Vamos a la playa

Vamos a la Playa

Da vorne, da in dem Wald habe ich meine Kindheit verbracht. Ich habe alle mittelgroßen morschen Baumstämme aufgehoben und umgedreht auf der Suche nach Ameisen. Einmal habe ich eine gegessen. Sie rannte auf meiner Zunge herum bis ich sie verschluckte. Als ich abends im Bett lag, konnte ich nur noch an diese Ameise denken. Wie sie jetzt durch meinen Körper krabbelt. Wenn ich heute nicht einschlafen kann glaube ich manchmal, sie lebt immernoch dort und krabbelt durch meinen Körper, obwohl ich es besser weiß.

Ich habe den Bach gestaut der durch den Wald verläuft. Ich. Ich habe den mächtigen Bach gestaut, mit meinen eigenen Händen, mit meinen eigenen Füßen, mit Steinen und mit Baumrinde für die kleinen Ritzen zwischen den Steinen. Mit allem was zu finden war, haben wir einen Staudamm gebaut. Meine Kinder und Kindeskinder haben später den Wald besetzt und in den Bäumen gewohnt. Als die Bagger kamen, konnten sie nichts ausrichten.

Ich habe den Stachelbeerstrauch auf der Wiese neben der großen Straße da vorne gefunden. Ich habe ihn als Geheimnis bewahrt und einmal die Woche besucht, bis mir ein Freund lieb genug war, das Geheimnis und die Stachelbeeren mit ihm zu teilen.

Ich habe auf dem Weg zu Schule immer getrödelt. Ich habe den ganzen Weg geschafft, ohne die Ritzen zwischen den Gehwegsplatten zu berühren. Auf den Heimweg von der Schule habe ich meine Hand im Gehen an den Häuserwänden entlang streifen lassen. Die Fingerkuppen waren danach schwarz, obwohl die Häuser auf dem Weg alle weiß oder gelb gestrichen waren. Meine Mutter sagte zu mir, ich sähe aus wie ein Verbrecherin, die man überführt hat, so könne ich, dürfte ich nicht mitessen. Ich schrubbte und schrubbte meine Hände, aber es ging nie wieder ab.

Ich war die, die über die Mauer da geklettert ist um den Ball zu holen. Ich habe mich an Dornensträuchern gepiekst. Ich habe mich an Brennesseln verbrannt, aus Versehen, aus Notwendigkeit und aus Mut. Ich habe ein Fahrrad geklaut und ich wurde erwischt. Ich habe einen Stein nach Jemandem geworfen und ihn getroffen und es hat mir fürchterlich leid getan.

In unseren Klamotten sind wir im Sommer in den Brunnen gestiegen bis uns zu kalt wurde. Auf dem warmen Asphalt haben wir uns trocknen lassen bis ein Auto kam. Dann standen wir auf und ließen das Auto durch und wenn es durchgefahren war, dann legten wir uns wieder hin, wenn wir trocken waren gingen wir nach Hause.

Meine Eltern schickten meine Brüder am Wochenende morgens zur Bäckerei um Brötchen zu holen. Am Abend davor legten sie dafür etwas Geld auf dem Telefontisch, damit sie länger schlafen konnten.  Wir saßen dann immer zusammen im Garten, da auf der Terrasse. An einem Morgen war ich als erstes wach. Ich nahm das Geld und ging zum Bäcker, obwohl ich noch viel zu klein war. Der Laden hatte noch zu. Also ging ich wieder zurück und legte mich in mein Bett. Niemand hatte etwas bemerkt. Aber ich vergaß die leere Straßen nicht.

Ich habe da hinten auf dem Ascheplatz ein Fußballturnier gewonnen im Elfmeterschießen. Und danach ein Fahrrad in der Tombola. Die ganze Mannschaft ist jubelnd mit dem Pokal um den ganzen Platz gelaufen als wäre es die Weltmeisterschaft gewesen. Und ich bin mit dem Fahrrad hinterher. Da vorne standen die Flutscheinwerfer. Und da war der Ballcontainer. Ungefähr.

An einem Sommer als ich dreizehn war, ging ich jeden Tag raus um in dem hohen Gras zu spazieren. Jeden Tag. Ohne zu wissen was ich dort, oder irgendwo auf der Welt wollte oder sollte. Ich konnte an jedem Tag die Spuren sehen, die ich am Tag zuvor hinterlassen hatte. Als die Schule wieder anfing, kam ich nicht mehr. Und danach auch nicht.

