Von gelebter Nachbarschaft

Zu Gast in der Kulturregion Hellweg. Gefühlt ein Gast. Oder Fremder. Oder Eindringling. Oder Beobachter. Oder Besucher. Oder Beschreiber. Oder. Der Blick auf Fremdes spiegelt die eigene Fremde. Blick auf Unbekanntes macht das eigens Bekannte unbekannt.
Mein Zugang zur Region, zum Thema, sind Menschen, die Nachbarschaft neu organisieren. Eine Suche im Fass ohne Boden. Zahllose Einleitungen. In Gesprächen erfahre ich große Offenheit. In diesen Momenten bin ich dankbarer Gast.

Eine Seniorin, ehemalige Förderschulrektorin, initiiert ein Mehrgenerationenwohnen. Elf Wohneinheiten unter einem Dach. Junge Familien helfen Senior*innen, profitieren von Erfahrungen der Mittvierziger, deren Kinder gerade ausgezogen sind. Und umgekehrt, in allen denkbaren Konstellationen. Unter dem Dach des Hauses ist der Lebensmittelpunkt, hier wird Dorf simuliert. Oder Großfamilie. Man lebt gemeinsam. Miteinander und füreinander.

Der Rektor einer Hauptschule. Sein Engagement, seine Offenheit haben der Schule neues Profil verschafft. Vor der Schließung bewahrt. Ein Resultat: Schüler*innen, die das Bergmannslied lernen. Schüler*innen, die zuhause feststellen, dass auch in ihrem Wohnzimmer Partikel dieser Vergangenheit noch auf dem Sofa sitzen, in den Regalen stehen. Das Bergmannslied ist noch bekannt, öffnet verschlossene Stollen der Erinnerung, treibt Tränen in die Augen. Ein anderes Resultat: Schüler*innen, die einen Geschichtspfad bauen. Geschichte erfahrbar machen, Geschichte lebendig halten. Verpflichtung nicht nur Ämtern und Schüler*innen gegenüber, sondern auch dem Ort, der Region. Der Nachbarschaft. Lokaler Tradition und Geschichte, alten Werten.

Weniger Gemeinschaft hingegen im Zentrum. Haben Zentrum und Großstadt Fluktuation gemeinsam, Anonymität? ‚Verwässert‘ das Zentrum? Das Zentrum einer Stadt war einmal die Kirche, der Marktplatz.
Ein Mehrgenerationenhaus im Zentrum Hamms. Es versucht sich darin, Zentrum im Zentrum zu sein. Anlaufstelle für alle. Babytreff, Frühlingsfest, Stricktreff, Tanzstunde. Taschengeldbörse, Smartphonekurs. Angebote für neue Beziehungen. Angebote für Raum. Sich und auch Unbekanntem zu begegnen. Nachbarschaft braucht Begegnung braucht Raum. Ein Gut, das immer knapper wird. Hier wird es angeboten.

Direkt neben der Zentralen Unterbringungseinrichtung, voll von wartenden Menschen, mit langer Reise hinter, langer Reise vor sich, ein erstmal unauffälliges Haus. Im Schatten der Sommerhitze sitzen Senior*innen. Ein wöchentlicher Kaffeetreff. Im ersten Stock ein großer Gemeinschaftsraum. Die Küche wie aus dem Katalog, nur größer. Eine Tafel für vierzig, fünfzig Menschen, blitzsauber. Ein ganz normales Seniorenheim. Jede Bewohnerin, jeder Bewohner mit eigener Wohnung. Sie haben viel Leben hinter sich. In diesem Haus finden sie neue Gemeinschaften und verknüpfen ihre vielen Leben.

