Ort: Zwillbrock | Datum: So, 16.07.2017 | Wetter: bewölkt, 18°C
Rosafarbene Zuckerwatte am Stiel, wie auf der Kirmes. Nur mitten in den See gesteckt, unweit des Schilfgürtels in der Ferne. Kunst? Skulptur Projekte, eine Stunde Fahrt von Münster entfernt? Über allem das Geschrei der Lachmöwen, wenn auch heute verhältnismäßig ruhig, so Bettina. Als wüssten sie, dass Sonntag ist. Da vorn eine Gans, da drei Kormorane, unbeweglich, mitten im Grau. Der Nieselregen setzt wieder ein und ein leichter Wind kommt auf. Da, plötzlich, es muss ein Geräusch gewesen sein. Unruhe auf dem See. Die Zuckerwatte fliegt auf.
Flamingos. Im Münsterland. Nicht im Zoo, nicht im Kino. In freier Wildbahn. Ja, genau. An der Palme links und dann Sandstrand voraus? Nicht ganz. Im Naturschutzgebiet Zwillbrocker Venn, mitten im Lachmöwensee, liegt die Flamingoinsel. Von Strandbar, Cocktails und Sonnenschirmen sind wir hier allerdings weit entfernt. Seit 1982 kommt jedes Jahr eine Flamingokolonie hierher. Um zu balzen, zu brüten und die Küken großzuziehen. Bis es, wenn die Jungen flügge sind, zum Überwintern in die Niederlande ans Rheindelta geht.
Do the Flamingo Dance: head-flagging, marching und wing-salute
Ich bin heute Morgen an der Biologischen Station Zwillbrock verabredet. Mit sieben Kindern und Elternanhang geht es ins Zwillbrocker Venn. Geführt von Bettina. Und Frieda und Fred. Frieda ist ein Chileflamingo. Fred ein europäischer Flamingo. An den beiden kuscheligen Miniaturausgaben können wir die Unterschiede der beiden Arten erkennen. An der Farbe der Beine, des Schnabels und der Augen. Sie begleiten uns auf unsere Expedition. Und finden zeitweise Unterschlupf in Bettinas Tasche, als wir selber erproben, wie die Flamingos zur Balz tanzen. Oder herausfinden, dass sie sehr viel müheloser auf einem Bein stehen können als wir. Beneidenswert.
Wir stoßen entlang des Lachmöwensees auf einen Wasserskorpion, daumennagelgroße Frösche – die Saison hat gerade begonnen – und Moorschnucken. Die Flamingos hingegen habe sich in Richtung Insel verzogen, hinter den Zaun. Der wurde zum Schutz vor Meister Reineke im seichten Wasser aufgestellt. Um die brütenden Flamingos nicht zu stören. Heute dürfen wir, in Begleitung von Bettina, die öffentlichen Wege verlassen und schlüpfen durch ein Tor auf der gegenüberliegenden Seite des Zauns. Der Trampelpfad ist schmal. Als es über einen Steg geht, wird deutlich, dass wir tatsächlich mitten im Moor unterwegs sind.
Seeblick-WG mit Familienanschluss
Neben einer kleinen Holzhütte klettern wir auf einen Hügel. Tatsächlich: Flamingos im Münsterland. Mitten im See. Die sechs Flamingoküken tarnen sich in der Gruppe der Lachmöwen auf der Insel. Ebenso grau-weiß. Überhaupt eine gute Partnerschaft, erklärt Bettina. Denn es müsse eher Flamingoeltern statt Rabeneltern heißen. Naht ein Feind, lassen sie alles stehen und liegen. Auch ihre Küken. Da sind die Lachmöwen sehr viel verteidigungslustiger. Und sie sorgen dafür, dass der ansonsten nährstoffarme See mitten in der Moorlandschaft genügend Futter für die Flamingos und alles, was da sonst so kreucht und fleucht, bereithält.
