Survival Gardening

Ort: Alte Ökonomie, Kloster Bentlage, Rheine | Datum: Fr, 06.10.2017 | Wetter: Reste des Sturms auf den Wegen, regnerisch, 9°C

Die Regale sind leer. Scheiben blind. Scherben und Verpackungsmüll knirschen unter den Sohlen. Plastikfetzen und Blätter rascheln über gesprungene Fliesen. Trübes Tageslicht dringt bis zum Kassenbereich, vielleicht noch bis zu den ersten Regalreihen. Die Kühlabteilung, tief im Inneren, im Taschenlampenlicht in Streifen zerschnitten. Es ist still. Kein Radio, keine Durchsagen, kein Summen der Kühltheken, kein Rauschen der Gefriertruhen. Was tun, wenn das System zusammenbricht? Wenn Supermärkte leer, Cafés und Restaurants verlassen, ausgeräumt sind. Wenn Dosen und in Plastik verschweißte Vorräte langsam zur Neige gehen.

Im Krisengarten des Künstlerduos Scheibe & Güntzel auf der alten Ökonomie, Kloster Bentlage, Rheine.Seit April diesen Jahres arbeiten Swaantje Güntzel und Jan-Philip Scheibe auf der Ökonomie von Kloster Bentlage. Hier haben sie auf etwa 100 qm ihren Krisengarten angelegt – auf Basis eines Gemüsesaatgut-Bevorratungspakets, das eine vierköpfige Familie im Katastrophenfall ernähren soll. Ist fruchtbares Land und sauberes Wasser gefunden und gesichert, soll dieses Paket dem Überleben dienen. 20 reinsaatige Samen, verpackt in 20 Tütchen. Erbsen, Bohnen, verschiedene Kohlsorten, Kürbis, Karotten, Zwiebeln, Mais, Salat. An Wissen allein das, was auf der Rückseite der Packungen steht. Nichts über die Beschaffenheit des Bodens, die Schädlinge oder die Witterung.

Ein europaweites agierendes künstlerisches Projekt begibt sich in bekannte Gefilde – nach Westfalen.

Einen Moment lang, einen Augenblick, Anfang des Sommers, im Juli, war alles perfekt, so Philip. Da hätte man die Zeit anhalten wollen. In der „Grünen Blase“. Bis auf die Paprika gehen alle Samen im selbst angelegten Garten der alten Ökonomie am Kloster Bentlage an. Neben dem Krisengarten die Auseinandersetzung mit konkreter Landschaft und Natur. Ein Dekodieren von Texten, ein Erfahren des lebendigen Archivs. Begegnung mit den BewohnerInnen vor Ort. Daraus entwickeln Swaantje und Philip Ideen für Interventionen im öffentlichen Raum. Performances, die Traditionen und Geschichten einer Landschaft und ihrer BewohnerInnen reflektieren. Sie aufrufen und befragen. Mit vergleichendem Blick in die Gegenwart.

Am Gartenzaun, der aus herumliegenden Zaunelementen und Holzlatten selbst gezimmert wurde, kommt es während des Survival Gardening Projektes immer wieder zu Begegnungen mit den Menschen aus der Region. Mit ihrer Beziehung zur Natur, zur Scholle. Und, was daraus hervorgeht. Hervorkommt. Über – Lebensmittel. Essen. Gemeinschaft. Die Versorgung aus dem eigenen Nutzgarten ist hier noch Teil des Gedächtnisses. Ein Zurück dahin? Nicht vorstellbar. Keine romantische Verklärung oder Landlust-Ästhetik, sondern vor allem die lebendige Erinnerung an – harte Arbeit. Ein Vermissen – ja. Ein Zurück – nein.

Wann schlug die Selbstversorgerkultur zur Supermarktkultur um?

