Der Rauch ist verzogen – das Sauerland als Vorgarten des Ruhrgebiets

„Was mich ärgert ist, dass viele das Hochsauerland nur als grüne Lunge des Ruhrgebiets ansehen, obwohl wir inzwischen das Kern-Industriegebiet sind“, schimpfte vor über zehn Jahren der Arnsberger Fabrikant Dieter Henrici in der FAZ. Ein interessanter Vorwurf, wenn man dabei an Max von der Grün, Bergarbeiter, zweimal dabei verschüttet, später Schriftsteller aus Dortmund, dem damaligen Kern-Industriegebiet denkt. Der nannte das Sauerland in einer Merian Reportage, für die er 1977 mit dem VW Käfer durch die Berge und Täler juckelte, noch „den Vorgarten des Ruhrgebiets“. Sauerland war – uff, durchatmen. Heute sind sich die beiden Regionen bei Luft und Look nähergekommen, irgendwie.

Meine Mutter kommt aus dem Sauerland, ich habe hier als Kind viel Zeit verbracht, Wanderungen durch die Wälder, Osterfeuer auf Bergkuppen, Spazieren um Seen. Aufgewachsen bin ich in einem Dortmund, das weder Außengastronomie noch begrünte Mittelstreifen hatte. Der Vorgarten, den Max von der Grün wohl meinte, war oft das einzige, in jedem Fall das nächste Grün. Im Vorgarten einer Zechenkolonie, wenn es überhaupt einen gibt, sitzt man nach Feierabend, redet mit den Nachbarn, da zieht man vielleicht Gemüse, zischt ein Pilsken oder stutzt die Wiese. Und am Wochenende raus aus den grau-rußigen, betonversiegelten Städten voller potthässlicher Wiederaufbauarchitektur, weg von qualmenden Schloten, dem DängDängDäng der damals noch fahrenden Förderkörbe, dem Horror der autogerechten Innenstädte, den kleinen Häuschen und dem nächtlichen Sonnenaufgang ohne Horizont beim Abstich im Stahlwerk bei Hoesch. Der Kontrast hätte nicht größer sein können.

„Es gibt vielleicht noch schönere Ecken in Deutschland, ganz sicher unberührterte, aber keine wird von so vielen Menschen so bitter benötigt wie das Sauerland. Für Millionen, die täglich unter der Dunstglocke des Ruhrgebiets leben müssen, ist hier die grüne Lunge, die ihnen neuen Atem gibt.“ Max von der Grün

Auf einem Foto so um die Zeit als Max von der Grün für den Merian Sauerland seinen Text schrieb, sieht man meine Familie im Westfalenpark vorm Florian Fernsehturm (damals das Wahrzeichen) stehen: Frühjahr offenbar, mein Vater mit Koteletten in Schlaghosen, Mutter mit einem bauschenden Kleid und großer Sonnenbrille, ich mit Pilzkopf in Cordhosen stehen wir da und blinzeln. Noch nicht viele Blätter an den Bäumen aber ein klarer Himmel – und im Hintergrund die zwei rauchende Hochöfen von Phönix West. Ganz normal wirkt das. Wirken wir. Und auf der Fahrt zu Omma ins Sauerland dann die ewige Landstraße, Wälder, Wälder, Höfe, Kühe, glänzende Bäche und Talsperre und Kopfsteinpflasterstraßen zwischen Altbauten – und eine Burg über der Stadt, 45 Minuten entfernt.