Woher die nördlichste freilebende Flamingokolonie im Zwillbrocker Venn kommt, weiß niemand genau. Vielleicht aus einem Zoo oder aus privater Haltung entwischt? Eine Vermisstmeldung gab es jedoch diesbezüglich nie, so Bettina. Chileflamingos und europäische Rosaflamingos kommen seit Jahren gemeinsam zum Balzen und Brüten her. Bis im letzten Jahr war sogar ein Kuba-Flamingo dabei. In Zukunft gibt es dann vielleicht den Zwillbrocker Venn Flamingo. Darauf dann einen Cocktail!
Von März bis August kann man mit etwas Glück einen Blick auf die Flamingokolonie im Zwillbrocker Venn erhaschen. Entweder auf dem sechs Kilometer langen Rundweg aus der Ferne, oder, mit einer der geführten Wanderungen des Bildungswerks der Biologischen Station Zwillbrock, von einem näher gelegenen Beobachtungsposten. Zum Beispiel in Begleitung von Bettina und Flamingo Frieda. Bettina Hüning ist Diplom-Landschaftsökologin und führt für das Bildungswerk der Biologischen Station Zwillbrock Klein und Groß durch das Zwillbrocker Venn.
«SKATE», nennt sich die Königsdisziplin des Duells auf dem Skateboard. Bei diesem Wettbewerb macht einer der beiden Teilnehmer einen Trick vor, der andere bekommt danach die Chance, diesen zu wiederholen. Schafft er es nicht, bekommt er einen Buchstaben. Zuerst das S, beim nächsten Scheitern das K, und so weiter, bis das Wort «Skate» ausgeschrieben ist. Insgesamt darf man sich also vier Fehler erlauben, beim fünften bekommt man noch eine zweite Chance, mit dem sechsten hat man verloren.
«Man fährt nicht gegeneinander, höchstens gegen sich selbst», sagt Sven Spierling-Meine, der Organisator des Skatecontests, welcher im Skatepark Stadtwald in Mettmann an einem Samstagnachmittag mal im Regen, mal unter Sonnenschein stattfindet.
Sven, selbst Skater seit seiner Jugend, arbeitet für das örtliche Jugendamt und genießt die Abwechslung des regulären Arbeitsalltags sichtlich.
Dieses Miteinander, welches Sven beschreibt, wird auch dem Laien sofort ersichtlich. Schafft einer den Trick nicht, wird er vom Gegner, Pardon, dem «Mit-Skater», sofort unter Applaus aufgemuntert, ein Raunen geht durch die Reihen, man freut und ärgert sich gemeinsam. Umso schöner ist es, wenn sich ein Duell zuspitzt, beide Skater hoch konzentriert sind und einander wieder und wieder übertreffen; es folgt stets frenetischer Jubel von allen Seiten.
Konzentration ist beim Skaten ein treffendes Stichwort, denn neben der körperlichen Leistungsfähigkeit, spielt sich dieser Nischensport vor allem im Kopf ab. Genauer: Im Frontallappen. Dieser Bereich des Gehirns, der grob gesagt hinter der Stirn liegt und den Säugetieren vorbehalten ist, nimmt unter anderem eine zentrale Rolle in Bereichen der Emotionsregulation, der Planung motorischer Abläufe, der Gedächtnisintegration, aber auch der Persönlichkeit und des Sozialverhaltens ein. Ferner wird diesem Hirnareal eine Wechselwirkung mit Achtsamkeit attestiert, welche unserer Entwicklung und dem Wohlbefinden dienlich, vielleicht unabdingbar ist.
In einer psychologischen Studie versuchten zwei Forscher von der Memorial Universität in Kanada (Seifert & Hedderson, 2009) eine Verbindung zwischen dem Skateboarden und der intrinsischen Motivation, sowie dem Zustand des «Flows» herzustellen. Ein jeder kennt das erfüllenden Gefühl des Flows, welches sich durch völlige Vertiefung und dem Aufgehen in einer Tätigkeit definiert. Der Studie zufolge stellte das Skaten bei den befragten und beobachteten Skatern eine Möglichkeit dar, selbst gesteckte Ziele auch unter Widrigkeiten und Rückschlägen zu verfolgen, dabei die Konzentration zu erhöhen und den Fokus der Aufmerksamkeit zu verringern. Diese Tätigkeiten führten zu intensiven Episoden der Flow-Erfahrung und böten eine emotionale Grundlage für den Erhalt von intrinsicher Motivation. Skater berichteten über das Erleben von Freiheit, Autonomie, Herausforderung und Erfolg.