Vor dem Ersten Weltkrieg waren Gärten zur Selbstversorgung vor allem bei der Arbeiterschaft verbreitet. Erst während des Krieges setzte sich der Garten auch in der Bürgerschicht durch. Blick in den Krisengarten des Projekts "PRESERVED // Survival Gardening" des Künstlerduos Scheibe & Güntzel auf der alten Ökonomie, Kloster Bentlage, Rheine.Wer während des Zweiten Weltkriegs einen Garten hatte, erfuhr zwar Mangel und Entbehrung – aber keinen Hunger. Wer keinen hatte – Philip und Swaantje geben wi(e)der: Erinnerungen an Hamsterfahrten. Städter aus dem Ruhrgebiet. Butter in der Kleidung versteckt. Nachts. Die Sperren umgehend. Ein Leuchten nach noch unreifen Beeren. Ein Suchen nach den letzten zurückgelassenen Bohnen im Kraut auf dem Feld. Tauschgeschäfte durch den handbreit geöffneten Türspalt. In Krisenzeiten ändert sich das Verhältnis von Mensch und Natur. Eine (Wieder)Entdeckung scheinbar vergangener Kulturtechniken. Der eigene Nutzgarten. Beeren und Maronen sammeln. Giersch und Brennnessel als Nahrungsmittel. Einkochen und einlegen. Rote Beete färbt den Stoff.

Die Performances und Installationen brechen Bekanntgeglaubtes auf. Leuchten neue Räume aus. Bei manchen PassantInnen streifen sie die Wahrnehmung nur. Oder aber treffen mitten hinein. Fordern Reaktionen heraus. Stoßen an. Treffen auf Unverständnis bis Ablehnung, aber auch auf Neugierde und Interesse. Was nimmst du mit? Was macht das mit dir? Sie liefern keine Antworten. Sie stellen Fragen. Tragen sich fort. Bis nachhause gehe ich noch ein paar Schritte. Den Rucksack voll mit Maronen. In Händen einen kopfgroßen Kohlrabi aus dem Krisengarten. Es nieselt. Mir kommen fünf Personen entgegen. Drei von ihnen stellen Blickkontakt her. Drei von ihnen lächeln mich an.

Wo stehen wir heute im Verhältnis zur Natur? Schützen, konservieren, kontrollieren?

P.S.: Es gibt Grünkohlsorten, die keinen Frost benötigen. Es gibt Kohlrabisorten, die nicht verholzen, wenn sie größer als faustgroß werden. Es stimmt. Ich habe sie probiert.

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Hier und Nichthier

Ort: Burg Hülshoff | Datum: Sa, 26.08.2017 | Wetter: bewölkt, 19°C

Der Parkplatz füllt sich schnell. Die Leute strömen. Um das hier! zu sehen. Die Sehnsucht in die Ferne. Und das NICHTHIER. Ich bin gerade – in der Mitte. Zwei Monate mit dem Bulli unterwegs durch das Münsterland. Immer ein Stück zuhause dabei: mein Bett, meine Bücherkiste, mein Draht zur Welt. Durch die Windschutzscheibe jeden Tag ein neuer Ausblick. Vor der Tür jeden Tag ein neuer Vorgarten. Bin ich hier oder nichthier, in der Fremde oder doch noch im Eigenen? Vielleicht ist auch die Grenze dazwischen bewohnbar. Die Bewegung. Für kurze Zeit. Wenn die Unruhe nicht wäre.

„Rastlos treibts mich um“

Ein Fünftel ihres Lebens verbrachte die Droste auf Reisen. Zehn Jahre bewegte sie sich auf familiären Routen. Ostwestfalen, der Bodensee, die Schweiz und die Niederlande. Etwa die Hälfte ihres Werks entstand auf Reisen. „The World as Raw Material.“ Ohne das Unterwegs-Sein, in Gedanken wie auf der Straße, hätte auch ich den Großteil meiner Texte so nicht schreiben können. Begegnungen. Menschen in Bewegung. Abgelegene Orte. Ich habe einige gesehen und werde noch einige aufsuchen. Von manchen hatte ich zuvor gehört. Über andere bin ich gestolpert, habe sie auf meinem Weg für mich entdeckt. Einige habe ich beschrieben und geteilt.

„Sehnsucht in die Ferne“ ist der Titel der Ausstellung. So nennt die Droste ihren ganz persönlichen „Plagedämon“. Immer dort sein zu wollen, wo sie nicht ist. Die Sehnsucht in die Ferne immer auch eine Sehnsucht nach dem (anderen) Hier? Nach weiblicher Selbstbestimmung, nach Handlungsmacht? Eine erträumte Freiheit im Schreiben, im heimlichen Lösen des gebundenen Haars. Eine Frau. Unverheiratet. Betritt man die Ausstellung, tritt man zunächst wie selbstverständlich den Reisegefährten entgegen. Auf Augenhöhe. Manchmal begegne ich ihnen auf meinem Road Trip. Dann erntet meine Antwort – „Ja, genau, ich bin allein unterwegs, mit dem Bulli“ – Stirnrunzeln und hochgezogene Augenbrauen.