Heute: Die IHKs der Region „Südwestfalen“ (einem Kunstverbund aus Sauerland und Siegerland, der von vielen hier nicht gemocht wird) verweisen stolz auf „153 Weltmarktführer“, vor allem mittelständische und inhabergeführte Unternehmen – nicht stadtverunstaltende Großindustrie.
Weltweit stammt jedenfalls jede fünfte Fahrradpumpe von Scheffer-Klute in Sundern. Vier von zehn Rolltreppen zwischen Düsseldorf und Dehli laufen auf Ketten von Ketten Wulf in Eslohe-Kückelheim. Veltins und Krombacher trinkt man auch anderswo in Europa, wie vor 30 Jahren DAB und Union Pils aus Dortmund. Das Sauerland  (Vollbeschäftigung in den meisten Kreisen!) hat den Job des industriellen Kerns übernommen. Es steht dabei – Wälder, Berge, Fachwerk, Arbeit, Export, Wurst und Bier – für ein Deutschland, wie es sich im Ausland viele vorstellen – die würden nur die fehlenden Lederhosen beklagen.

Aber bemerkt man die Industrie in der Landschaft, so wie sie im Ruhrgebiet mit Bahntrassen, Autobahnen, Kanälen und Siedlungen die Städte bis heute formt? Höchstens an den vielen LKWs, denen man auf den gut ausgebauten Bundesstraßen begegnet – ansonsten grünt und hügelt und fachwerkt es hier wie schon zu den Zeiten, als der spendierfreudige Steiger aus der Industriemetropole hier mit seinem Opel vorfuhr und im Dorf den Lärri gemacht hat – wie man so sagt.

Um einen Buchtitel zu zitieren: „Der Rauch verbindet die Städte nicht nicht mehr“. Stattdessen: „Boa ist das grün hier!“ Dieser Ausruf der Ruhrgebiets-Erst-Besuchers beendet die eigenartige Nostalgie, von weißer Wäsche, die zum Trocknen rausgehängt, abends grau ist. Currywurst. ehrlicher Fußball und schwatte Gesichter, tempi passati. Die Letzte Zeche schloss vor 30, letztes großes Stahlwerk vor 20 Jahren, der BVB ist Aktienunternehmen, und auch sonst wird vor allem gedienstleistet und gut gegessen – mehr oder minder emissionsfrei. Parks in der Stadt, Grünstreifen überall, stillgelegte Bahnstrecken als Radwege mitten durch die Stadt und der Phönixsee auf dem ehemaligen Stahlwerksgelände – so sieht Dortmund heute aus. Für Grün und frische Luft braucht keiner mehr ins Sauerland fahren, Nur, wenn man wie ich hier in Bödefeld abends noch einen Spaziergang den Berg rauf machen will und in totaler Stille unter sich auf Hügellandschaften blickt, die im warmen Licht des Abends der Toskana in nichts nachstehen – fehlt nur ein Weingut und 10 Grad mehr – dann kriegt man das nur hier.

Sauerland und Ruhrgebiet sind sich in 40 Jahren ähnlicher geworden. Aber zum Glück nicht im globalisierten Sinn von überall das Gleiche, von kultureller Nivellierung und dem Verlust von Traditionen und Heimatgefühlen. Sondern in dem Sinn, dass man nimmt, was man brauchen kann und lässt, was nicht passt und trotzdem weiß, wo man herkommt.
Als Ruhrgebietler hier ist alles sicher nicht mehr so krass übergrün, aber ob Abendsparziergang oder Wirtschaftsgeografie: das Sauerland hat was. Oder liegt’s einfach am Alter, dass ich mir vorstellen kann, hier öfter hinzukommen und schon ein Häuschen gefunden hab, das perfekt passen würde. Ehemaliges Försterhäuschen, Waldrand, kein Nachbar auf 500 Metern und ein Blick auf die rollenden Hügel – und trotzdem ein Vorgarten dabei.