In der Kneipe haben wir uns später besoffen. Die Wirtin kannte meine Eltern, aber sie hat ihnen nie etwas gesagt. Es war besser für sie Umsatz zu machen und besser für uns, wenn keiner von uns noch mit dem Roller fuhr, sondern zu Fuß nach Hause ging. Nicht selten krachte auch mal einer gegen einen Baum.

In der Kirche ging mein Opa zur Kommunion, meine Mutter ging dort auch zur Kommunion. Mein Vater ging in der Kirche vom Nachbarsdorf zur Kommunion und meine Mutter hat ihn dort geheiratet, aber mich hat man auch in diese hier geschickt. Gefirmt hat man mich da auch.

Später saßen wir im Urlaub jeden Tag mit einem Sechserpack Wasserflaschen am Strand, weil viele über das Meer kamen, um sich vor dem neuen Krieg und der Hitze zu retten. Damals fing das gerade erst an. Aber es wurden mehr und mehr und so viele Wasserflaschen konnte man gar nicht besorgen.

Auf der betonierten Treppe neben der Schule habe ich gesessen und geraucht. Zum ersten Mal. Und dann immer wieder. Es war der heimlichste Ort hier. Dort habe ich später geküsst, gekifft. Einmal habe ich dort auch geweint. Ich habe nicht geweint als man die Bodenplatten rausriss, und die Schule gleich mit, das war mir egal. Aber ich würde mich gerne nochmal dort hinsetzen, auch um eine zu rauchen. Das war der Ort der kleinen Freiheit.

Ich habe meinen Kopf durch den Zaun gesteckt wenn Besuch kam. So wie unser Hund. Er kannte nur den Blick durch den Zaun, und den Gang durch das Dorf. Wenn ich hier stehe, kommt es mir vor als steckte mein Kopf auch immer noch in diesem Zaun fest.

Ich habe alle Pflaumen eingesammelt im Garten von der anderen Familie. Ich habe jeden Wurm aus den Pflaumen herausgepult und in den roten Eimer geworfen und die ohne Wurm in einen grünen. Ich habe Zucker über den Pflaumenkuchen gestreut im Herbst, denn ohne ging es nicht. Da vorne hing die frische Wäsche, ich habe sie tausend mal von meinem Zimmer aus trocknen sehen. Und gelacht, wenn es regnete und sie hektisch abgehängt wurde. Und noch mehr gelacht, wenn man sie vergaß.

Ich habe das Motorengeräusch gehört, den Benzinduft geatmet und dem Reifengummi zugesehen als es wie Speck auf dem Teer von der Kartbahn brannte. Ich habe gesehen wie der Asphalt ausfranste und bröckelig wurde, als würde er vertrocknen wenn eine Weile niemand darauf fährt.

Der Apfelbaum. Der Apfelkuchen. Der Pflaumenbaum. Der Pflaumenkuchen. Das Auto in der Garage. Die Schaukel, die quietschte. Man hörte, wenn noch ein anderes Kind im Garten war, meistens aber nur den Wind. Der Fahrradständer schleift über den Boden an einem Sommerabend. Ein Propellerflugzeug stört die die Stille, die Vögel haben den Ort übernommen. Der Grill. Der Geruch. Der Nachbar flammt das Unkraut nicht mehr vom Gehsteig. Kommunion in der Kirche. Dasselbe Foto seit 3 Generationen: Mama, Papa, Kind, Kerze. Ein Haus das ich nie erben wollte. Der Horizont klebte mir hier am Auge.

Ich habe diesen Ort verlassen, bin durch die Welt gereist und niemals wiedergekehrt, auch wenn ich nun an derselben Stelle stehe.

In 80 Jahren ist das der Weg zum Strand. Warm wird es dann sein. Sehr warm. Das Meer ist dann vielleicht hier angekommen. Und die Vögel müssen im Winter nicht fort.

Davon habe ich nichts. Mir bleibt nur der Übergang. Das panische Jetzt in dem wir leben. Mir bleibt, nicht das, was war. Und das, was wird, werde ich nicht sehen. Auch mir bleibt nur diese Lücke. Ich hab das ja immer gewusst, aber ich dachte es fühlt sich anders an.

