Interview 6 – in Germany I think it would not happen to me

Y. hat zwar einen Totenkopf auf seinem Oberarm, der aber trägt eine Blume im Mund. Genau wie Y. Alles, was er sagt, ist ruhig, reflektiert, wertschätzend. Y. lebt seit zwei Jahren in Deutschland. Seine Mutter kam vor sechs, aus Brasilien. Er lebt bei ihr, aber langfristig möchte er eigenständig sein. Unabhängig. An Deutschland schätzt er, dass sich niemand über ihn, seine Sexualität oder seine Kleidung lustig macht. Wobei, da war mal etwas, am Bahnhof…

 

 

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Interview 5 – das sind die Phasen wo ich am glücklichsten bin

Auch N. interviewe ich in der WG-Küche. Er ist auf Besuch. Wieder einmal ein Mitbewohner auf Zeit. Trotzdem schaffen wir es, uns kurz vor seiner Abreise noch einmal mit der Schreibmaschine hinzusetzen und uns zu unterhalten – über den Gegensatz zwischen Reproduktion und einer Erschaffung aus dem Nichts, über Leistungsdruck, Opportunismus und Höflichkeit, über den Wert von freier Zeit und darüber, wann N. am glücklichsten ist.

 

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Interview 4 – man darf den Masterplan nicht aus den Augen verlieren

Mit A. spreche ich in der WG-Küche. Er ist für 3 Tage mein Mitbewohner auf Zeit. A. sagt, wie ich finde, ziemlich kluge Sachen über Schaffenskrisen, Schreibblockaden, Dorfhochzeiten und den Masterplan. Wem das zu anstrengend ist: Es geht auch um Essen und Katzen.

 

 

 

 

A. kommt aus der gleichen Gegend wie ich und wünscht mir zum Abschied eine schöne Kirschblütenzeit am Bodensee. Fast immer, wenn ich danach an blühenden Kirchblüten vorbei gekommen, musste ich an seine Worte denken.

 

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Interview 3 – Alltag, seh ich nich so negativ

T. findet, dass Google vielleicht eine Depression hat, wenn es behauptet, dass unser Alltag monoton, grau und langweilig sei.

T. sagt: „Alltag seh ich nich so negativ“

T. würde sich eher als Kurzstreckenläufer bezeichnen, der Ort seines Alltags ist unterwegs sein, der Gegenstand ein Schlüsselbund.

Mit T. spreche ich Mitte März. Vor uns liegen Monate des Lockdowns. Er ist der letzte meiner Interviewpartner, der sagen kann: „deswegen seh ich den Alltag glaub so positiv, weil ich an so vielen unterschiedlichen Orten bin“

 

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Interview 2 – Zur Zeit mach ich Home Office

T. habe ich am Abend vor dem ersten Corona-Lockdown getroffen. Als wir alle noch nicht genau wussten, was da so kommt. „Am Wochenende nochmal schnell in die Picasso-Ausstellung, wer weiß, wann die wieder aufmacht“, sagte meine Begleitung, mit der ich auf der photo + unterwegs war.

T. hat Wein verkauft, Wein und andere Getränke, aber die meisten trinken Wein auf Thomas Neumanns Vernissage. Alle stehen im Kreis, lachen und reden, einer hustet, da geht man schon einen Schritt mehr rückwärts als sonst, aber trotzdem bleiben alle, trotzdem sind da Menschen, Menschen aus mehr als zwei Haushalten, stehen zusammen, trinken, lachen, husten. Wer hätte gedacht, was da  alles noch folgt.

T. berichtet in ihrem Interview auch vom Husten, vom Husten und vom Home Office und wie sich das damals noch anfühlte, am 13. März, als wir den Lockdown zwar kommen sahen, aber nicht im Entferntesten ahnten, wie lange uns das hält.

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Interview 1 – Heute will jeder Pirat werden

Vier Monate her. Es ist März.

Ich schrieb:

„Auch witzig, Menschen zu ihrem Alltag zu befragen, wenn gerade der Alltag von Deutschland, wenn nicht sogar der Welt, auf den Kopf gestellt wird…“

…sagt mein Mitbewohner, als ich ihm von meiner Projektidee erzähle, mit den Menschen in der Rheinschiene über ihren All-Tag zu sprechen.