Foto rauchender Schlot: www.gelsenkirchener-geschichten.de
Phönix Dortmund: Fotograf unbekannt
alle anderen Fotos: Caravante

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08:16 Uhr, U47 Richtung Dortmund Aplerbeck

Hallo Frau Schulte, Frau Schulte! … Wir kennen uns doch! … Natürlich! Frau Schulte vom Finanzamt! … Nicht? … Wirklich nicht? … Sie kommen aus Leipzig? Das kann nicht sein! Sie sind doch Frau Schulte? … Tatsache? … Was machen Sie hier? … Fußball? Achso. … Aber warum Dortmund? … Sie sind BVB-Fan? Eine Leipzigerin? Wie geht das? … Warum sind Sie nicht für Leipzig? … Kann nicht sein. … Ich bin auch kein BVB-Fan. Ich komm aber auch nicht aus Dortmund, ich wohn hier bloß. Ich bin ja für Werder Bremen – kennen Sie Werder Bremen? … Auch. Dann waren Sie hier auch mal im Stadion? … Nicht? … Ist schwierig, Karten zu kriegen? Warum? … Kann nicht sein. … Aber das Spiel gestern – die hätten besser sein können. … Sehen Sie auch so? Ja, ja. Und der Lewandowski, also wirklich, was da abgeht. … Sehn Sie auch so? … Ja. Leipzig. Warum sind Sie nicht für Leipzig? … Ist was anderes mit dem BVB? So? … Wie kommt das? … Können Sie auch nicht sagen, ja. … Früher war Energie Cottbus mal in der ersten Liga, wussten Sie das? Aber, dass Erzgebirge Aue in der zweiten Liga ist, das versteh ich nicht. … Sie müssen hier raus? So geht das. Nach Leipzig geht’s, ne? …  Ja, tschüss dann.“ 08:19 Uhr


>DFL Supercup 2017: Borussia Dortmund – FC Bayern München, 4:5 n.E. (2:2, 1:1)<

Ein einziges Hörspiel: Dortmunder Stadtbahn. Hier leer. ©mhu
Ein einziges Hörspiel: Dortmunder Stadtbahn. Hier leer. ©mhu
Schon Tage vor dem Spiel liefen die Dortmunder wieder vermehrt mit BVB-Trikots durch die Stadt. Wann die Mannschaft trainierte, konnte man an Vollfanbekleidung und an großen, bunt verzierten Trommeln, die mit äußerster Vorsicht in den Stadtbahnen transportiert wurden, ausmachen. Obwohl die Bundesliga-Saison noch nicht wieder begonnen hat, gibt es etliche Spiele nebenher. So wie der DFL Supercup 2017. Und für BVB-Fans ist Pause anscheinend ein Fremdwort.
Fußballfankultur hautnah erleben kann man deswegen vor allem, wenn man mit Bus und Bahn unterwegs ist. Für alle gemäßigteren Gemüter gibt es das Deutsche Fußballmuseum direkt gegenüber des Dortmunder Hauptbahnhofes.

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17:55 Uhr, „Bang Boom Bang“

Saatkrähen picken in einem Wohngebiet vor einer angefressen wirkenden Mauer Moos aus dem Boden. Hinter der etwa zwei Meter hohen Mauer mit abschließbarem Tor stehen zwei Dutzend Männer. Ordentlich aufgereiht pinkeln sie ins wildernde Gras. Grau aufragende Pfosten in der Mitte der Brachfläche komplementieren das Bild. Die Abendsonne zeichnet den Horizont weich. Blickt man nicht zu konzentriert in die Ferne, ist die Weite ganz nah.

„Das hier ist der Sportpatz“, sagt ein Mann, der ein T-Shirt mit der Aufschrift „Bang Boom Bang“ trägt. Er hält ein laminiertes Foto nach oben, auf dem eine Tribüne und ein Fußballplatz abgebildet ist.
„Uh, klasse!“, ist aus den Männerreihen zu hören. Dazu Nicken, anerkennende Blicke über Brennesselansammlungen.
Es folgen erhobene Zeigefinger: „Da muss Til Schweiger entlang gejockelt sein.“ Und vor der Brust verschränkte Arme, kombiniert mit breitem Stand: „Ja nee, is klar.“

Dann hat man sich satt gesehen. Es gibt noch weitere Sehenswürdigkeiten. Die Saatkrähen gucken von unten, ihre grauweißen Schnäbel erzählen eine andere Geschichte. 18:06 Uhr