Daneben dann das Reisegefährt. Die Postkutsche, die Eisenbahn, das Dampfschiff. Technische Entwicklungen ihrer Zeit veränderten das Wie und das Wohin der Reise. Mein Gefährte und Gefährt wäre vielleicht auch etwas für die Droste gewesen: Der Bulli als ein Stück Eigenes in der Fremde. Und statt mobiler Münzsammlung die Bücherkiste. Statt Erpernburger Butterbröde der Filterkaffee im Thermobecher. Und die Rastlosigkeit. Die Unruhe. Sirenengesang der Ferne oder „klingts wie Heymathslieder“? Sehnsucht – in beide Richtungen? Flucht. Suche. Traum. Ziel. Rückkehr.

„Mein Indien liegt in – “

Sehnsucht treibt die Schreibenden um. Nach Räumen. Vermeintlich fern, vermeintlich nah. Die musikalische Performance „NICHTHIER“ lässt die Droste ebenso zu Wort kommen wie westfälische KünstlerInnen der Gegenwart. Ersehnen von Orten. Von Aufbrechen und Ankommen. Nach globaler Entgrenzung und lokaler Verortung. Stimmen sprechen von Westfalen und der Welt. Das Eigene braucht immer auch das Fremde. Zur Abgrenzung. Zur Selbstvergewisserung. Zur Verortung. Wobei beides zum Sehnsuchtsort werden kann: Heimat und Fremde. Heimweh und Fernweh. Im Sehnen scheint die Unmöglichkeit schon verankert – ein künstlerischer Motor?

Wo entsteht Kunst? Was ist der richtige Ort des Schaffens? Der DichterInnen-Ort. Der Ich-Ort der Poesie. Braucht es Sesshaftigkeit oder Bewegung? Verwurzelung oder Ungebundenheit? Den Rückzug ins Ich oder das Mitten-in-der-Welt-Sein? Um Inspiration zu finden. Um kreativ sein zu können. Annettes Ort kann man in der Ausstellung aufsuchen. Die virtuelle Realität ist vor allem – schwer. Im Schaukelstuhl sitzend halte ich die Brille mit beiden Händen. Bin hier, bei mir, das Kissen im Rücken. Das Schaukeln. Bin nichthier, wo sich das Licht im Wassertropfen am Rocksaum bricht, im Grase. Bewege mich. Stetig vor und zurück.

Was sind meine Souvenirs? Was nehme ich mit von meiner bisherigen Reise durch das Münsterland? In meinem „Schatzkästlein“ liegen: ein Stück Sandstein, eine rosafarbene Feder, ein Festivalbändchen, eine venezianische Maske. Mein Atlas des Münsterlandes, der mit jedem besuchten Ort dicker wird. Mehr Zettel ansammelt. Und verschiedenste Texte, die ihren Weg hinein und hinaus finden. Hier dann die Postkarten meines Road Trips. Von: Mir. An: Alle, die mögen. Briefmarke: Sehnsucht in die nahegelegene Ferne, ins Fremde im Eigenen.

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12:54 Uhr, Essen Museum Folkwang

Stille, ein Gefühl des Aufgeregtseins, des Entrücktseins, des Dort-, nicht des Hierseins. Lesesaal, Ruhesaal. Möbel im Bauhausstil, klare Farben, zurückgenommen; niemand da. Das Surren einer Anlage, scheinbarer Wind, Zäsur: das Knarzen des Stuhles beim Hinsetzen, Zurücklehnen. Die Suche nach exakten Beschreibungen, nach Worten, die das begreifen, was ist. Kein Geruch, aber der Wunsch nach Strenge, die Möbel: herausgerissen aus einem Schlaf. Keine Begriffe für Klarheit, keine Worte für Glasfenster und Kuben. Ein, ein, aus, atmen. Die Finger in das Polster drücken, Knautschzonen ausmachen, versuchen, Struktur zu erfassen. Warten, bis jemand kommt. Darf jemand kommen? Ist es erforderlich, dass jemand kommt? Muss es zwingend ein ‚zu zweit‘ geben im Raum? Aber dann auch: Muss es Raum geben? Dazu, entfernt aus dem Off: „Wie weit muss in die Vergangenheit zurückgegangen werden, um die jüngste Vergangenheit vergessen zu können?“* Der Blick in den Hof, hier: gewölbt, Skulptur. Einzelne Wirbel der Skulptur mit den Augen abtasten, fühlen, wie es sich fühlen könnte. Der Wunsch nach Nahtlosigkeit, und dann doch: nach einem ‚zu zweit‘, und keinem Raum. Der bewusste Griff nach Übereinstimmung, dem Weltverständnis in einem Satz: „romantisch überzeichnete Ausdrucksmittel“ und „magische[r] Realismus.“**