Noch nicht ganz viel Leben, aber eine lange Reise hinter sich haben sieben junge Männer. Nach Deutschland gekommen in den vergangenen zwei Jahren, geflohen. Vor Krieg, zum Beispiel, vor Verfolgung und anderem. Geflohene. Minderjährig und alleine, viele Landesgrenzen überquert. Oder das Mittelmeer. Ein Jugendhilfeträger bringt sieben minderjährige, unbegleitete Geflüchtete in einem Seniorenheim unter. Doch kein ganz normales Seniorenheim. Zwei Generationen und viele Kulturen treffen im Kleinen aufeinander.
Ich denke an mögliche Konflikte. An Missverständnisse, an Vorurteile, an Befremden. Differenzen in Alter, in Sozialisierung, in kulturellem Hintergrund. Sicher ist auch das ein Teil der Wahrheit, doch ich erlebe vor allem: Gemeinschaft. Empathie. Solidarität. Heranwachsende, die von Senior*innen bei der Hand genommen werden. Im Gegenzug: Senior*innen, denen die Tasche getragen oder der Einkauf erledigt wird. Im Kühlschrank Kartoffelsalat, den die Seniorin aus dem Nachbarzimmer den Heranwachsenden für den Hunger am späten Abend zubereitet hat. ‚Nicht, dass da einer hungrig schlafen gehen muss.‘

Die Eltern der sieben leben anderswo, weit weg. Manche der sieben sprechen regelmäßig mit der Heimat. Manche überhaupt nicht. Eine kommunikative, eine emotionale Stille. Die Senior*innen sind neue Großeltern. Und Mitbewohner*innen. Sozialpädagog*innen in mobiler Betreuung erfüllen andere, noch diversere Rollen. Manchmal auch solche einer Familie. Dem Sprichwort, es brauche ein Dorf, um ein Kind zu erziehen, wird in diesem Haus auf neue Weise Rechnung getragen.

Die Frage nach Heimat liegt wieder auf dem Tisch. Hart, kantig, schwer, abstrakt, ungreifbar. Heute unbekannt, morgen Nachbar, das ist möglich. Heute Nachbar, morgen Freund. Oder Familie. Oder Feind. Das ist auch möglich. Menschen, die sich als Ur-Westfalen betiteln. Oder echte Deutsche. Überzeugte Europäer. Global citizens. Nicht allzu relevant in der realen Begegnung.

Mehr von Matthias Jochmann

9:49 Uhr, Dortmund Zeche Zollern

Das rote Ziegelmauerwerk setzt sich glänzend ab vom Grau des Tages, das Zechentor ist nicht zum Passieren da. Unter dem linken Bogen steht gedrängt: eine Gruppe von Kindern. Etwa sieben Mädchen und Jungen und eine Frau können sich keinen Platz mehr verschaffen. Ihnen bleibt der Regen. Die meisten Kinder reichen der Frau bis zum Unterbauch, sie tragen Funktionsjacken und Rucksäcke. Dick und gerade fällt das Wasser, es platscht auf Köpfe und Gestein, die uneben asphaltierte Zufahrtsstraße ist pfützenvoll.

Manche stehen stumm, andere reden unverständlich, der eine beugt sich über den anderen, zwei Mädchen beobachten einen Wurm. Es wird gewartet. Ein Moment der Stille, Regengeräusche, Pfützenbeobachtung – dann ist die Frau deutlich zu hören: „Bevor das hier gleich losgeht, esst ihr am besten jetzt eure Brote.“ Die Kinder werden unruhig. Sie hieven sich die Rucksäcke von den Körpern, sagen: „Hast du was zu essen dabei?“ – „Ich hab Nutella!“ – „Aber ich hab doch gar keinen Hunger.“ Die Frau schaut in die Runde: „Drinnen könnt ihr nachher nicht essen. Also esst jetzt.“ Auch sie hat nun ein belegtes Brot in der Hand. Wie auf Kommando beginnen alle gleichzeitig zu kauen. Wieder Stille, Regengeräusche, Pfützenbeobachtung. Die Intensität des Regens nimmt zu. Niemand bewegt sich. Da öffnet sich unter dem rechten Bogen eine Tür. „Ah, erstmal buttern. Richtig so“, ist eine Stimme aus dem Inneren zu hören. Die Frau und die Kinder haben es plötzlich eilig, fast passen sie nicht alle durch den Eingang. 10:00 Uhr