 

Mehr von Deborah Kötting

Minnesang und Flötenmelodey

Neulich hatte ich die Gelegenheit dem Sparrenburgfest beizuwohnen. Es ist schon wirklich bewundernswert mit welch stoischer Ruhe Handwerker, Händler, Bogenschützen, Schwertkämpfer, Gaukler oder gar nur passionierte Mittelalterfans es vermögen, ihre Rolle beizubehalten und bei fast 30°C in Lederkluft, Kettenhemd, Wams oder Zaubermantel zu verharren. Auch, wenn viel von solchen Märkten natürlich nur Show ist, hatte es wirklich Unterhaltungscharakter und es war ein äußerst bunter, fröhlicher und trubeliger Aufenthalt dort. Ein schöner Eindruck von einer lebendigen Sparrenburg.

Eine Mini-Sparrenburg:

 

Sparrenburgfest

 

Neben mir sitzt Merlin,
im Zauberumhang,
auf der Parkbank.

Jubel, der kleine Robert wurde gefunden!
Bei den Rittern, woanders denn sonst?!
Oh Gott sei Dank.

Kletterwände am Schloss zeichnen Gelegenheiten aus,
zu schnacken und zu fabulieren
irritieren mich manchmal auch
gut bekinderwagte Eltern;
ich würde gerne mit meinen Abenteuerfreunden,
an den Mauern klettern und jubilieren,
doch als erwachsene Person,
darf man das nicht so einfach.

Gut geölte Kinderwagenräder kurbeln sich
um mich weiter wie Zeiträder;
ich betrachte währenddessen
gerne die Wolken,
die über uns herziehen,
denn wir sind nicht gewandet in Kettenrüstung,
nicht verbandelt mit passender Kluft;
wie Atmsphärentiere
die zwischendurch reflektieren,
was getan werden muss,
so schweben sie über uns,
sehen auf uns herab,
bedenken unsere Kleinweltlichkeit.
oder das, was davon noch bleibt…

Eine Burg,
die definitiv an diesem Tag
schon viele Szenarien gesehen hat.

Ein Monument, eine Reise in eine Nebenwirklichkeit,
voller Flötenmelodey und Kunsthandwerk,
gepaart mit Saiteinklängen einer metgeträuften Lustigkeit.

Grandiose Menschen verdingen sich in Einigkeit;
eine Burg wiederzuerschaffen im Gedankengut der Menschen.

Ein paar Kinder laufen aus dem Märchenzelt,
ein Erwachsener beginnt zu denken.

Mehr von Theresa Hahl

DURST – Marlene, die Fee aus dem „City Pub“

In welcher Sprache spricht der Schmerz, wenn der Durst nach Glücksmomenten wie unerwartete Sonnenstrahlen durch die dicken Wolken durchscheint? In der Sprache der Wiege, der Vertrautheit, der Muttermilch, in der Muttersprache? Oder in der Sprache des Erlebten, des Durchgemachten, des Leides, des Aufwachens?

***

Im Juli. Nachts. 23 Uhr. Jülicher Straße in Aachen, lang und laut. „City Pub“, eine Eckkneipe. Meine Füße brennen, mein Hals auch. Ein Frischgezapftes kurz vor dem Schlafengehen – der fromme Wunsch einer Reisenden.

Durst im  City Pub

Als ich die Tür der Eckkneipe mit dem englischen Namen „City Pub“ öffne und in der Tür stehe, drehen sich alle Köpfe der am Tresen auf Barhockern kauernden Menschen in meine Richtung. Wie durchnässte Vögel auf einer Stromleiter nach dem Regen starren sie mich an. Ich fühle mich, als ob ich gerade aus einem UFO ausgestiegen wäre. Fehl am Platz.  Ich will mich umdrehen und sofort verschwinden. Doch der Alien in mir, müde, nüchtern, dickköpfig hat Durst. Ich will nur ein Bier, sonst gar nix, sagt er. Danach kann ich ja sofort gehen. Meine Füße machen Schritte. Wie von alleine gehen sie nach vorne und bleiben vor einem Hochtisch stehen, zwischen zwei glotzenden Damen. Eine dürr, blond, kurzhaarig, braungebrannt, faltiges Gesicht. Die andere klein, wuscheliges dunkles Haar, grauer Ansatz, breiter Busen. Unsere Blicke kreuzen sich. Der Alien, ich, lächle sie an. Verlegen, freundlich, entschlossen. Ihre Blicke kleben an mir.  Ob sie sehen, was sie sehen? Was sollen sie tun? Gucken? Ignorieren? Weiter trinken? Der Eindringling, ich, positioniert zwischen ihnen, bin ich ein Gespenst, eine Terroristin, das Delirium?

