ich habe schon sehr viel für dich vorbereitet, gedulde dich, es war genug zu erleben. Heute bekommst du nur ein kleines Gedicht über Sommergewitter, da diese hier wirklich frequentiert erscheinen, eingestreut kommen meist noch Sonnenschein, Begeisterung und Wind dazu. Seit ich hier wohne, habe ich hochgerechnet eventuell fünf Tage ohne Wetterwechsel verbracht. Das hebt jeden Tag die Spannung und lässt mich deswegen auch darüber schreiben.
Auf dem Minimosaikstück sieht man aus diesem Grund einen Sturm im Teutoburger Wald, in dem ich noch mehr herumwandern werde, da ich jetzt auch Zelt, Isomatte und Schlafsack in Herford habe. Das Minimosaik ist drehbar und zeigt von der anderen Seite Gebirge, nur so am Rande notiert.
Sturm
Es hagelt unerwartet
kleine Blitze in das Feld;
vor meinen Augen steht gebannt
ein Etwas und erstarrt
in erschlagendem Donner.
Eigentlich wäre heute ja auch Sommer;
wassergewordenes Metall klopft an den Fenstern,
in den Räumen greift man nach Gespenstern
eines Widerhalls der aufgestauten Enge,
zwischen Ästen und Bäumen,
Ähren und Träumen;
wir räumen hier genug Aufschlagfläche für Hagel ein,
oder für Konsorten unberechenbaren Wetters.
Letztlich bleibt ein Grauton,
der die Stille erschießt,
eine tobende Wolke,
die sich in Revolte
nicht den Bergen verschließt,
denn im aufgerauten Himmel
wabert unabwendbar,
ein Gewinde der Gleichberechtigung:
Du kannst nur so viel Sommer haben,
wieviel du davon verlangst.
Ich stehe auf dem Galgenhügel in Balve und bin überraschend traurig. Es gibt aktuellere Grausamkeiten, warum beweine ich welche, die 400 Jahre alt sind. Vor mir die Hexenstele, ein Denkmal für die Opfer der Hexenprozesse in Balve. Um uns herum Grün.
Gerade bin ich den Hügel hinaufgelaufen, einen Waldweg entlang, gesäumt von Buchen. Sind genau diesen Weg lange vor mir andere uneheliche Kinder mit verdächtig lockigem Haar gegangen? Wussten sie, was sie erwartet? Haben sie auf Rettung im letzten Moment gehofft?
Ich kann das nicht so stehen lassen. Ich muss glauben, dass einige von ihnen wussten, dass Zeiten kommen würden, wo wir mit Kopfschütteln um sie trauern würden. Später, im Zug, schreibe ich ein Gedicht für sie, schreibe ihnen ein bisschen Trotz zu, ein bisschen Stolz.
In Balve, dem Zentrum der Hexenverbrennung im Herzogtum Westfalen, wurde circa einer von 20 Einwohnern als Hexe/r hingerichtet. Treffen konnte es jeden, von einfachen Kutschern bis zur Frau des Bürgermeisters. Nach Prozessen, natürlich alles streng nach Vorschrift und völlig ordnungsgemäß, wurden die Verurteilten auf dem Galgenberg verbrannt – nachdem man sie vorher bis zum Geständnis gefoltert hat.
Ein fun fact, der keiner ist: Entgegen landläufigem Glauben, fanden die Hexenprozesse nicht im Mittelalter statt, sondern in der frühen Neuzeit. Und noch ein Schenkelklopfer: Im Gegensatz zur Inquisition waren die Hexenprozesse kein rein katholisches Unterfangen, sondern auch bei Protestanten beliebt.
Ich starre lange auf die Stele, schaue dann kurz auf die Uhr. Meine Stadtkindnaivität – die Überzeugung, dass ich egal wann, egal wo, immer irgendwie nach Hause kommen würde – wurde mir hier in Südwestfalen schnell ausgetrieben. Und so renne ich frei nach Südwestfalens Motto „Harmonie zwischen Mensch und Natur“, schwitzend den Galgenhügel wieder hinab, um den letzten Zug zu erwischen.
Balve ist malerisch. Balve ist genau, was denke wenn ich „Sauerland“ höre. Fachwerk, Hügel, Christen. Es ist aufgeräumt, es ist beschaulich, man grüßt sich.