>Bang Boom Bang – Kultfilm im Pott<

Busfenster mit KFZ-Kennzeichen für BBB-Insider. ©mhu
Busfenster mit KFZ-Kennzeichen für BBB-Insider. ©mhu
2011 war die Bustour noch ein Gag auf einem Junggesellenabschied. Dann kam das Interesse außerhalb des Bekanntenkreises. Seitdem bieten die Veranstalter von „Bang Boom Bang – Die Tour“ in regelmäßigen Abständen Fahrten zu den original Drehorten des Kultfilms „Bang Boom Bang – Ein todsicheres Ding“ an. In Unna und Dortmund kann man so neben dem Sportplatz auch Keeks Haus, „Franky’s Video Power“, Schluckes  Fundort, den Flughafen und die Pferderennbahn besichtigen.
Die Nachfrage ist groß, die Tour beliebt und die Veranstalter routiniert. Neben selbst recherchierten Hintergrundinfos zu Regisseur und Film gibt es Bier und Unterhaltung bis in die Nacht. Bei der Tour Ende Juli gehörte auch der Besuch des Films beim Open-Air-Kino im Westfalenpark und Party im Daddy Blatzheim dazu.

Kult, Kult, Kult – warum eigentlich?

Seit 18 Jahren läuft jeden Freitag im Bochumer Kino UCI die deutsche Action-Komödie „Bang Boom Bang – Ein todsicheres Ding“ von Regisseur Peter Thorwarth. „Bang Boom Bang“ ist der erste Teil der heute so schön benannten und beworbenen Thorwarth’schen „Unna-Trilogie“, dazu gehören „Was nicht passt, wird passend gemacht“ (2002) und „Goldene Zeiten“ (2006).
Wenn man fragt, warum es heißt, dass „Bang Boom Bang“ exemplarisch für das Ruhrgebiet stehe, dann folgen Sätze wie: „Das gibt es woanders nicht“, „Das ist typisch Ruhrpott“ und in Abwandlung: „Das ist nur hier möglich“, „So stellt man sich eben das Ruhrgebiet vor“. Dass die Menschen, die ich auf der Bustour getroffen habe, eben nicht so sind, zeigt allein schon die Frage nach schulischem und akademischem Werdegang, Beruf und Familienstand. Trotzdem konnten viele jede Zeile des Films mitsprechen, verbanden erste Dates oder ihre Jugend mit dem Film. Auch waren es überwiegend Männer, die an der Tour teilnahmen. Später im Westfalenpark waren auch mehr Männer als Frauen zugegen. Manch eine Frau wurde für ihre Teilnahme gelobt. Ein „Männerfilm“ also? Und wenn ja: Dann wird unterschlagen, dass Melanie – die einzige signifikate Frauenrolle im Film, gespielt von Alexandra Neldel – die Jungs am Ende alle linkt.

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11:17 Uhr, Dortmund Hafen

„Was wolln die? Nen Schraubenschlüssel?!“ In einer Werkstatt am Hafen erklärt ein Mann in blauem Overall einem anderen ähnlich Aussehendem, aus welchem Grund da eine Gruppe bestehend aus zwei Frauen, zwei Männern, einer Kamera, einem Stativ, einem Mikrofon – grau und puschelig – Kopfhörern und einer Tontasche auf dem Gelände herumsteht. Der Anlass ist schnell geklärt, der Schraubenschlüssel besorgt. Worte gibt es nicht im Überfluss. Am Ziel ist die Uferkante schmal, zwei Personen passen nicht nebeneinander. Die Gruppe reiht sich auf. Dann, ein Blick nach unten: Bis das Wasser beginnt, vergehen ein paar Meter. Die Frau mit der Kamera bringt sich und die anderen nah zu sich in Position, dann sagt sie: „Kann gleich losgehen. Oh, ein Schiff! Jetzt!“