Ich nicke verunsichert, kurz, kaum sichtbar.

Die Kleinere mit dem wuscheligen dunklen Kopf und schweren Augenliedern kippt den Rest aus dem schmalen langen Glas hinunter, dreht den Hals am Körper wie eine Schraube, schaut mich noch mal genau an, dieses Mal bleibt ihr Blick ein Tick länger an mir haften, dehnt dann ein wenig ihren Mund zu einem verzerrten Lächeln, streckt ihre Hand aus und sagt:

„Ich bin Marlene! Und Du?“

„Slavica….Marlene… ein schöner Name:!“

„Ja, schööön, und wo kommst Du her, Sla, sla, wie wär´ Dein Name..?

„Sla-vi-ca, Sla-wi-tza… aus Köln!“ sage ich, ohne zu zögern. Nach 20 Jahren mit festem Wohnsitz in der schönsten Stadt am Rhein, traue ich mich das wieder einmal zu behaupten.

„Aus Köööööln??“ staunt Marlene.

„Ja, jaaa, aber original… wo kommst Du original her?“

Original, ursprünglich, durstig

Original, ursprünglich…oh, Gott, warum stellen Menschen immer die gleichen schweren Fragen: wo komme ich her? Eine philosophische Frage mit vielen falschen Schubladen. Meint sie den Ort, wo ich geboren und aufgewachsen bin? Das Land, in dem ich glaubte, sicher und geborgen für immer zu sein? Bevor der Himmel auf die Stirn fiel? Und ich fremd wurde? Oder die Sprache, in der ich die Grenzen zwischen mir und der Welt zu ziehen lernte? Die Zeit, die wie Sanduhr gnadenlos läuft, ob ich in meinem Leid ersticke oder ihm einen Sinn gebe, das Vertrauen schenke… Oder meint sie vielleicht den heißen steinigen Planeten, den ich gerade entdecke, um das zu werden, was ich bin.

Ich habe Durst.

„Ich, original Sarajevo! Cevapcici, Schliwowitz, Vucko, Krieg… und ja, Tito. Die Worte, die in dieser Reihenfolge aus der Balkanschublade aus mir trotzig herausmarschieren.

Marlene lacht. Ich starte eine Gegenoffensive:

„ …und Sie Marlene… Sind Sie original von hier?“

„Ja, original, Aachen. In Aachen geboren, In Aachen aufgewachsen… Sie dreht sich Richtung Tür, durch die ich gerade herein gekommen bin, spitzt ihren Zeigefinger und sagt:

„ Und in Aachen wieder zu Hause…. Direkt gegenüber wohne ich, ,…“

Ich folge ihrem Zeigefinger, als ob ich mir merken wolle, wo Marlene genau wohnt, um morgen bei ihr vorbei zu kommen. So gegen Abend, wenn die Sonne mit ihrem verräterischen Licht ihre Kraft verliert, wenn Marlene endlich aus dem Bett aufsteht, wenn der Kater aus ihrem Kopf rausspringt, wenn ich vor ihrer Tür stehe. Mit zwei Brötchen und zwei kalten, frischen Bieren.

„Es ist schön, dass Du hierher gekommen bist“ sagt Marlene und lächelt mich an:

„Und noch schöner, finde ich, dass Du hier geblieben bist…“

Ich grinse. Also doch, ich Alien!

„Warum nicht?“ will ich empört protestieren, sehe, wie ihre schweren Augenlieder mit vielen Falten umrandet zu flattern beginnen, spüre ihren aufgewachten Blick, warm, annehmend, mir zugewandt.

„Nein, Du störst nicht!“ sagt Marlene, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte… “Überhaut nicht! Ich freu mich, dass du hier bist! Wirklich! Ich mag Dich!“

Ich habe keine Ahnung, warum, aber ich mag diese Frau auch.