Erst am Bahnhof zurück, kommen Risse ins Bild. Ein paar Teenager stehen herum, prahlen mit Blackouts und Trinkfestigkeit, lästern über Mitschüler, hören Captain Jack (ist es ein Phänomen, dass die südwestfälische Jugend 90er Jahre Elektromusik mag, oder sind das hier Zufallsfunde? Falls jemand nähere Informationen hat, freue ich mich über Kommentare). Nach meinem Sprint und meiner Zeit an der Hexenstele, lehne ich an dem Wartehäuschen, höre verschwitzt und verstört zu.
Ein Mädchen mit blau gefärbten Haaren erzählt von Samstagnacht, erzählt, wie ihre Freundin ihr beim Kotzen die Haare halten musste. „Du verträgst halt nichts“; sagt der Junge, der für die Musik verantwortlich ist und erntet dafür einen Fausthieb gegen die Schulter. Ich freue mich für diese jungen Balver. Ich freue mich, dass sie sich daneben benehmen dürfen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte das tödlich ausgehen können.
Nachtrag:
Wie lange muss es her sein, bevor wir das Leid anderer Menschen fiktionalisieren dürfen? Die Menschen aus Pompeji? Auf jeden Fall. Die aus dem Grenfell Tower? Auf keinen Fall. Ich entscheide, dass meine Schmerzgrenze auf jeden Fall nach 1666 liegt.
Das übliche Nachmittagstief. Die Arme der Wasserpflanze schwingen sanft in der kaum spürbaren Strömung. Die Schnecke am Meeresgrund zieht gemächlich ihre Bahn. Muscheln gähnen den Fischen entgegen. Letztere dümpeln im Wasser, bewegen nur leicht die Flossen. Ein Grollen. Der Blick zur Wasseroberfläche: Nichts deutet auf einen Sturm hin. Aber die Strömung schlägt um. Ein Blick in die Ferne: eine Trübung? Bewegung im Wasser. Die Muscheln schnappen zu. Die Schnecke verzieht sich in ihr Haus. Die Wasserpflanze greift krakend um sich. Flossen schlagen schneller. Die Trübung rollt heran, eine Welle aus – Dunkel.
So war das. Oder so ähnlich. Vor etwa 75 Millionen Jahren. Heute stehen wir mitten drin im Meer, auf dem Grund. Uneben von frischem Bruch. Die Werksteinbänke vor uns. Darüber verschiedene Schichten. Tonmergel, taubes Gestein. Etwa zehn Meter hoch ragt es vor uns in die Nachmittagssonne. Oben auszumachen ein paar Gräser und Buschwerk. Wir stehen in einem der letzten aktiven Steinbrüche in den Baumbergen.
Baumberger Kalksandstein. Der Marmor des Münsterlandes. Hierher kamen die Baumaterialien für den höchsten Hof im Münsterland, den wir eben passiert haben, Hof Meier. Und für das Schloss, den Dom und den Erbdrostenhof in Münster. Ohne den Sandstein sähe es wohl in weiten Teilen des Münsterlandes anders aus.
Marmor des Münsterlandes
Wir sind heute die Einzigen hier im Steinbruch. Jupp, 12 Kinder und ich. Etwa acht Kilometer von unserem Startpunkt, dem Bahnhof Billerbeck und dem Bulli entfernt. Es sind Sommerferien. Heute soll der wärmste Tag der Woche werden. Wir stehen im Schatten am Eingang des Steinbruchs. Laut Temperaturanzeige unserer GPS-Geräte wurde die 30°C-Marke soeben geknackt. Neben uns ein übermannsgroßer, feinsäuberlich abgespaltener Kalksandsteinblock. Dahinter geht es weiter bergab. Abraum, gebrochenes Gestein, Berge davon. Beige, gelblichbraun und gräulich.
Relikte aus einem Land vor unserer Zeit
Jupp zieht aus seinem Wanderrucksack die laminierte Abbildung eines Fossils. Ein Fisch, mit allem Drum und Dran. So einen hat man hier gefunden, in den Baumbergen. Ihn hatte das Seebeben überrascht. Weite Teile des Meeresbodens von einer Sekunde auf die andere eingeschlossen. Muscheln, Seeigel und Tintenfische. Unter Jupps Führung gehen wir selbst auf Erkundungstour, drehen Steine um, suchen am Boden, im Geröll. Helle Ablagerungen in der ansonsten dunkleren Bodenschicht. Zerriebene Muscheln. Jupp fährt die Linie mit dem Finger nach.