Ein Ausflugsschiff fährt vorbei. An der Seite ist der Schriftzug „Santa Monika II“ zu lesen. An Deck sind Männer zu sehen, ohne Bärte und oben ohne. An der Kamerafrau rechts vorbeibeugend, fragt einer der beiden Männer: „Ist das hier wie in Kiel?“ Von links unten ragt das Puschel-Mikrofon hinauf. Auf der anderen Uferseite schnattern die Kanadagänse, Container werden leise verräumt. „Klar“, sagt die Frau vor der Kamera zu den drei Positionierten, lacht: „Warum auch nicht?“ Es nieselt, und hätte die Frau eine Regenjacke getragen, man hätte auf den ersten Blick nicht feststellen können, in welcher Stadt sie sich gerade befindet. 11:22 Uhr



>Mit dem WDR-Team unterwegs in der Dortmunder Nordstadt<
Lustiges Drehpersonal: WDR-Team und Melanie. ©mhu
Lustiges Drehpersonal: Pascal, Maren, Olaf und ich. ©mhu
Damit ich mich ein bisschen wie zu Hause fühle, ist das WDR-Team mit mir zum Dortmunder Hafen gefahren, der als Binnenhafen mit Anbindung an Häfen in Amsterdam, Zeebrügge oder Antwerpen seit 1895 besteht. Im alten Hafenamt weihte Kaiser Wilhelm II. 1899 das Gelände ein, deswegen gibt es da jetzt auch ein Kaiserzimmer. Heute kann man hier – wie an vielen ehemaligen Industrie-Orten auch –  heiraten. Obwohl das Areal relativ unscheinbar wirkt, ist der Dortmunder Hafen mit seinen zehn Hafenbecken und einer Uferlänge von elf Kilometern größter Kanalhafen Europas. Pläne für ein urbanes Hafenquartier entlang der Speicherstraße gibt es.
Abhängen, Ausspannen, Feiern und Tanzen kann man aber bereits seit Jahren vor, auf und im Eventschiff Herr Walter. Sand, Strandkörbe und Palmen bringen an schönen Sommertagen maritimen Flair in die Industrieumgebung. Und wer Waffelessen mit Industrieschick verbinden will, der geht zu Tyde Studios.

Fernsehbeitrag vom 25. Juli 2017

Den WDR-Beitrag über #standlandtext gibt es hier zu sehen.


Work in Dreharbeiten: Der adhoc-Text aus der Hafenkombüse (siehe WDR-Beitrag)

12:59 Uhr, Dortmund Kanalstraße

Die Mittagspause ist vorbei, aus dem Bauwagen gegenüber dem Imbiss „Hafenkombüse“ kommen nach und nach drei Männer. Zwei von ihnen tragen gelbe Westen, der dritte hat einen schmalen, langen Zettel in der Hand. Damit stellt er sich auf die Straße vor den Imbiss. Mit beiden Händen hält er den Zettel weit von sich, schaut von der Straße auf seinen Plan und zurück. Es folgen Handbewegungen. Sie weisen einen Arbeiter mit gelber Weste an. Der dritte besteigt die Fahrerkabine eines ebenfalls gelben Wagens, an der vorne eine Walze angebracht ist. Er fährt nach vorne, dann fährt er zurück. Die Hafenkombüse zittert kräftig. Die Gäste lachen, reden, reagieren nicht auf den Lärm. In den Stühlen steckt die Kraft der Walze. Auf dem Bürgersteig ist jetzt ein Mann zu sehen. Er trägt die Haare vorne kurz, hinten lang. An seiner Hose verläuft ein langer weißer Streifen. Sein Hund ist klein und wuschelig. Er geht an den Straßenarbeitern vorbei und verschwindet hinter dem Bauwagen. Ein Mann in Bundeswehrkleidung und Rucksack läuft ins Bild. Er hält den Kopf geduckt, redet tonlos. In der Kombüse will es nicht später werden. Im Radio wird ein Song von Michael Jackson angekündigt.  / 13:14 Uhr


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11:35 Uhr, Dortmund Kreuzviertel