>Zeche Zollern<
Rechts gingen die Bergleute rein, links kamen die Toten raus. ©mhu
Der Eingangsbereich: Rechts gingen die Bergleute rein, links kamen die Toten raus. Heute ist rechts der Museumseingang und links der -ausgang, und auch der Museumsshop. ©mhu
Nicht zu verwechseln mit der Zeche Zollverein“ steht im Wikipedia-Eintrag über die im Dortmunder Stadtteil Bövinghausen angelegte Zeche Zollern. Dabei wird das seit den 1960er Jahren stillgelegte Bergwerk als eine „Ikone der Industriekultur“ gehandelt.
Der vordere Bereich der Tagesanlage gleicht einer dreiflügeligen Schlossanlage und weist Einflüsse des Historismus, des Backsteinexpressionismus und auch des Jugendstil auf. Der „Familienpütt“ ist in Aufbau und Aussage ein Paradebeispiel für den historischen Stellenwert des Bergbaus in der Region. In der Lohnhalle und im Verwaltungsgebäude kann man staunend nachfühlen, wie sich Revier-Stolz und -Identität bilden konnten.

>Eine eigene Sprache<

Die Bergmannssprache ist eine eigene. Begriffe aus dem Bergbau haben sich bis heute erhalten. Etwa der Ausdruck buttern:

„Im Kohlenbergbau entstandene Benennung der Ruhepause zur Nahrungsaufnahme in der Mitte der Schicht. […]  Die Nahrungsmittel wurden zum Schutz vor gefräßigen Mäusen und Ratten in einer flachen Blechdose aufbewahrt – wahrscheinlich leitete sich von von ihrer Ähnlichkeit mit einer ‚Butterdose‘ der Begriff ‚buttern‘ ab. Die Dose bestand, wie auch die große Getränkeflasche (1-2 Liter), zur Vermeidung von Funkenschlag aus Aluminium. Die Flasche wurde mit einem nassen Strumpf umhüllt in den Wetterzug gehängt – durch die entstehende Verdunstungskälte wurden die Getränke kühl gehalten.“

Quelle: Bergmännische Fachausdrücke. miner-sailor.de, Stand: aktualisiert am 21.07.17.


Zeche Zollern – Grubenweg 5 – 44388 Dortmund
Geöffnet: Dienstag–Sonntag sowie an Feiertagen 10–18 Uhr, letzter Einlass 17:30 Uhr. Montags geschlossen (außer an Feiertagen).
Weitere Infos zu Veranstaltungen und Sonderausstellungen gibt es auf der Homepage des Museums.

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Von Pflichten und Prioritäten

Gut zwei Wochen im Hellweg. Ich glaube, Temperament und Geist dieser Region ansatzweise erahnen zu können. Menschen, denen ich bisher begegne, sind vor allem eins: Heimatverbunden. So höre ich, zum Beispiel: Hamm mag für Außenstehende kein Traum sein. Für gebürtige Hammer aber gibt es keine bessere Stadt auf dieser Welt.
Ich frage mich, ob diese Heimatverbundenheit ein Alleinstellungsmerkmal der Region ist. Oder aber: Beißen sich die Konzepte von Heimatverbundenheit und Großstadt? Sind urbane Zentren zu sehr einer Fluktuation ausgesetzt? Sind Interessen und Möglichkeit zu divers, um sie nachbarschaftlich zu konzentrieren? Nur von Berliner*innen kenne ich eine solche Verbundenheit. Kaum wagen sie sich aus ihrer Stadt heraus. An den Wannsee vielleicht. Oder die Ostsee.

In einem Gespräch höre ich die entscheidende Gegenfrage: Was ist Heimat für dich? Ich denke an wichtige Orte meiner Kindheit, an abwechslungsreiche Sommer, an familiär-besinnliche Weihnachten, an wichtige Tage und Ereignisse der vergangenen 30 Jahre. An Menschen, die nicht mehr leben. Ich frage mich, warum ich erst an einen See in Bayern denke, und nicht an das Haus im Rheinland, in dem ich aufgewachsen bin. Ich denke auch an Orte, die mir zur Heimat wurden. Durch Freunde. Durch prägende Zeiten. Deutsch spricht man dort kaum. Zweite und dritte und xte Heimaten. Home is where your heart is.

Im Hellweg wird diese Frage wohl oft schneller beantwortet. Vermute ich. Hier ist man geboren, aufgewachsen, hier kennt man sich. Hier gehört man hin. Zum Schützenverein. Zur Feuerwehr. Zum Heimatverein. Zum Knappenverein. Home is where you were born.