Der Steinbruch ist auf unserer Wanderung heute nur eine Station. Wir suchen nach Buchstaben. GPS-Geräte weisen uns den Weg durch die Baumberge, das Münsterländer Meer. Immer wieder blaue Fähnchen auf dem Display entlang der Strecke. Entlang von Feldern und Waldstücken. Überwachsene Hügel. Ehemalige Steinbrüche. Schließlich auch spürbar bergauf. Neben einem Meer nun auch noch Berge im Münsterland. Hier irgendwo ein weiterer Zettel, eingerollt in eine kleine Kapsel. Meist irgendwo am Wegesrand. Und schließlich, am Longinusturm, das Puzzlen nach dem Lösungswort. Im Schatten des Turms. Mit Blick aufs Meer.
Josef Räkers ist Diplom-Geograph und für die Baumbergeregion zuständiger Wegewart. Er hat als Projektleiter den Baumberger Ludgerusweg, dessen Verlauf wir heute streckenweise gefolgt sind, konzipiert und umgesetzt. Und die interaktive Schatzsuche mit GPS-Geräten. Kindern und Jugendlichen so die Geschichte der Region und ihre Natur spielerisch nahezubringen ist ihm ein besonderes Anliegen. Im Oktober führt er im Rahmen des Münsterland Festivals durch die Baumberge. Auf der Suche nach dem Meer und dem Marmor des Münsterlandes.
Saatkrähen picken in einem Wohngebiet vor einer angefressen wirkenden Mauer Moos aus dem Boden. Hinter der etwa zwei Meter hohen Mauer mit abschließbarem Tor stehen zwei Dutzend Männer. Ordentlich aufgereiht pinkeln sie ins wildernde Gras. Grau aufragende Pfosten in der Mitte der Brachfläche komplementieren das Bild. Die Abendsonne zeichnet den Horizont weich. Blickt man nicht zu konzentriert in die Ferne, ist die Weite ganz nah.
„Das hier ist der Sportpatz“, sagt ein Mann, der ein T-Shirt mit der Aufschrift „Bang Boom Bang“ trägt. Er hält ein laminiertes Foto nach oben, auf dem eine Tribüne und ein Fußballplatz abgebildet ist. „Uh, klasse!“, ist aus den Männerreihen zu hören. Dazu Nicken, anerkennende Blicke über Brennesselansammlungen. Es folgen erhobene Zeigefinger: „Da muss Til Schweiger entlang gejockelt sein.“ Und vor der Brust verschränkte Arme, kombiniert mit breitem Stand: „Ja nee, is klar.“
Dann hat man sich satt gesehen. Es gibt noch weitere Sehenswürdigkeiten. Die Saatkrähen gucken von unten, ihre grauweißen Schnäbel erzählen eine andere Geschichte. 18:06 Uhr
2011 war die Bustour noch ein Gag auf einem Junggesellenabschied. Dann kam das Interesse außerhalb des Bekanntenkreises. Seitdem bieten die Veranstalter von „Bang Boom Bang – Die Tour“ in regelmäßigen Abständen Fahrten zu den original Drehorten des Kultfilms „Bang Boom Bang – Ein todsicheres Ding“ an. In Unna und Dortmund kann man so neben dem Sportplatz auch Keeks Haus, „Franky’s Video Power“, Schluckes Fundort, den Flughafen und die Pferderennbahn besichtigen. Die Nachfrage ist groß, die Tour beliebt und die Veranstalter routiniert. Neben selbst recherchierten Hintergrundinfos zu Regisseur und Film gibt es Bier und Unterhaltung bis in die Nacht. Bei der Tour Ende Juli gehörte auch der Besuch des Films beim Open-Air-Kino im Westfalenpark und Party im Daddy Blatzheim dazu.
Kult, Kult, Kult – warum eigentlich?
Seit 18 Jahren läuft jeden Freitag im Bochumer Kino UCI die deutsche Action-Komödie „Bang Boom Bang – Ein todsicheres Ding“ von Regisseur Peter Thorwarth. „Bang Boom Bang“ ist der erste Teil der heute so schön benannten und beworbenen Thorwarth’schen „Unna-Trilogie“, dazu gehören „Was nicht passt, wird passend gemacht“ (2002) und „Goldene Zeiten“ (2006).