Und dann, ganz abrupt, geht von links die Tür auf. Ein Mann betritt den Raum. Er trägt einen schwarzen Anzug und einen verkabelten Stöpsel im Ohr. Er schaut verwundert, nickt dann unmerklich, lässt die Tür ihr Übriges tun, geht durch den Raum, seine schwarzen Schuhe quietschen, er schaut auf den Boden, er bleibt unvermittelt stehen, scharrt mit dem linken Schuh, nachdrücklich, es geht nicht weg, er wartet, entscheidet, belässt es, geht weiter, öffnet die Tür – und zwar eine andere. Sie fällt krachend ins Schloss. Irgendwo wird gelacht, und jemand sagt: „Ach komm. Das ist doch Gelsenkirchener Barock.“*** 13:11 Uhr


Quellen der Zitate in der Reihenfolge ihrer Erwähnung:

*Peggy Buth: Leute wie wir. Altenessen, Karnap, Rheinhausen, Marxloh, Bredeney, 2017. 3-Kanal-HD-Projektion, Farbe, S/W, 2-Kanal-Stereo Sound.
**Ausstellungstext im Raum Neue Sachlichkeit, Sammlung Museum Folkwang. Vollständiger Satz: „Sie (die Vertreter der Neuen Sachlichkeit, Anm. d. V.) nutzen romantisch überzeichnete Ausdrucksmittel und entwickeln einen magischen Realismus.“
***Annett Gröschner, Autorin.



>Museum Folkwang<

Das Museum Folkwang in Essen. ©mhu
Das Museum Folkwang in Essen. ©mhu
Die Architektur des Museum Folkwang in Essen ist eine einnehmende. Die Klarheit des Gebäudes lässt Raum für die Kunstwerke, die Inhalte, die KünstlerInnen. Neben der ständigen Sammlung, die Malerei und Skulpturen des 19. und 20. Jahrhunderts beinhaltet, sind die Einzel- und Gruppenaustellungen immer auf der Höhe der Zeit. Mit dem 3. September enden die Ausstellungen von Arwed Messmer (RAF – No Evidence/Kein Beweis), Peggy Buth (Vom Nutzen der Angst) und San Francisco 1967 – Plakate im Summer of Love. Es folgt: Alexander Kluge (Pluriversum). Die Vernissage ist am 14. September, der Eintritt ist frei.

 

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Zeitkapseln – Phönix in 3D

In dieser kleinen Stadt – kaum zu glauben – seien schon alle gewesen: Römer, Spanier, Holländer, Schweden, Franzosen, Preußen, Briten, Amerikaner… Als Gründer, als Eroberer, als Konkurrenten, als Krieger, als Rachsüchtige. Am Ende lag die Stadt am Boden. Vollkommen flach.

Nach meiner virtuellen Reise in die Geschichte von Jülich reise ich jetzt analog. Um zu forschen.

In Jülich gähnt das Präsens vor leeren Läden, lässt sich von einem Hund durch die Straßen zerren, trinkt Tee in nostalgischen Cafés,  schlägt die Zeit mit Ankömmlingen am Bahnhof tot.

Vom Perfekt spricht  in Jülich keiner. In der Vergangenheit lag die Stadt im Koma. Sie war fast völlig zerstört. Sie sollte ein Mahnmal werden. Eine Abschreckdame für die Zukunft. Doch sie stand auf und erfand ihr Futur. Nun gehen alle wieder hin: zum Phönix aus der Asche, nach Jülich. Zum Forschen.

Landsmann

Am Rande der Stadt, mitten im Wald, wächst ein Zauberriese, entworfen von den klügsten Köpfen der Welt: „das Forschungszentrum“.

Auf dem Weg dorthin warte ich mit 15 anderen Pendlern auf den Bus. Mein Blick wandert zwischen der im Schatten liegenden Zuckerfabrik und einem hochgewachsenen Mann im blauen Sakko mit dichtem, dunklen Haar, der nervös auf seine Armbanduhr schaut.