In einer wunderschönen Landschaft. Mit Kanälen und Halden. Durchbrochen von Kraft- und Bergwerken, von Windrädern und Industrieanlagen. Eine natürlich-mechanische Romanze.

Ausblick Kissinger Höhe, Hamm-Herringen – ©mj

Ich lerne, welche Relevanz Nachbarschaft hier hat. Prioritäten sind traditionell klar verteilt: Im katholischen Teil der Region: 1. Kirche, 2. Hof, 3. Nachbarschaft. Im protestantischen Teil: 1. Nachbarschaft, 2. Hof, 3. Verwandschaft.
Prioritäten und Pflichten sind gleichgesetzt. Christenpflicht, Menschenpflicht, Nachbarspflicht. Wenn mir das Salz ausgeht, frage ich den Nachbar um Hilfe. Wenn der Nachbar Geburtstag hat, kann der Sohn nicht heiraten. Sind Menschen neu in der Nachbarschaft, müssen sie sich integrieren. Und sich beweisen. Solidarität, Gemeinschaft, Integration.

Sogar im Supermarkt, eine große Kette, kennt man sich. Senioren essen gemeinsam zu Mittag. Wahlweise Frikadellen oder Wurst mit Kartoffelsalat. Beim Ärger über die Vorkommnisse in Hamburg ist man sich einig. ‚Das ist nicht unser Deutschland.‘ Heißt auch: Das ist nicht mehr Heimat, das sind nicht mehr meine Nachbarn. Nachbarschaft als Einbahnstraße.
In Regensburg wurden junge Menschen jahrelang missbraucht. In einem Nachbarland wird die Gewaltenteilung abgeschafft. Ein einjähriger Ausnahmezustand legitimiert Willkür am Mittelmeer. Ein Friedensnobelpreisträger stirbt, Anteilnahme wird zensiert. Einbahnstraßen. Nachbarschaft wird zerstört. Und Heimat. Unter anderem.

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Gewebe einer Kulturlandschaft

Ort: Bauerschaft Schmedehausen, jetzt aber wirklich | Datum: So, 09.07.2017 | Wetter: sonnig, 24°C

Hohlweg, das klingt nach Mutproben bei Neumond, dem Ruf eines Uhus und sich im Schutz der Nacht anschleichenden Räubern. Hinter dieser Wallhecke oder jenem Erdwall könnten sie gelegen haben. Gleich neben dem Sandweg, leicht erhöht, verborgen hinter Brombeerranken oder üppigen Maisstangen. Lauernd auf die Händler, die mit ihren Packtieren auf dem Weg in die Niederlande an der Eselsfüchte Halt gemacht haben. Oder auf die Wallfahrer, die entlang der Hofkreuze durch die Wald-und Felderlandschaft gen Telgte zogen. Und noch heute ziehen. Eine Kulturlandschaft, die, so Hubert, an anderen Stellen des Münsterlandes aufgrund von Flurbereinigung verschwunden ist.

Flurbereinigung, die: „Zusammenlegung und Neueinteilung von zersplittertem landwirtschaftlichem Grundbesitz.“ Sagt Duden. Auf meiner Karte heißt das: gelbliche Linien, wie mit dem Lineal gezogen. Ein Setzkasten aus weißen und hellgrünen ordentlich-rechteckigen Feldern. Das gibt es hier nicht. Ich bin in der Bauerschaft Schmedehausen bei Greven, „Wo vorbei an alten Höfen / Sich die Glane schlängelt hin“. Oder die schmalen Landstraßen. Hubert, hier in der Gegend aufgewachsen, hat mich vorgewarnt: Selbst mit Navi finden hier Viele nicht mehr heraus, geschweige denn hinein.

Hier gibt es sie noch, kleinparzellige landwirtschaftliche Flächen, gerahmt von Wällen und Waldstücken. Und Geschichte(n). Hubert Brockötter zeigt mir beides. Während unserer Tour über Wirtschafts- und Forstwege füllt sich meine Karte sowohl mit Eindrücken als auch mit Erzählungen. Ich überschreibe die zweidimensionale Karte der Region auf meinen Knien. Blasse Linien werden farbig. Vernetzungen von einem Ort zum anderen tun sich auf.