Klingt das in Anbetracht unseres Alltagswahnsinns und der dazugehörigen Portion Informationsüberflutung nicht einfach nur traumhaft?
Soviel zur Wissenschaft hinter dem Board, doch woher kommt dieses Skaten überhaupt? Zu Beginn der 50er Jahre suchten findige Surfer in Kalifornien eine passende Alternative bei zu geringem Wellengang. Daraufhin packten diese ganz einfach Rollschuhrollen (roller skate wheels) unter Bretter, das sogenannte «Bordstein Surfen» war geboren und entwickelte sich bald zu einem eigenen, auf der ganzen Welt gefeierten Sport unter neuem Namen: Skateboarding.
Auch die Geschichte des Wettbewerbs «SKATE» hat seine Historie. Bevor ein jeder sich die Tricks und Kniffe im Internet anschauen konnte, war dies nicht nur ein Messen der Fähigkeiten, sondern mehr noch ein Austausch an theoretischem und praktischem Wissen. Man lernt schließlich voneinander. Heute findet man eine schier unendliche Bandbreite an sogenannten Skate-Tutorials, also Kanälen im Internet, welche eigens darauf spezialisiert sind, die Theorie des Skatens zu vermitteln. Die Theorie. Auf dem Brett stehen und «Bordstein Surfen» muss man immer noch analog und der Lernerfolg mit Freunden auf der Straße ist zum Besserwerden unerlässlich, da kann man noch so viel im unendlichen Internet surfen.
Und das ist es auch, was an diesem Samstagnachmittag am meisten imponiert. In einer Welt der Bildschirme trifft man hier auf junge, sportliche Menschen, die ein Miteinander pflegen und leben. Auch die älteren, zunächst verdutzten Zuschauer, welche sich heute zum Skateplatz verirren, merken sofort, dass diese Freude und dieses Lebensgefühl einen schönen Kontrast zu den im Mobilfunktelefon vergrabenen Köpfen ergibt.
Ganz abgesehen von den zahlreichen Blessuren und gröberen Verletzungen, die bei extremer Ausführung, dies sei nicht unerwähnt, mit dem Skaten einhergehen, ist dies ein Training für den ganzen Körper. Rutscht einmal ein T-Shirt nach oben, oder wirft man einen Blick auf jene Burschen, die ohnehin oberkörperfrei unterwegs sind, muss man sich sofort entscheiden, vor Neid zu erblassen oder anerkennend den Kopf zu schütteln. Nun gut, wahrscheinlich beides.
Und so rollt der Tag im Mettmanner Skatepark dem Abend entgegen, mit ihm junge Männer auf Brettern, die lachen, schwitzen, fallen und aufstehen, die mit sich und miteinander in Kontakt stehen und bei all dem auch noch unglaublich cool aussehen.
Glauben Sie daran, dass es nie zu spät ist, etwas Neues zu beginnen? Neal Unger ist 60 Jahre alt und bezeichnet sich selbst als einen Anfänger. Und eines steht fest. Wenn Sie mit einem Board im Skatepark Stadtwald in Mettmann auftauchen, treffen Sie auf junge Leute, die sich freuen werden die Leidenschaft für das Skateboarden mit Ihnen zu teilen.