Er verstehe es nicht, wo bleibe der Bus, wo sei er schon wieder stecken geblieben, fragt er nervös, als sich unsere Blicke kreuzen. Sein Akzent macht mich neugierig. Ich hake nach: ob er jeden Tag mit dem Bus fahre, frage ich. Ja, er forsche hier seit Monaten mit einem Team internationaler Wissenschaftler, Spitzenmediziner, das „heiße Thema“, das ihn seit acht Jahren um die Welt treibe: „Demenz!“

Seit er seinen Master in Medizin in Skopje abgeschlossen hat, gäbe es für ihn nichts anderes. Ich lächle, finde gut, dass er, der Arzt aus Skopje, mein Landsmann, pardon, mein Ex-Landsmann gegen das Vergessen kämpft.

„Das kann nicht nur der Balkan gut gebrauchen“, sage ich und stelle mich vor:

„Ich komme aus Sarajevo!“

„Dejan“, sagt er und gibt mir die Hand. Er freut sich nicht weniger als ich, das Gespräch in „unserer“ noch gemeinsamen, inzwischen „toten“ Sprache, in Serbokroatisch, fortsetzen zu können. Sechs Jahre lang habe Dejan in Aachen an der Uni Klinik geforscht, jetzt warte auf ihn ein neuer Job in England. Morgen früh fliege er für zwei Tage endlich einmal wieder nach Skopje. Seine „Familienbande“ könne es nicht abwarten.

Als wir nach sieben Minuten aus dem Bus, der wegen Umbauten auf dem Gelände herum kreist, aussteigen, sind wir schon fast Freunde, echte Balkanverwandte.

Futur

An der Pforte werde ich registriert und dann einem jungen Doktoranden aus Erkelenz übergeben, der mir die nächsten zwei Stunden gehört. Sebastian von Helden, mein persönlicher Führer, erforscht in Jülich die durchsichtige Keramik, erfahre ich, als wir auf dem Fahrrad über das riesige Gelände des Jülicher Forschungscampus kurven.

Sebastian von Helden, Doktorand am FZ Jülich

In einem Crashkurs steige ich in die aktuelle Forschung in Werkstoffmechanik ein: transparente Keramik, ein kostbarer Stoff für Sensoren. Der Ultraviolette-Rote-Bereich sei bislang nur Militärdomäne gewesen. Die „teure Ware“ solle er mit dem Team, das sein Professor-Vater Singheißer um sich gesammelt hat, für Zivilzwecke salonfähig machen. Kostengünstig. Neben ihm, dem einzigen Deutschen unter den Doktoranden, seien in der „Crew“ noch ein Japaner, ein Iraner, zwei Chinesen, zwei Brasilianer…

Bei der Zentralbibliothek, die mit einer 340 mschrägen Solarplatte als Dach für Forschungszwecke geschmückt worden war und zu einer Art Dauerinstallation wurde, spüre ich Durst.

Zentralbibliothek des Forschungszentrums Jülich

Das Wetter ist sonnig, nicht zu heiß, ideal für eine Tasse Kaffee am See. Der Doktorand verwirft seine Pläne und folgt mir in das „Seecasino“ des Forschungszentrums, eine Art Kantine.  Der Campus ist riesig. Auf 2, 2 km2 seien die Labore zwischen den Bäumen „wie Pilze nach dem Regen gewachsen“, erklärt mir der junge Doktorand, „in alle High-Tech-Richtungen“.

In Jülich rast die Zukunft  in den Bereichen Energie, Umwelt, Medizin schneller als ein ICE.

Superstars & Sündenböcke

Begeistert ist der junge Wissenschaftler aus Erkelenz auch vom „SAPHIR„, der Atmosphäresimulationskammer mit reinem Sauerstoff, in dem Spurenelemente wie Silizium im Nano-Bereich untersucht werden. Die Wissenschaftler beobachten dort die chemischen Reaktionen von UV-Licht.

Algen, die ultimative Energiealternative zu Kerosin

Doch das „aufregendste Thema“ auf dem Gelände der Superhirne sei eine Wunderpflanze, die schnell und überall wachse und dabei Kohlendioxid verschlucke: „die Alge als ultimative Energiealternative zu Kerosin!“ Gelänge es den Wissenschaftlern mit Algen die schmutzigen Standardstoffe Öl und Gas zu ersetzen, könne man mit „einer Klappe zwei Fliegen schlagen“: die Umwelt retten und Jülich endlich als „Heldin“ in der Geschichte verewigen.

