille seinen Dauerschmerz, bringe ihn auf Trab

Sein Teuer-Freund heile seine gestohlenen Illusionen

Versöhne ihn mit seinen verlorenen Träumen

 

Ihn kenne jeder in Jülich,

Und jeder, der vorbei geht,

grüßt ihn

Er, der Herr, grüßt zurück

Lächelt

 

Süß. Bittersüß

 

Mit elf sei er nach Jülich gekommen

Als Sohn eines Albaners und einer Belgraderin,

Nach dem Krieg im Kosovo

Sein Zuhause sei nun Jacqueline, seine Frau, Alfa und sein Job

In Jülich

Er schaffe bei Pfeifer & Langen

Er verwandle Rüben in Zucker

Sechshundert Tonnen am Stück

Im Takt der Maschinen

Auf Knopfdruck und mit ein bisschen Kopf

Als Schichtarbeiter in der Zuckerfabrik

Wie der deutsche Schwiegervater mit dreißig Jahre Akkordarbeit

Sein Vorbild

Und: seine kaputte Hüfte mit Dauerschmerz mache mit

Mit Alfa, seiner Frau und der Liebe

 

Manchmal am Rand der Geschichte

 

Manchmal ist die Zeit reif

Sich mit seinem Schatten zu treffen

Auf der Straße

Im Spiegel eines leeren Ladens

Am Rand der Geschichte

In einer Stadt

In Jülich

 

Manchmal springt der Gedanke mutig ins Bild

Er, das Modell. Sein Hund. Die Fotografin.

„Entschuldigung“, meint sie vor einem leeren Laden

Er, achtundzwanzig Jahre erst, schlau, jung, gutes Deutsch

Er könne sein Schulabschluss nachholen, studieren… noch kostenlos

Seine Bildung wäre günstiger als die Hundeschule seines Kampfhundes

In Jülich

Ja, er wisse es, lächelt er, alle sagen das…

Es sei aber… zu spät

Keine Zeit… leider

Er müsse schaffen

Akkord am Fließband

Als Schichtarbeiter in der Zuckerfabrik

Er bauche Geld… viel Geld

Fürs Leben, seinen Alfa, für seinen Passat, den Polo seiner Frau…

Seine Schätze

 

Früher sei er – „sagen wir mal so“ – zu temperamentvoll gewesen…

Heute habe er ein süßes, bittersüßes Leben

In Jülich

 

Mehr von Slavica Vlahovic

Arbeitsjournal: Freitag, 20. November

Den „Tag des Vorlesens“ verbrachte ich in Jülich im Gymnasium Zitadelle, um über stadt.land.text, den Beruf des Journalisten und das Bloggen zu sprechen. Ein schöner Ort für eine Schule. Um die verschiedenen Schulgebäude zu erreichen, muss man zunächst über eine Brücke, man überquert den Wassergraben der Zitadelle. Im Schulhof werden archäologische Ausgrabungen durchgeführt. Inmitten der historischen Mauern lässt es sich bestimmt besser lernen als in einem dieser 70er-Jahre-Beton-Bunker, in dem ich zur Schule gegangen bin. Die Gebäude haben auf jeden Fall viel Charme, denke ich, obwohl es noch dunkel ist, als ich um 7.20 Uhr ankomme. Die armen Schüler müssen um diese Uhrzeit schon fit sein. Als Journalist ist das anders. Die Welt muss sich morgens erst mal ein paar Stunden drehen, bevor wir anfangen darüber zu berichten. Naja, zumindest bei der Zeitung. Auf dem Programm stehen für mich fünf Besuche in fünf neunten Klassen. Im Lehrerzimmer sagten mir die Lehrer am Ende des Tages, dass sie es mutig fänden, dass ich mich vor die neunten Klassen gestellt habe. Es sei ein schwieriges Alter. Ich hatte ja keine Ahnung, sage ich. So gut kenne ich mich mit Schulklassen und Jahrgangsstufen nicht aus. Deswegen hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass die Schüler schwierig sind. Dass man als Schülerin oder Schüler nicht auf jedes Thema sofort große Lust hat und eher erstmal abwartet, verstehe ich. Dass man am Anfang eher erstmal einen auf Anti macht, ist geschenkt. Man muss schließlich cool sein und jede Klasse hat da eben ihre eigene Sprache und Haltung. Aber in jeder der fünf Schulstunden löste sich diese Barriere mit der Zeit auf. Es gab in jeder Klasse mehrere Schülerinnen und Schüler, die sich für das Thema interessierten und gerne ihre Gedanken beisteuerten. Manche haben auch schon einige Texte oder Kurzgeschichten geschrieben.

Mehr von Harald Gerhäusser

Die Königin der Feldfrüchte

Als ich hier in der Region Aachen zum ersten Mal das Wort Rübenkampagne hörte, konnte ich damit überhaupt nichts anfangen. Ich merkte aber sofort, dass es sich dabei um etwas Großes handeln muss. So erzählte man mir, dass die Rübenkampagne – also die Ernte und Ablieferung der Zuckerrüben in den Zuckerfabriken – früher ein monatelanges Verkehrschaos in Düren, Euskirchen und Jülich nach sich zog. Traktor an Traktor mit Tausenden Rüben steuerte auf das Werksgelände zu und die Städte wurden von dem Rübenstrom regelrecht ausgebremst. Heute sei das nicht mehr so gravierend, aber dafür sei eine ausgefeilte Logistik notwendig. Mir war sofort klar, dass ich mir die Rübenkampagne unbedingt anschauen werde, wenn ich schon zu diesem Zeitpunkt in der Region bin.

Sowohl für den Zuckerrübenanbau als auch für die Ernte benötigt der Landwirt viel Ausdauer und Fachwissen. Denn die Ernte dauert gerne mal bis nach Weihnachten an und ist komplizierter im Vergleich zu anderen Ackerprodukten. Auch bedarf es mehrerer Landmaschinen, um die Rübe vom Feld bis zur Zuckerfabrik zu bringen. Dafür fällt der Ertrag im Vergleich aber auch wesentlich üppiger aus: etwa 1.000 Euro pro Hektar höher als bei allen anderen Ackerpflanzen. Das bringt der Zuckerrübe den vielsagenden Namen „Königin der Feldfrüchte“ ein. Viele ungewöhnliche Wörter hat die Zuckerrübe geprägt: Rübenkampagne, Rübenbüro, Lademaus, Rübenschnitzel, Rübenpicker und Rübenverkehr, um nur einige zu nennen. So prägend, wie sie in ihren Anbaugebieten für Land, Leute, Logistik und den Lohnerwerb ist, so unbekannt scheint sie andernorts zu sein. Eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Innofact zeigt, ein Drittel der Deutschen unter dreißig Jahren denke, bei Zucker handele es sich nicht um Naturprodukt, sondern um ein chemisches Erzeugnis. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Zucker ist ein rein biologisches Lebensmittel. Für stadt.land.text habe ich die Zuckergewinnung einmal näher angesehen. Hierfür durfte ich hinter die Kulisse der Zuckerfabrik Pfeifer & Langen im Werk Euskirchen schauen.

Mehr von Harald Gerhäusser