Und Recht hat er. Das Wort „Alltag“ bekommt noch einmal eine andere Bedeutung, wenn er aus den Fugen gerät: Arbeitsplätze geschlossen werden, Veranstaltungen abgesagt, Reisen untersagt, Berührungen vermieden. „Wir sind unter Quarantäne, selbst, wenn wir nicht unter Quarantäne sind, nämlicher unter sozialer Quarantäne“, sagt eine Freundin von mir am Telefon.

Aber auch mein Alltag ist auf den Kopf gestellt, nicht durch Corona, sondern durch das stadt.land.text.-Stipendium. Stadt statt Land, NRW statt BW, Kunst statt Kann das weg.

Teile mir eigentlich nur mit 5.616 Menschen ein Ortsschild, nicht mit 612.178.

(Frage: Habe ich jetzt weniger Stadt, da nur ein 612.178tel, was eindeutig weniger ist als ein 5.616tel – selbst ohne große Rechenkünste – oder mehr, da 217,4 Quadratkilometer auch eindeutig mehr sind als 12,08…?)

Blick auf schneebedeckte Alpenketten eingetauscht gegen Blick auf Häuserfassaden. Hier, netterweise, oftmals Backstein, gefällt mir. Ich wohne in einer ehemaligen Backfabrik, aus der 2012 das Weltkunstzimmer geworden ist, auch Backstein. Aus meinem Zimmer Blick auf Häuserfassaden, aber – wie gesagt – immerhin: Backstein. Thermenfenster, halbrund, dreigeteilt, trichotomisch, früher für die Belichtung der Thermenanlagen, heute für die Belichtung der Künstler.

Bunte Kunst im Halbkreis, wenn es außen rum Nacht ist. Und die Gewissheit: In dieser ganzen Anonymität ist wer, ist Leben. Fassaden und Fenster, im Mosaik beleuchtet, und in jedem, ein bisschen All-Tag, ein bisschen Mensch. Ne Menge Kunst statt ‚Kann das weg‘. Bin direkt vom eigenen Umzug (à la: Ja, es kann weg, es sollte weg – wobei… Man kann es doch bestimmt gebrauchen! Irgendwann) geschlittert in ein: Ich bleibe – während um mich herum ein- und ausgezogen wird.

Der zitierte Mitbewohner ist mittlerweile mein Ex-Mitbewohner, leider, aber der nächste kommt gleich, ein Kommen und Gehen. Die Künstler, die hier in den Gastateliers wohnen, sind oft nur wenige Tage da, aber irgendwie gehört das ja auch zum Künstlerdasein, dieses Hin- und Herziehen, dieses Da- und Dortsein.

Das sagt auch M, als ich ihn danach frage:

Die Fotos von M mache ich, während er schon wieder auszieht. Paparazzo beim Packen. Kaum kennengelernt, schon wieder auf dem Sprung.

M ist – wie ich – schlecht im Wegwerfen, aber er ist dafür gut im Sammeln. Besonders von Papierschnipseln. Und Kleiderbügeln (aus denen er beispielsweise Lampen baut. Wie cool ist das denn!). Alles hat dann doch seine gute Seite. Und sind wir ehrlich: Welche Eigenschaft ist sympathischer? Na also.

Bunt, der gespiegelte Himmel über dem Weltkunstzimmer.

Aus den gesammelten Papierschnipseln macht M Collagen.

Mir gefallen die Sachen ja alle, aber in seinem Interview sagt M:

Mhm. Reduzieren statt Zumüllen. Klingt gut.

Habe ich doch selbst erst 17 Kartons von meinem Umzug ausgepackt, bevor ich nach Düsseldorf gefahren bin.

M ist auch schlecht im Umziehen, zumindest hat er ziemlich viel dabei geflucht – aber er tut es trotzdem ständig. Das Umziehen. Geflucht hat er in der ganzen Zeit nur beim Umziehen – und beim Interview.

Ansonsten ist er sehr nett. Ich bin etwas traurig, dass die Menschen in meinem Alltag während der Residenzzeit ständig gehen, sobald ich sie lieb gewonnen habe.

M sagt, er habe keinen Alltag. Aber wir sprechen trotzdem darüber. Vor allem über seinen Wunsch-Tag – und stellen fest: ziemlich archetypisch.

Aber: Haben wir nicht alle ein bisschen Sehnsucht nach Alltagsflucht in uns?

Das Fazit meines ersten Interviews:

 

 

10 Fragen, 10 Antworten.

Nr. 1: M.

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