In Jülich, dem Mekka des High-Tech, sei auch das Biomolekularzentrum mit der Gehirnerforschung „ganz vorne in der Welt“. Das Gehirn sei ein noch immer „unentdecktes Feld“, voller Rätsel, reize die Medizinforscher überall auf der ganzen Welt.

Das Besondere aber in Jülich sei die interdisziplinäre Gehirn-Forschung, die Biologie, Medizin, Informations- und Computerforschung und die Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz vereine und sich „gegenseitig inspirieren lasse“.

„Sündenböcke“ des Forschungszentrums

Zum Schluss stehen wir vor zwei Rentnern: den beiden übrig gebliebenen Kern-Reaktoren im Ruhestand. „Merlin“, der älteste Bruder, mit dem alles hier in Jülich begann, sei schon lange unter die Erde gebracht worden. Die jüngeren „Dido“ und  „Große Heiße Zellen“, der eine in Form einer Mosche, der andere in Form einer Kaffeekanne blicken wie Sündenböcke auf uns. Abgeriegelt mit doppeltem Maschendraht. Ob das die restlichen Strahlungen verhindern wird…

„Pioniere“ mit Stacheldraht abgeriegelt

Der junge Doktorand, der mich durch das Gelände führt, weiß auch nicht, wo der Atomabfall der Jahrzehnte langen radioaktiven Forschungen landen solle. Das Zwischenlager mit den dicken Betonmauern, eine Art temporärer Friedhof, sei noch im Betrieb. Die Pioniere der Zukunft von Jülich, einst fortschrittlich, kämen langsam ins Alter, zum alten Eisen…

Am Anfang seiner Forschung in Jülich sei er, der Doktorand aus Erkelenz, „gesundheitlich gecheckt“ worden, so wie jeder anderer, der hier ankomme. Wenn er seine Forschung beendet habe, werde er wieder gecheckt. „Erst Vorsorge- dann Sicherheitsmaßnahme…“

 

Plusquamperfekt, die Zitadelle…

In Jülich glänzt das Plusquamperfekt gut bewahrt unter der Erde, unsichtbar für die Überirdischen und Normalsterblichen, glorreich wie die imposante Festung mitten in der Stadt: die Zitadelle.

Eingang in die Zitadelle

Das Monument der Vergangenheit sei nun die Zukunft für die Rentner aus dem Forschungszentrum, scherzt Wolfgang Barkhoff. Kurz bevor er die Touristenführungen ehrenamtlich in der Zitadelle übernahm, war er Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Aachen Abteilung Jülich und habe lange als Maschinenbauingenieur mit dem Jülicher Forschungszentrum kooperiert. Nun habe er, der gebürtige Hamburger, die Ehre mir die Jülicher Geschichte in den Katakomben zu präsentieren: von den Römern, den Gründern, über die Holländer und Spanier, die im Mittelalter Erzfeinde gewesen seien bis zu den Preußen … Achtzig Jahre lang hätten sich die Holländer und Spanier bekriegt. Auch wegen Jülich. Dann waren da noch die Dänen, Schweden, Franzosen mit ihrem Napoleon, Preußen, Fürsten, Kaiser, Könige.

Blick zurück mit historischen Gestalten

 

Doch einer hat sich hier einen besonderen Platzt erkämpft, der Renaissancefürst Wilhelm V., der als „reicher Fürst“ die Zitadelle bauen ließ und sich dafür bis zum Hals verschuldet habe.

Ab hier bleibe ich mit der Jülicher Geschichte alleine. Der Hamburger wurde für eine andere Zitadellen-Aufgabe gerufen. Eine Hochzeit steht an. Er steigt die Treppe hoch, ich schaue genauer hinter die Kulissen.