„Was wolln die? Nen Schraubenschlüssel?!“ In einer Werkstatt am Hafen erklärt ein Mann in blauem Overall einem anderen ähnlich Aussehendem, aus welchem Grund da eine Gruppe bestehend aus zwei Frauen, zwei Männern, einer Kamera, einem Stativ, einem Mikrofon – grau und puschelig – Kopfhörern und einer Tontasche auf dem Gelände herumsteht. Der Anlass ist schnell geklärt, der Schraubenschlüssel besorgt. Worte gibt es nicht im Überfluss. Am Ziel ist die Uferkante schmal, zwei Personen passen nicht nebeneinander. Die Gruppe reiht sich auf. Dann, ein Blick nach unten: Bis das Wasser beginnt, vergehen ein paar Meter. Die Frau mit der Kamera bringt sich und die anderen nah zu sich in Position, dann sagt sie: „Kann gleich losgehen. Oh, ein Schiff! Jetzt!“
Ein Ausflugsschiff fährt vorbei. An der Seite ist der Schriftzug „Santa Monika II“ zu lesen. An Deck sind Männer zu sehen, ohne Bärte und oben ohne. An der Kamerafrau rechts vorbeibeugend, fragt einer der beiden Männer: „Ist das hier wie in Kiel?“ Von links unten ragt das Puschel-Mikrofon hinauf. Auf der anderen Uferseite schnattern die Kanadagänse, Container werden leise verräumt. „Klar“, sagt die Frau vor der Kamera zu den drei Positionierten, lacht: „Warum auch nicht?“ Es nieselt, und hätte die Frau eine Regenjacke getragen, man hätte auf den ersten Blick nicht feststellen können, in welcher Stadt sie sich gerade befindet. 11:22 Uhr
>Mit dem WDR-Team unterwegs in der Dortmunder Nordstadt<
Damit ich mich ein bisschen wie zu Hause fühle, ist das WDR-Team mit mir zum Dortmunder Hafen gefahren, der als Binnenhafen mit Anbindung an Häfen in Amsterdam, Zeebrügge oder Antwerpen seit 1895 besteht. Im alten Hafenamt weihte Kaiser Wilhelm II. 1899 das Gelände ein, deswegen gibt es da jetzt auch ein Kaiserzimmer. Heute kann man hier – wie an vielen ehemaligen Industrie-Orten auch – heiraten. Obwohl das Areal relativ unscheinbar wirkt, ist der Dortmunder Hafen mit seinen zehn Hafenbecken und einer Uferlänge von elf Kilometern größter Kanalhafen Europas. Pläne für ein urbanes Hafenquartier entlang der Speicherstraße gibt es.
Abhängen, Ausspannen, Feiern und Tanzen kann man aber bereits seit Jahren vor, auf und im Eventschiff Herr Walter. Sand, Strandkörbe und Palmen bringen an schönen Sommertagen maritimen Flair in die Industrieumgebung. Und wer Waffelessen mit Industrieschick verbinden will, der geht zu Tyde Studios.
Work in Dreharbeiten: Der adhoc-Text aus der Hafenkombüse (siehe WDR-Beitrag)
12:59 Uhr, Dortmund Kanalstraße
Die Mittagspause ist vorbei, aus dem Bauwagen gegenüber dem Imbiss „Hafenkombüse“ kommen nach und nach drei Männer. Zwei von ihnen tragen gelbe Westen, der dritte hat einen schmalen, langen Zettel in der Hand. Damit stellt er sich auf die Straße vor den Imbiss. Mit beiden Händen hält er den Zettel weit von sich, schaut von der Straße auf seinen Plan und zurück. Es folgen Handbewegungen. Sie weisen einen Arbeiter mit gelber Weste an. Der dritte besteigt die Fahrerkabine eines ebenfalls gelben Wagens, an der vorne eine Walze angebracht ist. Er fährt nach vorne, dann fährt er zurück. Die Hafenkombüse zittert kräftig. Die Gäste lachen, reden, reagieren nicht auf den Lärm. In den Stühlen steckt die Kraft der Walze. Auf dem Bürgersteig ist jetzt ein Mann zu sehen. Er trägt die Haare vorne kurz, hinten lang. An seiner Hose verläuft ein langer weißer Streifen. Sein Hund ist klein und wuschelig. Er geht an den Straßenarbeitern vorbei und verschwindet hinter dem Bauwagen. Ein Mann in Bundeswehrkleidung und Rucksack läuft ins Bild. Er hält den Kopf geduckt, redet tonlos. In der Kombüse will es nicht später werden. Im Radio wird ein Song von Michael Jackson angekündigt. / 13:14 Uhr
Ich sitze im kältesten Zug NRWs. Auch bei 28 Grad Außentemperatur habe ich extra für diese Fahrt mit dem Abellio immer einen Schal dabei. Andere Passagiere müssen auf Stofftaschen oder mitreisende Hunde zurückgreifen und ungelenk versuchen, sich diese um den Hals zu legen. Wenn Schal, Beutel und Cocker Spaniel fehlen, kann man immer noch später im Krankenhaus auf eine Halskrause wegen steifem Nacken hoffen und hat dann immerhin schon mal einen Kälteschutz für die Rückfahrt.