Spuren- und Fährtenlesen mal anders.

Die Wallhecken und Erdwälle markierten früher die Besitzverhältnisse. Bis hier her ist es mein Stück Land, da drüben kannst du walten. Hubert erzählt, dass in seiner Kindheit dann die Bundeswehr hier Manöver geübt hätte. Und die Kinder von den umliegenden Höfen natürlich alle hin und gucken. Heimlich. Die Dorfjugend traf sich bei den Pümpelbänken. Holzbänke, mitten in der Schonung aufgebaut. An einer Bank befand sich eine Kiste mit einem kleinen Büchlein, zum Unterschreiben, Nachrichten hinterlassen. Wie das Zettelchen-Schreiben in der Schule. Oder die Messenger-App. Es gibt sie wohl noch, aber sie werden nicht mehr aufgestellt.

Der Gertrudensee – „Angeln, Baden und Lagern für Unbefugte verboten!“ – gehört dem ASV-Greven 1933 e. V. Was heute ein See ist, war früher Lehmgrube. Mit einer Lorenbahn wurde der Lehm damals in Richtung Kanal transportiert. Da in der Nähe wurden dann die Ziegel gebrannt. Viele der umliegenden Höfe sind aus dem typisch gelben Backstein gebaut. Heute liegt der Lehm unter der grünspiegelnden Wasserfläche, in zehn Metern Tiefe. Munkelt man. Genau kann man es schließlich nicht wissen.

Wir haben heute die Bauernschaft Schmedehausen, Bockholt und die Haselheide durchquert. Sind sogar an der Grenze zum Kreis Warendorf gewesen. Sagt meine Karte. Und in natura? Da ist die Grenze nur sichtbar, wenn der eine Kreis den Grünstreifen an der Landstraße ein paar Tage später mäht als der andere. Wir fahren an einem Stück Staatswald entlang. Auch hier suche ich vergeblich einen schwarz-rot-goldenen Schlagbaum, einen Zaun oder ein offizielles Siegel. An den liegengelassenen Baumstämmen erkenne ich stattdessen den Übergang von Holz, Rinde und Blättern zu Humus, spinnenvernetztes Gewebe und schwarz-schillernde Bewegung.


Hubert Brockötter ist, wie sein Vater, Zimmermann mit Meisterbrief. Im Nebenerwerb ist er Landwirt. Schon sein Großvater bewirtschaftete den Hof in der Bauerschaft Schmedehausen, allerdings noch an anderem Standort. Den Fremdenführer gibt er nur in Ausnahmefällen. So beispielsweise, um auf die ihm gut bekannte Kulturlandschaft aufmerksam zu machen. Der Bau von mehreren Windenergieanlagen hätte viele der Wege und Orte, die wir heute besucht haben, verschwinden lassen. Mit den Münsterland-Safaris kann man diese Orte geführt besuchen. Oder einfach auf eigene Faust – zu Fuß oder mit dem Rad.

Mehr von Claudia Ehlert

15:23 Uhr, Lünen Horstmarer See*

Vor dem Kiosk am Horstmarer See stehen mehrere Menschen. Zwei junge Frauen tragen je einen violettfarbenen Flipflop, die eine am rechten, die andere am linken Fuß. Sie haben ihren je anderen, flipfloplosen Fuß auf den beflipflopten gestellt. Gleichmütig schwanken sie zwischen freiem Stand und Kioskwand. Ein Mädchen springt barfüßig vor der Eiskarte auf und ab und ruft: „Papa heiß, Papa heiß!“ Papa zahlt in weißen Socken und weißen Turnschuhen mit einem 5 Euro-Schein das Cornetto-Eis für die Kleine und nimmt der Kioskmitarbeiterin eine Schale Pommes Schranke ab.