Wenn man fragt, warum es heißt, dass „Bang Boom Bang“ exemplarisch für das Ruhrgebiet stehe, dann folgen Sätze wie: „Das gibt es woanders nicht“, „Das ist typisch Ruhrpott“ und in Abwandlung: „Das ist nur hier möglich“, „So stellt man sich eben das Ruhrgebiet vor“. Dass die Menschen, die ich auf der Bustour getroffen habe, eben nicht so sind, zeigt allein schon die Frage nach schulischem und akademischem Werdegang, Beruf und Familienstand. Trotzdem konnten viele jede Zeile des Films mitsprechen, verbanden erste Dates oder ihre Jugend mit dem Film. Auch waren es überwiegend Männer, die an der Tour teilnahmen. Später im Westfalenpark waren auch mehr Männer als Frauen zugegen. Manch eine Frau wurde für ihre Teilnahme gelobt. Ein „Männerfilm“ also? Und wenn ja: Dann wird unterschlagen, dass Melanie – die einzige signifikate Frauenrolle im Film, gespielt von Alexandra Neldel – die Jungs am Ende alle linkt.
Aachener Bushof an einem verregneten Juliabend. Ich vermesse die Koordinaten, registriere viele düstere Gesichter, lande beim „Sultan“ und stoße auf einen hungrigen „Agenten“ aus dem Schwabenland. Er will die Welt retten. Wie und vor wem will ich wissen.
Ihre Augen unruhig, hungrig… (c)SVl.
Am Fenster meines neuen, noch leeren, sperrigen Zimmers, erwische ich im verlassenen Hinterhof den traurigen Blick eines Clowns aus Kunststoff, der eingefroren auf einem wackeligen, ca. zwei Meter hohem Ballerina-Bein steht. Es ist die erste Stunde meines neuen Lebens in Aachen. Ich betrete die laute Straße, irre um den Block, steige in den Bus und lande mitten in Aachen, am „Bushof“, da wo im Minutentakt aus allen Richtungen Busse ein- und ausfahren. Mein Magen knurrt. Der „Sultan“, breit in rot gekleidet, zwinkert mir mit seinen Leckereien zu. An diesem Sonntagabend gegen 21 Uhr drängelt es sich vor dem Schnellimbiss. Ein Gewimmel aus Farben, Geräuschen und würzigen Düften. Am Spieß drehendes Fleisch. Junge Männer mit Bärten aller Sorten, kurz, lang, gepflegt, wild, stehen vor seiner langen Theke wie Soldaten. Ihre Augen unruhig, hungrig. Ich stelle mich in die Schlange.
„Vucko & Tito“
Er fällt mir sofort auf, ich glaube, ich ihm auch.
Sein dünnes, seidiges Haar um sieben Nuancen heller als der Rest der Köpfe, der in der langen Schlange wartenden Menschen, dreht sich unruhig hin und her. Sein Blick ist wach, sein Körper fit, ich schätze ihn auf 47.
Zwei kleine dunkelhäutige Mädchen in Sari-Kleidern, kaum größer als ein Stock, hüpfen um einen Mann im weißen Gewandt. Ihr Vater vielleicht. Oder Großvater, der sie, sobald sie ruhig sind, über ihre Köpfe streicht. Die Kinder studieren den Mann mit dem hellen Seidenkopf. Er registriert ihre Blicke und geht in die Offensive:
„Hi, little girls, do you come from India?“
„No, nooo…“ sagt die eine. „We come from Pakistan!“ ergänzt die andere:
„And you?“
„I´m German, I come from Stuttgart!“, höre ich ihn, seine Heimatstadt besonders betonen. Ein echter „Schwabo“ also.
Die beiden Mädchen hüpfen weiter, suchen nach neuen Wundern. Der Schwabe spürt meinen Blick im Nacken und nimmt jetzt mich in Angriff:
„ Die Tour der France macht hungrig, ne? Waren sie dabei?“
„Nein, leider knapp verpasst!“
„ Ach, Sie kommen auch nicht von hier?“ fragt er.
„ Nein. Ich komme aus Köln. “, höre ich mich behaupten.
„Aus Köln?“ Er misst mich längs und quer:
„Und ursprünglich?“.