„Willst du ein Helles?“ fragt sie.

Vor Marlene steht wie vor Jedem im diesen dunklen, verrauchten Pub, ein Bierdeckel, mit vielen fetten horizontalen und vertikalen Linien, kräftig, wild, durchgestrichen.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:William-Adolphe_Bouguereau_(1825-1905)_-_Thirst_(1886).jpg
Durst ihrer Seele

Was für ein Leid quält sie und ihre Seele? Ob Bier und Schnaps, die sie hier seit Stunden konsumiert, sie wirklich heilen können? frage ich mich. Ihr Blick von vielem Prozent Alkohol im Blut gekennzeichnet, lädt mich ein.

„Es geht auf mich!“

Ich nicke kurz, unsicher: „O.K. Danke Marlene…“

Die Kellnerin, kräftig, rotes Gesicht, kurzes, dunkles Haar, dicke Brille, nimmt die Bestellung entgegen, zapft aus dem Hahn, das Bier fließt langsam in das Glas, schäumt bedächtig. Dann dreht sie den Knopf der Musikanlage auf, und die Boxen dröhnen. Meinen Ohren tut das weh. Die Kellnerin, noch röter im Gesicht, fängt an, sich zu bewegen, tanzt um mein Bierglas, in das sie jede 10 Sekunden nachzapft, wie ein Bär um den Bienenstock. Der Pub platzt aus allen Nähten. Im Rhythmus der 80er Jahre. Schlager, die alle in der Kneipe kennen. Außer mir.

„An so einem Tag muss man trinken!“, sagt Marlene.

Ich erfahre, dass es ihr Glückstag sei. Marlene feiert zwei große Siege: Deutschland habe eine Etappe bei der Tour der France gewonnen und Deutschland habe Chile 1:0 beim Confed Cup geschlagen!

Die dicke Kellnerin zapft jede zehn Sekunden mein Bierglas nach, und nach „exakt sieben Minuten“ stellt sie es vor mich ihn. Ich stoße mit Marlene kurz an und kippe es sofort hinunter.

Die Sprache der Gefühle

Ob sie immer vor Glück trinke, frage ich sie.

Ihre Augen füllen sich mit Tränen, sie nimmt meine Hand in die ihre und sagt:

„Ich trinke Tag und Nacht, Liebes. Seit zwei Jahren. Wegen meiner Tochter…!“

„Wegen Ihrer Tochter??“

Marlene zieht meine Hand zu ihrem Herz und erzählt mir ihr Drama. Sie erzählt es in English:

„My daughter is dead, she was 40. Brain tumor… cancer…“

Ihre Tochter sei vor zwei Jahren gestorben. Mit 40, Krebs, ein  Gehirntumor, drei Kinder habe sie hinterlassen, 7, 9 und 14. Ihre Enkelkinder brauchten sie… erfahre ich. Marlene Augen schwimmen in Tränen. Ich drücke ihre Hand, die sie seit fünf Minuten festhält und streichelt.

„Marlene, Sie können mit mir auch Deutsch reden“, höre ich mich sagen.

Marlene schaut mich irritiert an, als ob sie nicht versteht, was ich ihr gerade sage.

„Aber, aber…“  Marlene sucht nach Worten, nach deutschen Worten, ihr Blick ist trübe, abwesend, sie schweigt, ihre Augenlieder fallen herunter:

„…ah, weißt Du, warum Englisch…mein Schmerz ist in English…“ sagt sie.

Ich nicke, spüre wie auch meine Augen feucht werden.

Die Sprache Marlenes Schmerzes ist Englisch. In Deutsch feiert sie heute Nacht, die deutsche Siege, ihren Trost, die Pause.

Marlenes Tochter sei in England gestorben. In England sei sie auch geboren. Als ihr und das Kind eines windigen Engländers, ihrem „englischen Ex“. England sei seit 42 Jahren Marlenes zweites Zuhause. Ihr Leben, ein Spagat zwischen Aachen und Manchester, zwei Städten, die ihr Leben hin und her schlugen, von Feier zu Trauer, mit Bier und Schnaps nur zu ertragen.

„Alles eine Katastrophe!“ sagt Marlene, ihre Ehe, Brexit, die Krankheit ihrer Tochter, ihr Schwiegersohn, ein Idiot! Marlene sei wütend auf den Vater ihrer Enkelkinder. „Die Drecksau“ stecke ständig im Gefängnis. Drogen.

