Oh Lord, let me go, Gesänge aus dem Lockdown

Den Semmelsegen schaue ich mir auf dem Klo an. Mir hat vorher die Zeit gefehlt, mit Homeoffice, Homschooling, Homestipendium, Homeputzen, Homekochen, Homebacken, überhaupt all dem Home, rennt mir die Zeit weg, was sonst geteilt, oder Häppchenweise, vielleicht auch als feine Schnittchen meinen Alltag gliedert, schlägt nun voll rein, überlastet und überfordert mich. Also, Klo. Die Ratschen, der Turmbläser, mit fällt wieder das Kommentar ein, das ich irgendwann mal auf Twitter geliket und sogar geteilt habe, indem eine Mutter schrieb, dass sie, seitdem sie Kinder hat, kapiert, dass sie schneller scheißen kann, wenn jemand von außen gegen die Tür trommelt. Ein Witz, den wahrscheinlich nur Mütter verstehen, einfach die, die täglich parat stehen, die Care-Arbeit machen.

Jetzt aber ist es endlich mal ruhig, und ich höre dem Pfarrer zu, wie er seine einführenden Worte spricht und dann, allein in der Kirche, das Lied „Lobet den Herrn“ anstimmt. Er hatte mir vorher schon im Interview erzählt, dass ihm das besonders fehlen würde, die vielen Menschen, die sonst gemeinsam beim Semmelsegen dieses Lied laut anstimmen.

Die Musik hat Johann Sebastian Bach zu dem Lied von Joachim Neander kombiniert.

Als ich es höre, habe ich sofort das Bild meiner Mutter vor mir, die, neben mir stehend, das Lied singt, weil sie es so gut kennt, und weil ich in meinem Leben meistens, wenn ich in der Kirche, mit ihr zusammen war.

Jetzt im Corona-Lockdown, ist dies der Moment, an dem ich zu weinen anfange. Vielleicht, weil die Kantate von Bach so schön ist, vielleicht, weil ich an all die Momente denken muss, in denen ich Menschen gemeinsam habe singen höre und wenn viele Menschen laut zusammen singen, entsteht immer ein Gefühl von Gemeinschaft, aber ganz sicher, weil ich endlich hier raus will, nicht mehr eingesperrt weiterleben, wie eine Pflaume im Haus oder auf dem Klo sitzend, um mal ein klein wenige Ruhe zu bekommen, ich will endlich wieder mein Leben zurück haben. Das Gefühl individueller Entmachtung überrennt mich, ich möchte meine Existenz wieder irgendwie selbst bestimmen, wenn auch nur mit so einfachen Dingen, wie am Flussufer zu sitzen, Enten beim Baden zu zu sehen, mit Freunden im Wald zu spazieren, ein Konzert zu besuchen oder einfach auf einer Party zu tanzen. Ich will die Normalität zurück, über die Paolo Giordano in seinem Buch In Zeiten der Ansteckung schreibt. Selbst, wenn sie diffus ist und noch ungenau.

Aber jede Normalität ist weit weg, sie ist mir abhandengekommen wie eine Gleichung, an die ich mich plötzlich und unerwartet nicht mehr erinnern kann. Und ich bin sicher nicht die Einzige, der Pfarrer im Lifestream auf Youtube aus Attendorn, der gerade in einer von der Leere hallenden Kirche, allein mit sich und seinem Glauben einen Segen abhalten muss, wünscht sich mit Sicherheit auch in eine andere Normalität als diese zurück. Und noch bevor er den Semmel segnet, hält er eine kurze Rede:

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.

Damit zitiert er Jesus, der diese Worte nach vierzig Tagen in der Wüste zum Teufel gesagt hat und damit selbst aus dem Deuteronomium zitierte. Nicht nur Brot, sondern auch Nahrung fürs Herz.

Wir sitzen im Lockdown, unser Alltag ist heruntergefahren auf das, was als systemrelevant gilt, was wir zum Überleben brauchen. Aber das ist eben nicht nur unser tägliches Brot, das ist, in Wahrheit, so unendlich viel mehr. Dabei bin ich mit dem Pfarrer und seiner Rede völlig einig.