Oh Gott. Ursprünglich? Eine schwere Frage für jemanden wie mich. Wo fange ich an? Das kann schnell eine lange Geschichte werden. Ein Vierteljahrhundert lang… In Sarajevo, damals Jugoslawien, kurz vor dem Krieg…Seitdem mag ich diese Frage nicht.
„Tschechien? Polen?“ höre ich den fröhlichen Schwaben raten.
Ich will es ihm und mir nicht zu schwer machen und mache es kurz: „Sarajevo, Ex Jugoslawien…“
„Ach… Vuckoooo! Titoooo!!“ grinst er.
Ich muss lachen. Mein früheres Leben skurriler zu assoziieren, könnte ich auch nicht. Der friedliche Wolf aus Sarajevo, das lustige Maskottchen, das uns und dem Rest der Welt die beste Winter-Olympiade aller Zeiten beschert hat und das Schlitzohr, der Yugo-Cheffe, der Faschisten besiegt hatte, Stalin „Njet“ zu sagen wagte, uns mit einer kleinen Utopie, dem Selbstverwaltungs-Sozialismus der „Brüderlichkeit und Einheit“ jahrzehntelang verführte, auf dem internationalen Parkett zwischen Westen und Osten, Sozialismus und Kapitalismus wie keiner anderer tanzte, dem die Königin Elisabeth eine gläserne Kutsche schenkte, Kennedy einen Chevrolet, Gaddafi ein Kamel und Gandhi zwei Elefanten. Damals glaubte ich, wir seien der Nabel der Welt…
„1A!“, sage ich, „Volltreffer!“
Wir sitzen danach wie alte Kumpels auf der langen Bank aus Sperrholz vor dem „Sultans of Kebab“ und verschlingen hastig unsere frisch erworbenen Leckereien. Er hält einen Döner in den Händen, ich Lahmacun und Ayran. Um uns summt es wie in einem Bienenstock. Das Nachtleben der jungen Menschen, viele Ankömmlinge unter ihnen, die vom Alter her unsere Kinder sein könnten, beginnt gerade jetzt und hier. Mit Hunger. Beim Sultan. Am Fließband. Sie reden laut, blicken ernst, viele sehen gestresst aus. Ich spitze meine Ohren: höre Arabisch, Persisch, Türkisch, und ab und an schnappe ich ein paar Wörter Deutsch auf:
„Ja, Bruder…alles…nix, hey Mann, kompliziert… “
Jung, hungrig, arbeitslos
Der Schwabe staunt:
„So viele junge Männer!“ Das wäre er auch noch mal gerne, so jung… aber nicht so arbeitslos!“
„Leider… man kann nicht alles haben!“ rezitiere ich die Standardweisheit meiner georgischen Freundin.
„ Ob die Jungs hier noch die Kurve kriegen?“ rätselt der Schwabe.
„Sie schaffen das schon… keine Sorge!“ spüre ich in mir Angelas Zuversicht aufkommen.
„Wir haben das auch geschafft…“
Der Schwabe schüttelt besorgt den Kopf.
„Die Welt ist heute anders als damals, als wir noch jung waren…“ sagt er wehleidig. „… damals gab es noch Sozialismus…“ meint er.
Ich bin überrascht.
„Ach, das hört sich an, als ob Sie das kaputte System vermissen würden?“ frage ich ihn.
„Ja… im Sozialismus haben alle eine Arbeit gehabt, musste keiner auf der Straße betteln, und auf doofe Gedanken kommen. Und der Kapitalismus damals hatte ein Gegengewicht, musste sich anständig benehmen…“ sagt er.
Ich nicke.
„Leider fehlte im Sozialismus die Motivation….“ sagt er.
„… und die Demokratie!“ füge ich hinzu.
Das System, das Bildung, Gesundheit und Gerechtigkeit nicht nur verspricht, vermisse allerdings auch ich!
„Jetzt sind der Westen und der Osten wieder vereinigt. Im globalen Raubzug des Turbokapitalismus. Der muss jetzt gegen ganz anderem Kaliber kämpfen: gegen den IS! Die Islamisten“, schwadroniert der Schwabe.
„ Vielleicht sind das seinen eigenen Auswüchse…“ höre ich mich sagen.
Angst, Ausländer, Agent
Der Schwabe und ich sitzen nun vor dem leeren Plastiktablett, unsere Mägen rülpsen vor sich hin, versuchen den „Sultan“ zu verdauen. Ich brauche einen Mocca und möchte den Schwaben einladen. Er blickt unruhig, wolle lieber woanders hingehen, sagt er. Hier habe er langsam Angst, gibt er zu.