Deutsche Oma, kein Deutsch

Ohne sie, der deutschen Oma aus Aachen, lebten „die Kinder auf der Straße.“

Ob ihre Enkelkinder Deutsch sprächen, frage ich.

Marlene dreht den Kopf. „Nein!“ Ihre Tochter habe auch kein Deutsch gelernt.

Sie habe ihr nur ein paar Worte beigebracht. Sie wollte ihre Tochter fernhalten von ihrer Geschichte.  Vater „Säufer“,  Mutter „das fügsame Opfer“ und von Deutschland, das für sie lange nichts als Schmerz,  Schuld und Scham bedeutete. Ihrer Tochter wollte sie das Leid ihres Vaterland ersparen.

Sie habe sich geirrt: „Nix kann man jemandem ersparen! Das Leben ist Eisen, Schmerz und Leid! In jedem Land. In jeder Sprache!“

Ihr Ex, ein in Köln stationierter englischer Soldat, war ihre große Liebe. Als er sie schwängerte, überlegte sie nicht lange. Sie zog mit ihm nach Manchester.

Aus den Lautsprechern dröhnt „Marmor, Stein und Eisen bricht…“ das einzige Lied, das ich erkenne und alle Hälse des „City Pubs“ zu einem gemeinsamen Ton des großen Schmerzes, der Sehnsucht und Erinnerungen an lange vergangene Zeiten einigt.

Marlene, die mit Bier und Schnaps ihre Tragödien überlebt, singt mit.

Ob ich noch ein Bier mit ihr trinken wolle, fragt Marlene, als das Lied erlischt. Dicke Tränen rollen über ihre eingefallenen Wangen.

„Bitte, Sla, Sla…oh Gott, ich kann mir Dein Name nicht merken…sorry, Liebes, willst Du noch ein Helles?

Ich schweige.

„Komm, eins auf meine Tochter!… Auf meine einzige Tochter! Bitteee…“

„O.K. Noch eins geht vielleicht noch… aber Marlene, diese Runde, geht auf mich! Bitte…“

„Nix!“ sagt Marlene… ruft laut die Kellnerin und wühlt in ihrer kleinen durchgewetzten Geldbörse.

Sie,  die „happy“ Marlene vom „City Pub“, die mich, einen Alien, die Fremde in ihrer Stadt und in ihrer Eckkneipe, ohne lange zu zögern, angesprochen,  integriert und fast adoptiert hat, sei heute Nacht in ihrem Aachen die Gastgeberin. Punkt. Meine Fee.

Gut, noch ein Helles…

 


Fotos: Slavica Vlahovic
Durst ihrer Seele – Gemälde: William-Adolphe Bouguereau (1825-1905) – Thirst (Oil on canvas, 1886, private collection), © public domain

 

 

Mehr von Slavica Vlahovic

von Fremde und Fachwerk

Sommer 2017 in Westfalen, Donnerstag Vormittag. Wind, graue Wolken, vereinzelte Tropfen.

Der Weg aus dem Bahnhof in Lippstadt führt mich in. Wie könnte das genannt werden. Ein Block, ein großes Haus. Darin: Ketten von Großmärkten für Mode oder Elektronik. Und im Zentrum: Leere. Der Eingangsbereich eine große leere Halle, nur an den Seiten die Zugänge zum Konsum. Ein leeres Zentrum. Das wünsche ich mir häufiger.
Aus der Leere geht es in Aufzüge, wohin auch immer sie führen, so groß wie in Großmärkten. In Wolkenkratzern. In Schlachthöfen.

Die, wie ich finde, hellste, sauberste, größte Bahnunterführung Deutschlands führt zu Fachwerk und schnell in das, was das Zentrum Lippstadts sein muss. Rathaus, Stadtmuseum, Kirche. Vorbereitungen auf ein Rathaus-Festival, dominiert von Bierständen. Wie könnte es anders sein. Warstein nicht weit.
Weiterhin Fachwerk und ein Eindruck: Wie schön diese Stadt. Ein nächster Eindruck: Wie absurd. Fachwerkhäuser voll von Plastik, von Elektronik aus Fernost, von Unnützem. Auf einem Querbalken die Betitelung des Hauses: Event-Lounge. Davor Luftballons in unterschiedlichen Formen und Designs. Vom Wind malträtiert, ein Event für sich. Oben ein Bierkrug, darunter zwei Prinzessinen in Pink. Daneben die Deutschlandflagge. Dann das deutsche Polizeiauto. Welch ein Fünfsatz. Sommer 2017 in Westfalen. Bald sind Wahlen.