„Ich wollte mal fragen, wie das hier mit den Toiletten ist“, eine Frau drängt sich an den Wartenden vorbei und gibt dabei eine leere Flasche Cola ab, Pfandrückgabe 20 Cent. Die Kioskmitarbeiterin schnauft, sagt: „Da muss ich Ihnen aufschließen.“ Sie verlässt den Kiosk an der linken Seite, kommt nach vorne, geht mit der Frau an der Frontseite des Gebäudes entlang und bleibt vor einer unscheinbaren, holzvertäfelten Tür stehen, an der ein schmales Messingschild mit dem Piktogramm einer Frau angebracht ist. Die Mitarbeiterin schließt auf und sagt zu der Frau gewandt: „Aber nachher die Tür wieder zu ziehen.“ Dann kehrt sie in ihren Kiosk zurück. Vor der Toilettentür bildet sich augenblicklich eine eigene Warteschlange. Auf einem Schild neben der Toilettentür steht „Toilettenbenutzung 30 Cent“. Auf einem anderen im Inneren: „Die Toilette ist keine Umkleidekabine“. Rechts neben dem Waschbecken ein Hinweis über dem Papierspender: „Bitte kein Papier in die Kloschüssel, die Toilette verstopft sonst.“ Es gibt nur ein Klo, niemand zahlt 30 Cent.

Der Horstmarer See ist an eine Parkanlage im Seepark Lünen angegliedert, das ist von einem Schild abzulesen, auf dem auch die Park-Verordnung geschrieben steht. An den Innenseiten des Sees sind geriffelte Betonwände zu erkennen, im Wasser bilden Bodengewächse eine natürliche Nichtschwimmer-Grenze. Mehrmals ist Kreischen zu hören, „Iiih!“ und „Algen!“, dann wird geräuschvoll planschend zurückgeschwommen. Bis zur wenige Schwimmminuten entfernten Insel im See schaffen es nur Menschen in aufblasbaren Booten und ältere Frauen mit funktionskurzen Haaren. Stockenten ziehen eng an den Schwimmenden vorbei, das ultraviolette Spektrum des Gefieders ist eindeutig auszumachen. Kanadagänse gibt es auch, sie halten sich in Ufernähe auf.

Der See liegt still, die Anlage gefällt sich in ihrer Symmetrie. Fahrradausflügler fahren an den Liegenden vorbei, mehrere in gleicher Entfernung zueinander angebrachte Schilder mit Hunde-Piktogrammen am Weges- und Liegerand sind mit einem roten X versehen. Dazwischen der Hinweis: „Das Baden am See erfolgt auf eigene Gefahr“.

Die schattigen Plätze unter den wenigen, jungen Bäumen sind schon lange belegt. Zwischen zwei Büschen findet sich ein u-förmiges Muster aus weißen Rosenblütenblättern, davor hockt ein sehr junges Paar. „Schatzi, du sollst nicht ziehen, du sollst stramm halten“, sagt sie, während sie eine Decke zusammenrollt, die er auf den Boden drückt. „Schatzi, stramm!“ Schatzi guckt starr auf seine Hände. Ein kleiner, dicht befellter Hund läuft durch das Bild. Vom DRK-Kindergarten her nähern sich erste Großfamilien mit Grillutensilien, Essenstüten, Klappstühlen und Getränkeflaschen. Es riecht süßlich. / 17:01 Uhr



Ein Ausflug in die Kulturregion Hellweg:
>Seepark Lünen<
Klein, aber fein. ©mhu
Der Horstmarer See im Seepark Lünen: klein, aber fein und auf diesem Foto vollkommen überzeichnet. ©mhu
*Wenige Kilometer von Dortmund entfernt, erstreckt sich der 63 Hektar große Seepark in Lünen, der – aus Sicht des Ruhrgebiets – das grüne Tor zur Kulturregion Hellweg ist. Ein Ausflug lohnt sich immer, denn  das ehemalige Gelände der Zeche Preußen wurde 1996 für die Landesgartenschau umgestaltet und renaturiert – und ist beliebtes Naherholungsgebiet.
Der vordere Teil des Horstmarer Sees ist als Badesee ausgegeben. Die Preußenhalde gibt es noch. Man kann sie über einen ausgeschilderten Rundweg erreichen und besteigen. Im Horstmarer Loch, das heute auch als natürliches Amphitheater für Veranstaltungen genutzt wird, kann man sich in Höhenunterschieden messen. Kunst gibt es und eine direkte Anbindung an das Schloss Schwansbell sowie die Innenstadt von Lünen, was die Lüner rege nutzen. Auch gehört der Seepark zur Route Industriekultur und dem Emscher Landschaftspark.