„Angst?“ staune ich über seine Ehrlichkeit.
Ich verstehe. Wäre ich hier alleine, hätte ich längst das Weite gesucht. Mit ihm, dem redseligen Schwaben, der mir an diesem Sonntagabend ein wenig die Einsamkeit vertreibt, fühle ich mich sicher. Ich will hier und nirgendswo anders mit ihm, dem Schwaben, einen Kaffee trinken, um seinen und meinen Ängsten und all den jungen, ernsten Menschen, die hier bei „Sultans of Döner“ heute Abend ihr Stück Heimat gefunden haben, in die Augen zu sehen.
Ich will sie verstehen, diese Angst, die uns lähmt, trennt, die zwischen uns steht, wie ein Monster. Sie ist so menschlich, wie Sehnsucht und die Liebe, wie der Wunsch dazu gehören zu wollen.
„Keine Angst!“ sage ich dem Schwaben. „Ich bin bei Ihnen! Hier bin ich eine von ihnen, praktisch ihre Schicksalsschwester… die Ausländerin“.
Er lacht verunsichert, nimmt meine Einladung zögernd, aber mutig an.
Hinter der Mocca-Theke bedient ein hübsches Gesicht unter leuchtend blauem Kopftuch. Es lächelt schüchtern, als ein kräftiger, dunkelhaariger Junge in einem weiten, schwarzen, schweren Trainingsanzug mit den drei Streifen auf Deutsch bestellt:
„Einen kräftigeren Mocca als sonst bitte, ruhig ein Löffelchen mehr“.
Der Schwabe mustert den Jungen von oben nach unten, lacht als ob er einen guten Witz gehört hätte, und startet eine neue Recherche.
„ Neeeh, kein Türke, ich stamme aus dem Irak“, reagiert die schwarze Trainingsmontur.
Er sei vor zehn Jahren nach Aachen gekommen, erzählt er weiter, geflohen, damals im Krieg, als Saddam getötet wurde…
„Zehn Jahre ist auch dieser Krieg her?“ staune ich. „Oh, Gott!“
Die Rollen der Bösen
Warum ausgerechnet die Araber, die Rolle der Bösen jetzt schon solange so hartnäckig besetzen, frage ich mich.
Bei uns, damals in Sozialismus, waren die Araber die Guten, unsere Verbündeten. Zu uns kamen sie als Freunde, als Mitglieder der „blockfreien Bewegung“, um mit Tito die Welt zu retten… vor den Atombomben der bösen Russen und Amerikaner… wie früher vor den deutschen Faschisten, den „bösen Schwabos“ im 2.Weltkrieg. Bevor Tito mit Willy Brandt auf der Insel „Brioni“ kubanische Zigarren rauchten und Tito die deutsche Schuld an unserem Land vergaß. Willy verwandelte dafür unsere Arbeitslosen in seine Gastarbeiter, unter anderem meine vier Onkel und meine Lieblingstante.
Mein Vater hat bei Gaddafi gearbeitet. Meine Nachbarin als Köchin bei Saddam. Said aus Palästina hat mit meinem Bruder in Sarajevo Architektur studiert. Mit Dollars, die seine Brüder in Amerika verdienten. Wenn Said sonntags zu uns kam, hat er zuerst mit unseren Vater eine Runde Schach gespielt. Der Papa wollte sein Arabisch auffrischen. Die Mutter hatte ihnen Tee serviert, den uns Djamal von seiner Mutter mit vielen lieben Grüßen aus Ramallah mitgebracht hatte.
Bosnien, das im Herzen Jugoslawiens und Europas lag, hatte die Tür zum Osten und zum Westen gleich weit geöffnet. Das Zusammenleben von Moslems, Christen, Juden und Atheisten war eine Selbstverständlichkeit. Die Andersartigkeit wurde mit Neugier und Herzlichkeit als Geschenk des Himmels gelebt.
Hunger & Spiele (c) SVl.