Event-Lounge Lippstadt. ©mj

Unweit des Stadtkerns der Park, wunderschön. Ich denke an Auen anderer Großstädte. An die Isar. Paddelnde Familien, alle in einem Boot, ein großes Treibenlassen. Das Ankommen steht nicht im Vordergrund.
Irgendwo im Park ein Fahrrad, das leicht schräg am Wegrand steht. Die Besitzerin lächelt, sich entschuldigend für diese Unsitte.

Der Weg führt erst durch Industrie, die Stadt bereichernd, dann durch gebauten Wohlstand. Häuser, die einander ausstechen wollen. Keine Unsitten, Ordnung, wohin das Auge reicht, muss sein. Dazwischen eine kurze Ahnung von Unordnung: Menschen, denen ich einen anderen kulturellen Herkunft unterstelle. Menschen, denen ich einen erschwerten Zugang zu Bildung und Wohlstand unterstelle: Amt für Soziales. Ausländeramt. Passiert hier Nachbarschaftshilfe? Wer ist wessen Nachbar, wer hat wen als Nachbarn? Blasse Erinnerungen an einen Menschen, der einen Spieler der DFB-Auswahl nicht als Nachbarn wünscht.

Zurück im Treiben der Stadt. Ein sich verstärkender Eindruck: Lokales und globales vermischt. Wie überall. Aber: hier fällt das nicht-lokale immer noch auf. Zwischen Fachwerk und in Fernost Produziertem ein Spalt. Ein Riss. Eine Distanz der Befremdung. Es schnappt nicht ein. So meine Wahrnehmung.

Der Espresso bei Kathrin hilft mit diesen Wahrnehmungen. Um mich herum, mal wieder? Na? Klar, Menschen, die sich kennen, die Donnerstag Vormittags gemeinsam Kaffee trinken. Braun gebrannt. Eine fluktuierende Masse. Kommt einer, gehen zwei, kommen zwei, geht keiner. Usw.
Im Urlaub? In der Mittagspause? Zurück aus Portugal. Oder Spanien, Italien, Griechenland. Zurück aus Nachbarländern.
„Petrah, du auch hiah?“ „Jah siecha Frank!“
Sprache, die vereint. Einigkeit in der Nachbarschaft. „Ja, isso!“
Aber auch Fürsorge. „Pass auff dich auff, nä“ „Ja, mach ich.“

Auf dem Nachbartisch die beliebteste Zeitung des Landes. Irgendwo wird ein Fußballer für so viel Geld gehandelt, dass Marktwirtschaften schnappatmen würden. Einfach weitermachende Autohersteller, wie auch immer. Software ist die Lösung. Soft ist weich, weich ist einfach. Wenig Widerstand. Wenig durchschaubar. Fehler macht keiner. Fehler machen sie alle. Ein leeres Zentrum.

Der Blick zurück in die Passanten. Auf dem Shirt einer jungen Frau ein mir bislang unbekannter Lösungsansatz.
Think glocal, act local.

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Wie auch immer Sie zu diesen Zeilen denken: Kommentieren Sie unten oder schreiben Sie mir direkt: hellwegschreiber [at] hellwegregion.de