Bunte Ballons weisen den Weg zu den Innenhöfen. Ins Augen springen sie einem nicht, man muss sie schon suchen. Unterschiedliche Gruppen treffen auf den Gehwegen aufeinander – sie erkennen sich an dem Flyer, der die Standorte der Hofflohmärkte in Punkten angibt. Es wird Hofflohmarkt-Wissen ausgetauscht: „Also, da vorne, da verpassen Sie nix.“

Auffällig sind die Kinder. Mit ihren eigenen kleinen Ständen, auf denen Spielzeug und Bücher sorgsam gestapelt sind, sitzen sie auf Campingstühlen oder auf dem Boden, haben die Hand unterm Kinn oder am Mund und schauen bei jedem neuen Hinterhof-Besucher erwartungsfroh auf. Ein Junge in einem Hof in der Nähe der Möllerbrücke putzt seinen Mini-Trekker. Der Dreck wird nicht verschwinden, er ist reingewachsen in das Plastik, aber der Junge putzt kräftig.

Ein anderer trägt eine schwarz-rot-goldene Vuvuzuela durchs Viertel. Der Klang der Vuvuzuela ist heiser bis trocken, von Kneipengängern an der Essener Straße erntet der Junge belustigte Blicke. Ein weiterer sitzt mit einem Roboter, den er in ein Einkaufskörbchen gestellt hat, auf Pflastersteinen und ruft jemanden auf der anderen Seite des großen Innenhofes etwas zu. Es wird geantwortet, aber ein Gesicht ist nicht zu sehen.

In einem Hof wird über die bevorstehenden Sommerferien gesprochen. Die Erwachsenen sitzen nebeneinander hinter ihren Verkaufstischen und tauschen Reise-Tipps aus. „Da ist es familienfreundlich. Jetzt kein Highlight, aber wär ja dann auch anstrengend, so mit drei Kindern.“ Eine sagt: „Wir fahren dieses Jahr nicht nach Schweden. Wir fahren höchstens nach Essen.“ Und kurz darauf: „Ich war nicht ein einziges Mal am Phoenixsee. Erst mal gefällt mir die Bauweise nicht und dann weiß ich ja, wer da wohnt: nur Leute mit Knete.“

An einem anderen Stand werden Anekdoten erzählt. Das Thema ist nicht herauszuhören, aber eine Frau redet sich in Rage: „Alter, Alter. Das kann sich keiner vorstellen.“ – Pause – „Alter.“ – Pause – „Ich schwör‘!“ Es wird nicht klar, ob sie es ironisch meint oder nicht. Niemand lacht.

An der Liebigstraße wird verhandelt. Im Vorbeigehen ist die Verkäuferin zu hören: „Also, bei eBay zahlen’se mehr. Das hab ich natürlich recherchiert.“

In einer Einfahrt wird einem Kleinkind, das in einem Kinderwagen liegt, die Windel gewechselt. Mutter und Vater sind geübt und beflissen, die volle Windel wird erst einmal auf den Boden gelegt. Hinter ihnen spielt ein Junge im Hof, er wirft einen Ball in die Höhe und schaut, ob er auf anwesende Besucher fällt.

Im Innenhof der Kurze Straße verkauft ein Künstlerpaar Götterspeise, Kir Royal und Kunst zum Selbermachen. Aus einem selbstgebauten Kunst-o-maten kann man sich eine Kunstkugel ziehen. Darin: ein Pfeifenreiniger, zwei Augen, Lametta und eine Stoffkugel. „Wenn man mal in der Kneipe sitzt und sich langweilt“, sagt die Künstlerin. Und: „Wir suchen noch Mitstreiter.“ Sie verteilt Visitenkarten, dann öffnet sie mehrere Flaschen Farbe und ein Junge setzt sich mit einem Pinsel auf ein weißes Leintuch. 14:27 Uhr