Das unser im Krieg verlorene Paradies haben nun die Saudis entdeckt. Dank Instagram, Facebook und anderen Internetnetzen kommen jedes Jahr mehr und mehr reiche Araber mit ihren verhüllten Frauen, Töchtern und Müttern nach Sarajevo, berichtet ein Kollege von „Oslobodjenje“, der Zeitung, für die ich früher auch geschrieben habe. „So viel Grün, so viel Wasser, weite Schatten, hohe Berge, leckere Speisen… alles zum Spottpreis… sie fühlen sich bei ihren Glaubensbrüdern, den bosnischen Moslems, einfach phantastisch!“
Der Schwabe mit seiner Tasse Mocca in der Hand fängt an, sich langsam beim „Sultan“ zu entspannen; er sucht uns einen freien Platz im inneren Bereich, geht leger durch den neonhellen Laden und setzt sich dann mutig direkt hinter eine Gruppe bärtiger Männer in Hochwasser-Hosen.
Warum musste der „Schwabo“ sich ausgerechnet an diesen Tisch setzen? Er glänzt sauber wie kein anderer. Es ist nicht zu übersehen, dass sich da sonst keiner hin traut. Nur wir beiden Narren – er Deutsch, ich Frau, im Alter ihrer Eltern – wagen es, sich so nah bei diesen finsteren Jungs niederzulassen.
Hoffentlich startet er jetzt keine neue Recherche. Die Jungs sehen nicht so aus, als ob sie Lust hätten, auf seine Fragen brav zu antworten, wo sie her kommen, wie lange sie hier sind, so wie vorhin die kleinen Mädchen im Sari, der Iraker oder ich.
Lange Bärte, kurze Hose, düstere Blicke
Besser er ist ein Agent und lauscht unauffällig, welche Pläne die bärtigen Jungs haben könnten. Das wäre gar keine schlechte Idee. Solche Jungs kommen ständig auf gefährlichen Ideen, die nicht nur ihnen schaden. Ich fange an, meine Ohren zu spitzen. Es muss arabisch sein, was sie sprechen. Ich erinnere mich an die Freunde meines Bruders in Sarajevo und frage mich, was wohl aus ihnen geworden ist und auf welcher Seite sie jetzt stehen.
Die düsteren Gesichter scheinen uns nicht ernst zu nehmen, sie schauen durch uns hindurch. Mein Blick schweift hin und her. Vom Schwaben, der entspannt mir gegenüber sitzt und seinen Kaffee schlürft und den harten Jungs, die er im Rücken und ich im Auge haben.
Ob die im Nahmen Allahs unschuldigen Menschen schaden wollen? Ob sie dabei sind, Terror vorzubereiten? Sind sie wirklich so böse, wie sie aussehen? Vielleicht haben sie selber Angst? Und wollen nur eines: sich Respekt verschaffen! Auf der besseren Seite des Lebens stehen, wie die gleichaltrigen Hipster, denen sie verdammt ähnlich sehen. Machen sie das böse Spiel, weil sie selber Angst haben? Weil sie nie dazugehören dürfen ?
„In der Zwickmühle“
Meine Gedanken sind wieder in Sarajevo. Bei den Arabern. Sie sind heute ein zweischneidiges Schwert in Bosnien. Sie bringen Geld ins Land, das Bosnien nötig hat, aber sie laufen mit ihren bis auf die Augenschlitze in Schwarz vermummten Frauen und einer Herde lauten Kindern durch das Land wie Außerirdische, ohne Kontakt zu den Einheimischen zu suchen. Wo sie hinkommen, herrschen neue Gesetzte, ohne Alkohol, Musik und Witze.
„Who pays, who says!“ sagen die bosnischen Wirte und zählen zufrieden ihre Dollars.
Die Araber „schwimmen“ im Geld, heißt es in Bosnien. Gegen den Araber als Touristen hätten sie nichts. Im Gegenteil. Geld ist das, was Bosnier an Arabern am meisten interessiert. Aber die Araber wollen mehr von Bosniern. Sie kaufen alles auf, was sie finden können: Immobilien in jeder Lage. Im großen Stil: Landflächen bis zu 10 Hektar und mehr! Den Preis bestimmen sie. Unter einen Dollar bezahlen sie pro Quadratmeter. Dahinter stecke ein Plan! vermuten die besorgten Bosnier.
Die bosnischen Muslime fühlen sich nun in der Zwickmühle. Von den Westeuropäern sind sie unter Generalverdacht als Muslime geraten und von den Arabern als schlechte Moslems ins Visier genommen, denen der „echte Islam“ beigebracht werden müsse.
Am Bushof. Beim Sultan. Am Fließband. (c)SVl.