Mehr von Matthias Jochmann

16:17 Uhr, Essen Grugapark

Auf der Treppe zur Orangerie sitzt eine Frau. Sie hat eine große Tasche und die hat sie zwischen den Beinen. Ihr Haar ist windgestärkt, ihre Haltung rund. Sie sitzt gegenüber einem Pfad, der zur Virchowstraße führt. Rechts davon in Richtung Congress Hotel sind Sportfelder angelegt, ganz außen wirft ein Mann sehr kleinen Kindern Fußbälle zu. Die Kinder stecken in sehr kleinen Vereinstrikots, tragen sehr kleine Fußballschuhe und kicken fleißig, ihre Beine dabei akkurat gestreckt. Aus ihren Bewegungen ergibt sich ein Gleichklang: Das Kinn kippt auf die Brust, der Bauch wird zur Kugel. Wenn Bein und Ball sich getroffen haben, jubeln sie. Auch die Frau auf der Treppe zum Grugapark hebt ihr linkes Bein. Sie schlägt auf den nackten Unterschenkel, sie flucht. Zwei Jogger, die erst konzentriert die roten Schranken des grünen Pfades vor dem Park nacheinander passieren, schauen die Frau an, dann sich, dann sind sie weg. Es folgen Fahrradfahrer, Spaziergänger, eine Frau mit Kind. Sie steuern auf den Eingang der Orangerie zu. Die Frau auf der Treppe kramt jetzt hektisch in ihrer Tasche. Sie zieht einen Haufen kleiner Zettel hervor, ruft: „Das wird euch was kosten!“ Ein Mann, der von der Virchowstraße kommend auf die Schranken zugeht, schaut von seinem Smartphone auf, die Stirn in Falten gelegt. Ihm war, als hätte er etwas gehört. 16:29 Uhr



>Auf dem Weg zum Grugapark<

Grüner Pfad Richtung Grugapark. ©mhu
Grüner Pfad Richtung Grugapark, Eingang Orangerie. ©mhu
Der Grugapark wurde 1927 als botanischer Garten angelegt und ist Tier-, Sport-, Spiel-, Konzert-, Lehr-, Natur-, Kunst- und Grillpark in einem. Das kostet natürlich etwas. Eintrittspreise, Veranstaltungshinweise und vieles mehr sind auf der Webseite des Grugaparks zu finden. Das Nahrerholungsgebiet ist zentral im Süden von Essen gelegen, der Pfad vorbei an Congress Hotel und Orangerie ist beliebte Anwohner-Jogging-Strecke. Wenn man der Virchowstraße folgt, findet man sich im Haumannhofviertel wieder. Dort gibt es Villen, prachtvolle Reihenhäuser, einen Gemeinschaftsgarten und eine Liegewiese. Zum Zeitpunkt meines Besuchs wurden auf einem Zettel an einem Baum vor dem Gemeinschaftsgarten nächtliche Ernte-Diebstähle beklagt.

Mehr von Melanie Huber

Schon wieder stehe ich ohne Dolmetscher vor den Dingen

Hier läuft alles aus, selbst die Türautomatik greift nicht mehr. Stattdessen: Piepen. „Man muss es der Tür mehrmals sagen“ , sagt einer und drückt erneut. Beim Ausstieg (letztendlich doch) riecht es nach Gras, ohne dass ich sagen könnte, welches ich meine. Ich stolpere in Natur, durchschnitten von Gleisen. Zwei rote Aufzüge setzen Komplementärkontrast. Um sie zu rufen, drücke ich auf Knöpfe mit Pfeilen. Nichts kommt, also nehme ich die Überführung. Am unteren Ende drei Poller, von denen ich nicht weiß, was sie hier sollen.

Schon wieder stehe ich ohne Dolmetscher vor den Dingen.

Deutungsversuche:

1. Die Bittner-Drillinge aus der benachbarten Wohnsiedlung fuhren auf ihrem Heimweg diese Strecke entlang. Statt abzubremsen, genossen sie die zunehmende Geschwindigkeit durch abfallende Steigung. Es kam zu mehreren Zusammenstößen, da Passanten angesichts der dreifachen Erscheinung blonder Locken in völlige Verwirrung gerieten. Die Gemeinde errichtete wenige Monate später drei Poller als Sicherheitsmaßnahme, die im Volksmund als die „heiligen drei Radkönige“ bezeichnet werden.

2. In den siebziger Jahren, als die Kunst im öffentlichen Raum an Bedeutung gewann, kaufte sich Michael Hoven sieben Säcke Zement. Er rührte sie in seiner Garage an und fuhr das Gemisch in einem Bollerwagen zur Überführung. Wie ihm die Trichterform genau gelang, blieb bis heute ungeklärt. Einige Anwohner behaupteten, Hoven habe Verkehrshütchen als Gießform verwendet.

3. Wieder greift etwas ein. Diesmal drei Finger einer Hand. Sie stoßen durch die Erdoberfläche.

Mehr von Marie-Alice Schultz