>Das Kreuzviertel<
Ganz romantisch: Das Kreuzviertel ist ein Gründerzeit-Viertel. ©mhu
Ganz romantisch: Das Kreuzviertel ist ein Gründerzeit-Viertel. ©mhu
Leben wollen sie alle im Kreuzviertel. Es ist das Dortmunder In-Viertel der vergangenen Jahre. Bereits zu D-Mark-Zeiten wurde ein Wandel in der Wohnkultur vermerkt. Die Studierenden von einst haben mittlerweile Familien gegründet, das Viertel ist kinderruhig und hundesauber. Die FH-Studierenden sitzen in den Restaurants und Kneipen rund um die Fachhochschule und Bäume wachsen viel und hoch. Das Kreuzviertel verdankt seinen Namen der Heilig-Kreuz-Kirche, innerhalb der Gemeindegrenze situiert sich auch das Viertel. Ein Besuch lohnt sich immer – nicht nur der Cafés, Kneipen und Läden wegen, sondern auch wegen des Literaturhauses, das dort ebenfalls ansässig ist.

Der nächste Hofflohmarkt in Dortmund wird am 2. September im Bezirk Kaiserbrunnen veranstaltet.

Mehr von Melanie Huber

22:13 Uhr, Dortmund Kaiserstraße

Die Ampeln stehen auf Rot am Ostenhellweg. Zu dieser Uhrzeit zeigt sich der Schwanenwall groß und leer. Auf der anderen Seite der Kreuzung wird das querformatige, über der Kaiserstraße angebrachte Schild „Gut leben und einkaufen – Kaiserviertel – Dortmund“ warm beleuchtet. Noch sind es 20 Grad Celsius, ab und an ist das Geräusch von rückenden Stühlen zu hören. Dazu: klirrendes Glas, tiefe Stimmen, sanftes Gelächter.

„Die Welt soll ein Schaufenster sein / doch ich laufe nur daran vorbei“ hallt es aus der Innenstadt. Zwei Fahrradfahrer nähern sich der nach wie vor roten Ampel am Ostenhellweg. Der eine ist erkennbar hell gekleidet – helle Shorts, helles Shirt, graues Basecap. Der andere trägt das gleiche in schwarz, in seiner Hosentasche spielt die Musik. „Alles kann man kaufen, außer Lebenszeit / Alles wiederholt sich, außer ’ne Gelegenheit.“ Beide Männer sitzen auf Mountainbikes. Mit den dicken Reifen hüpfen sie ungeduldig auf und ab. Eine Frau auf einem Hollandrad hält vor der Ampel, schaut ihr entgegen, wird vom Schein rosé-rot.

Der in schwarz gekleidete Fahrer dreht jetzt Kreise auf der Fahrbahn. Die Frau legt die Stirn in Falten, sie hat die Lenker ihres Fahrrades fest im Griff. Ihr Blick weiterhin: starr ampelgerichtet. Die beiden Männer nehmen keine Notiz von ihr. Als es grün wird, müssen sich alle drei kurz besinnen: Es geht weiter, jetzt. Sie treten in die Gänge, die Männer nehmen Fahrt auf. Unter dem Kaiserviertel-Schild sagt der Hellgekleidete so etwas, wie: „Geile Stimmung“. Der andere reagiert nicht. Seine Hose tönt: „Unterschätz nie die Kraft, die der Zufall hat / Du denkst viel zu lang, viel zu lang nach – Zug verpasst .“ Die Frau biegt an der Hohenzollernstraße rechts ab. 22:15 Uhr


>Das Kaiserviertel<
Das Kaiserviertel am Abend. ©mhu
Am Ende des Ostenhellwegs verlängert sich die Innenstadt von Dortmund um die Kaiserstraße. Cafés, Boutiquen, Altbauten und grüne Ecken: Das Kaiserviertel ist neben dem Kreuzviertel ein beliebter, innenstadtnaher Wohnort. Außerhalb der ehemaligen Wallanlage angesiegelt, ließen sich hier zu Zeiten der Industrialisierung viele Unternehmer nieder. Heute ist das Viertel Einkaufs- und Flaniermeile. Und kulinarisch soll es auch hoch hergehen.

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