Mehr von Melanie Huber

Lost in Navigation

Ort: Bauerschaft Schmedehausen, glaube ich | Datum: So, 09.07.2017 | Wetter: sonnig, 24°C

Blasse krumme Linien ziehen sich durch beige, hellgrüne und dunkelgrüne, unförmige Flecken. Berkenheide, Boltenmoor, Bockholter Berge. Mein Auto-Rad- und Wanderatlas Münsterland verzeichnet die Strecke hier farblos als „Sonstige Wege (nur bedingt befahrbar)“. Es ist Sonntagnachmittag. Schon auf dem Schiffahrter Damm wird der Verkehr weniger. Als ich ihn verlasse, verlasse ich auch mir bekanntes Terrain. Die folgenden Straßen sind zwar asphaltiert, aber gerade noch so bullibreit.

Vor jeder Kurve mit unübersichtlichem Baumbestand schalte ich runter in den dritten Gang. Daran erkennt man den Fremden hier. Irritierte Blicke von vorne. Sie schwenken von Bulli auf Kennzeichen, Fahrerin, wieder Kennzeichen. Vorbei. Ich habe das Gefühl, Eindringling zu sein. Ich höre Saloon-Türen zuschlagen, Stiefeltritte verklingen und Cowboys in den Staub der Straße spucken. Die Kühe zu meiner Rechten scheinen allerdings eher desinteressiert.

Zwei Radfahrer biegen um die Ecke und kommen mir selbstbewusst im Sattel sitzend entgegen. Nebeneinander nehmen sie die gesamte Breite der Straße ein. Ich schalte herunter in den zweiten Gang, bremse. Die beiden tragen Sonnenbrillen und Funktionskleidung. Zudem Fahrradtaschen. Revolver oder Stern am Revers kann ich nicht erkennen. Sie verzieht die Mundpartie und raunt ihm etwas zu. Nun fahren sie doch hintereinander an mir vorbei. Im Rückspiegel sehe ich die beiden ohne großes Treten beschleunigen.

Easy Biker…

Die Straße, der ich nun folge, hat nicht einmal mehr einen Namen. Die einzigen Verkehrsschilder hier sind gut faustgroß, quadratisch und weisen Rad-, Reit- und Wanderwege aus: die Friedensroute, den Jakobsweg, einen integrativen Reitweg. Detlev Buck hat sich mal zu der vielzitierten Aussage hinreißen lassen, Road Movies müssten in Deutschland immer am nächsten Verkehrsschild enden. Man kann sich gar nicht mehr verlieren – im positiven Sinne. Hier kann man es scheinbar doch, wenn auch anders.

Hinter der nächsten Maisfeldbiege blockiert ein Pkw das Fortfahren. Ihn überragt im Hintergrund ein großer Anhänger. Zur Linken sattgrüne Stängel, zur Rechten goldgelbe Stoppeln. Ein Mähdrescher zieht seine Bahnen. Gerste, wie ich später erfahre. Das Korn braucht noch ein paar Tage. Ich halte, steige aus. Der Herr hinterm Steuer des Pkw steigt ebenfalls aus. Die Sonne brennt von oben. Showdown. Ich höre das Tumbleweed auf dem Asphalt rascheln. „PRIVATWEG.“ Das Schild muss ich übersehen haben. Und mein Navigationssystem ignoriert es.

Mein Navi ist Kommunist, stelle ich fest.

Ich entschuldige mich, erkläre, dass ich verabredet bin. Gleich hier um die Ecke. Keine fünf Minuten mehr – sagt das Navi. Eine Tour durch die Bockholter Berge. Schweigen. Er runzelt die Stirn. Der Lüfter im Bulli schaltet sich mit einem letzten Brummen ab. Ich höre den Solar-Wackel-Flamingo auf dem Armaturenbrett: Klack – Klack – Klack. Dann winkt der Mann mich durch. Der Bulli und ich holpern über ein Stück Stoppelfeld. Dann folgen wir wieder dem Asphalt. Ein Waldstück und ein Stapel Stämme. Die mechanische Stimme lotst mich weiter, als wäre nichts gewesen.

Mehr von Claudia Ehlert