Als ich aus dem Badezimmer trete, heule ich aber nicht mehr, weil ich jetzt nun sehr fest hoffe, dass wir uns später, nach dem Lockdown, auch daran erinnern werden, dass wir nicht nur vom Materiellen allein leben, von Klopapier und Nudeltüten, sondern von soviel unendlich viel mehr, Herznahrung eben.

Ein Lied, das die Welt und auch Religionen verbindet, hier singt auch die Queen die Bach- Kantate in London.

 

Und damit ihr die Botschaft auch nicht vergesst, an dieser Stelle das Herznahrung- Lied dazu von Janis Joplin dazu, denn die großartigsten Sängerinnen hören niemals auf zu singen!

 

 

Mehr von Barbara Peveling

verdrängung

während der isolation durchlebt man phasen, die an die sieben mentalen etappen eines marathons erinnern: das hoch, die verdrängung, der anflug von panik, die ernüchterung, das tief, die aufmunterung, der wandel. allerdings spulen sie sich im pandemie-fall schneller ab, als während eines ordnungsgemäßen langlaufs, der nach 42,159 kilometern zwangsläufig in einem fest abgesteckten ziel endet. durch die ungewissheit, die derzeit alles bestimmt, wiederholen sie sich, hintergehen die reihenfolge und wechseln sich tageweise ab.

nicht umsonst explodieren die online-tagebücher zu corona: zwar lassen die tagesabläufe von jedem und jeder – zumindest sofern er/sie im systemirrelevanten, existenzsichernden und kinderlosen homeoffice sitzt – so wenig abwechslung wie nie zu: restaurantbesuch, party oder urlaub, ereignisse also, die sonst zum ausstaffieren der illusion einer einzigartigkeit des westlichen alltags und seines individualistischen geschmacks beitragen; die freizeit, findet wenn überhaupt, dann auf dem display statt und für niemanden – zumindest ist mir das noch nicht passiert –  hinterlässt eine gestreamte lesung oder ein dj-set bei insta live bleibende erinnerungen. trotzdem schreiben die leute, lassen andere an ihren gefühlen teilhaben, die sich durch die wenigen einflüsse, den mangeln an zerstreuung und das immernoch surreal erscheinende weltgeschehen zu potenzieren scheinen.

auch meine woche verläuft in sich gekehrter. während ich arbeite, jogge, fahrradfahre, bin ich nach wie vor froh über diesen standort, die vielen tiere, die wenigen menschen, die sonnige weitläufigkeit, die subtile, aber eingängige ästhetik des dörflichen lebens. mangels tatsächlichen kontakts mit den menschen, die dieses leben führen,  spiegeln sich die sieben marathon-phasen für mich weiterhin hauptsächlich in den bildausschnitten bei zoom und skype. selten wurde auf die frage „wie geht’s dir?“ so wahrheitsgemäß geantwortet. die gespräche sind zwar immernoch corona-dominiert, mittlerweile kommt es aber vor, dass die monothematik bricht, man kann das c-wort nicht mehr hören. mit zwei freundinnen führe ich beispielsweise ein langes, anregendes gespräch über zervixschleim.

dass die situation an der substanz nagt, die leute langsam durchdrehen, zeigt sich im kleinen. bei dm stehe ich an der kasse, die kundin vor mir kauft unter anderem toilettenpapier. statt es routiniert über den scanner zu ziehen, hält die kassiererin plötzlich  inne, streicht verträumt, fast zärtlich über die packung, sagt „das haben sie wirklich schön gemacht. wirklich schön oder? und das muster“, sie sucht den blick der kundin, die ihrem ausweicht. ihr ist das ganze sichtlich unangenehm. unbeirrt davon wendet sich die kassiererin zur kassenschlange, „oder?“. „wirklich schön“, pflichtet eine ältere frau ihr bei, und als ich mich umdrehe, sehe ich hinter mir einen mann mit glatze, der intensiv nickt und dabei kurz die augen schließt, in dieser typischen, fachmännischen art.

erst als ich auf dem parkplatz stehe, wird mir die absurdität des eben erlebten bewusst. vielleicht war das die verdrängung.

Mehr von Carla Kaspari