Der Schwabe, nun mit fröhlichem Grinsen, scheint seine Angst vor Arabern gänzlich verloren zu haben. Er hat sich nun noch näher an die Gruppe der bärtigen Jungs in den kurzen Hosen und mit den düsteren Blicken gewagt. Ein Agent? Bond? James Bond? Der im Auftrag der Geheimdiensten seine Antenne im „Sultan“ installiert? Um die gefährlichen Pläne der verlorenen jungen Männer rechtzeitig zu vereiteln?
Er liebe die Welt, sagt er. Seine Familie lebe seit 500 Jahren in Stuttgart, aber er sei lieber unterwegs. Früher als Schreiner, jetzt als Manager „bei Bosch“. Er habe sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt, dann BWL studiert. Wirtschaft dirigiere heute die Politik. „Früher war es andersrum“, palavert er.
Zu spät?
Die Teegläser der jungen Araber sind schon längst ausgetrunken, einer unter ihnen, der mit dem längsten Bart, hält gerade einen Vortrag; er blickt ernst, mürrisch, die anderen hören konzentriert zu, einer kaut an den Resten seines zusammengerollten Döners.
„Die könnten die Brüder von Che und Castro sein, wenn sie nicht so böse gucken würden“ will ich sie freundlich dekodieren, beiße mir aber auf die Lippen, schwärme lieber von Aachen, der Eifel und der Dreiecks-Region, in dem Deutschland endet und Europa beginnt, oder andersherum?
Er liebe diese Stadt „der deutschen Königen, Kaiser, Kurfürsten…“, leider sei er hier nur unterwegs, immer auf dem Weg nach Europa: nach Brüssel, Paris, London…, sagt der Schwabe und schaut durch die dicken Fensterscheiben auf die dunkle Strasse. Heute bleibe erzum ersten Mal „beim Karl“ über Nacht. Ganz in der Nähe vom Aachener Dom. Morgen gehe es weiter nach Luxemburg… Der Schwabe wackelt auf seinem Stuhl hin und her. Er hoffe, sagt er, dass die Welt noch lange so bleibe…
„So bleibt?“ staune ich.
„Die Welt darf nicht so bleiben!“ protestiere ich: „Die Armen können nicht immer ärmer und die Reichen nicht immer reicher werden!“
„Für die Veränderung ist es leider zu spät!“ sagt der Schwabe.
„Zu spät?“
Er sei seit zwanzig Jahren „global unterwegs“, er wisse, wie „die Bosse und Drahtzieher“ tickten:
„Keiner gibt etwas ab ohne Widerstand“ sagt er.
Ich nicke. Leider hat er Recht.
„Jede Veränderung bedeutet Krieg und Vertreibung!“ Sein besorgter Blick wandert durch die Sultan-Bude, die nach Knoblauch, Lamm und Frust riecht.
Ich schweige. Dem „Agenten vom Schwabenland“ muss ich heute Abend beim „Sultan“ zum dritten Mal Recht geben.
Vor einem Vierteljahrhundert habe ich mein Ex-Land und Ex-Leben im Krieg verloren. Seitdem kommt die Welt nicht zur Ruhe. Seit dem gab es den 11. September, Afghanistan, Irak, Israel, Libanon, Arabischer Frühling, Syrien… IS…
Die Weltretter
In dieser Nacht wälze ich mich auf der harten Matratze hin und her, die scharfe Sultan-Soße klettert bis zur Kehle, meine Augen wach wie die von Eulen kreisen über die kargen Wände meines neuen Zuhauses. Bevor der Clown aus dem Hof mit seiner dicken Träne auf Zehenspitzen in mein Zimmer reinkriecht, sehe ich weiß.
Auf Ski jage ich die bosnischen Berge herunter. Mit Tito und Vucko. In einer ungeheuren Geschwindigkeit fahren sie an mir vorbei. Der Schwabe und der Sultan folgen meinen Helden. Mit Kalaschnikows auf dem Rücken. Ganz hinten sehe ich auf wackeligen Beinen in Hochwasser-Hosen die bärtigen Jungs. Es sei ein Wettbewerb, um die Welt zu retten! höre ich die Donner-Stimme des großen Herrn vom Himmel über mir. Ich erschrecke, will los fahren, sehe wie meine Ski sich verknoten. Ich falle hart auf dem Boden und lande in einer weißen Wolke.
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