Die ganze Macht der Feudalherren basiert eigentlich auf sorgfältig geplante und arrangierte Hochzeiten, um sich politisch zu verketten und die Territorien europaweit zu sichern. Mit meiner Analyse gehe ich weiter und traue mich nun zu behaupten, dass die heutige EU-Überlegenheit politisch, wirtschaftlich und kulturell genau auf dieser Hochzeitsklüngelei basiert. Der Jülicher Held Wilhelm V. hat z.B. seine erste Frau, eine adelige Französin aus politischen Gründen geheiratet und kurz danach aus den gleichen Gründen wieder verlassen. Schlecht kalkuliert. Diese Ehe hat der Papst – kaum zu glauben – eigenhändig annulliert, um dann die neue Ehe mit einer Habsburgerin, auch politische motiviert, jungfräulich zu segnen. Das mit „bis uns der Tod scheidet“ scheint bei Katholiken aus dieser  Zeit nur für „Normalsterbliche“ gegolten zu haben.

Europa und der Vatikan von damals mit ihren arrangierten Zwangsehen als Vorbilder für die armen und verspäteten Nationen im Nahen Osten heute?

Perfekt

Angefixt von den Hochzeits-Geschichten und frisch gerüstet mit einer Fotokamera steige ich am nächsten Tag wieder in die Katakombe. Diesmal mit Helmuth Gröber, einem „Exoten“, einem geborenen Jülicher. Er, Betriebswirt, habe fast 40 Jahre lang im Forschungszentrum in der Verwaltung gearbeitet. Seit vier Jahren nun ist auch er ehrenamtlicher Zitadellen-Führer. Er liebe diese 500 Jahre „alte Dame“, die prächtig, viereckig mitten in der Stadt von einer glorreichen Geschichte zeuge.

Helmut Groebel und Wolfgang Berghoff, ehrenamtliche Zitadellen-Führer

 

Heute sei Jülich wieder gut auf den Beinen, meint der Patriot. Wissenschaftler aus 56 Nationen der Welt forschen hier für die Zukunft. Die Vergangenheit, Nachkriegszeit, kenne er nur aus den Erzählungen seines Vaters. Engländer und Amerikaner hätten in Jülich gegen Hitler gewütet und Rache ausgeübt. Als sein Vater nach dem Krieg aus der französischen Gefangenschaft nach Jülich zurückkam, habe er den Weg nach Hause nicht mehr finden können. Alles lag in Trümmern. Ja, aus Geschichte solle man lernen. Aber immer mit dem Blick auf die Zukunft.

Chinesen

Nun beglückt die Zitadelle  unter und über der Erde die Kunst zweier Chinesen.  „China-German-Story“, ein China-Deutschland-Alltagsvergleich als Thema des chinesischen Photografen Steve Zhao: deutsche Ordnung und Korrektheit gegen chinesischen Humor und Improvisation.

 

Steve Zhao: Chinesischer Humor vs. deutsche Korrektheit

 

Und im Garten der Zitadelle herrschen bis Ende November die riesigen Rostskulpturen von Ren Rong, Künstler aus Peking, der seit dreißig Jahren in Bonn lebt und  überall zu Hause sei oder umgekehrt wie es in seinem Katalog steht: „die ganze Welt ist in seinem Schaffen daheim: in seine Eisenskulpturen fließen Symbole östlicher und westlicher Kulturen ein… ein Zeichen der Hoffnung  und des Friedens…“  Er zaubert aus dem schweren Rost-Material fein ziselierte, schwebende Traumsymbole so zart wie Brüsseler Spitze.

     

Präsens

Jülich, dreiunddreißig Tausend Einwohner, eine Provinzstadt. Vier Tage, ein paar Runden in der Fußgängerzone und schon sammelt sich mein Stammtisch um mich herum. Ein dürrer Junge mit schwarzen Käppi und Hängehose, an jeder Seite zwei Mädchen und einer halb ausgetrunkenen Plastikflasche Spezi in der Hand, zwinkert mir zu als ich ihn beim Vorbeigehen zum zweiten Mal genauer anschaue: „Beim  dritten Mal geben sie uns einen aus…“ sagt er und bringt die Mädels zum Kichern.

 

     

An dem stillen Alltag und den leeren Läden sei das „Internet schuldig“ diagnostiziert eine gesprächige Dame im „Infocenter“. Alle kauften heute virtuell, bei Amazon. Das mache Jülich arm und die Amerikaner reich. Sie täte es ja auch, inzwischen. Leider. Ihr Geld sei knapp und über das Netz sei alles wirklich viel günstiger.

Jülich, jung, alt, mächtig, gebrechlich, lebt parallel. Gleichwertig. In 3 D. Drei Zeiten. Drei Welten. Drei Dimensionen.

 

 

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