In der linken Hand halte ich Kafkas Brief an den Vater und scrolle mit der rechten auf meinem Handy durch Facebook – Mindy Kaling ist schwanger?! – als wir stehen bleiben. Wir stehen. Und stehen. Haben die Stadt.Land.Text-Götter mitbekommen, dass ich mich Richtung Regionsgrenze begebe und schnell die Notbremse gezogen? Dann kommt die Durchsage: Personenschaden. Polizeieinsatz. Es wird dauern.
Eigentlich wollte ich zu McDonalds im Hagener Hauptbahnhof fahren, weil ich dort gut schreiben kann. Bei McDonalds im Hagener Hauptbahnhof erhebe ich mich über den kreischenden Fast-Food-Wahnsinn und finde mich in Zen-Konzentration wieder. Zu meinen Ausflügen an diesen besonderen Ort trage ich extra lange Röcke, damit niemand sieht, dass ich schwebe. Nicht auf so eine angeberische Guck-mal-was-ich-kann-Art, in der Jesus übers Wasser lief. Nur ein bescheidenes Vier-Zentimeter-über-dem-Boden-Schweben.
Worüber ich schwebend bei McDonalds schreiben wollte: Entschleunigung und Meditation und den Spirituellen Sommer 2017. Der Spirituelle Sommer 2017 wird vom Netzwerk „Wege zum Leben. In Südwestfalen“ organisiert und bietet über drei Monate verschiedenste spirituelle Angebote inner- und außerhalb christlicher Tradition. Ich wollte über spirituelle Orte in Südwestfalen schreiben, auf die ich mich freue, und meinen eigenen Spirituellen Sommer 2017 einläuten. Ich übe mich also in einer ersten spirituellen Tugend: Geduld. Vielleicht gibt es gar keinen besseren Ort, über Entschleunigung nachzudenken, als einen stehenden Zug? In Letmathe, ein Ort, der mir bisher vor allem aufgefallen ist, weil dort der Zug von Essen nach Siegen geteilt wird, bietet sich eine prima Gelegenheit, inne zu halten und zu lernen, mal genauer hinzusehen.
Auf den ersten Blick denke ich, „Toll, nen Bahngleis, ne Lagerhalle und ein paar Bäume. Was soll ich da jetzt sehen?“. Dann entdecke ich Drahtrollen, entdecke einen Felsen und stelle fest: Das, was ich sehe, entspricht genau dem, wie ich Südwestfalen in den letzten Wochen erlebt habe. Atemberaubend grüne, felsige Landschaft, ganz viel Industrie mit Fokus auf Draht. Oder ist das, was ich durchs Fenster sehe, Stahl? Eisen? (Randnotiz: Ich muss dringend ins Drahtmuseum nach Altena.) Ich starre 20 Minuten auf meine kleine Welt, begrenzt durchs Zugfenster, atme ein und aus, bin einfach da.
Beinahe gelingt es mir sogar, den selbstgerechten Typ auszublenden, der mittlerweile seinen dritten Anruf tätigt, um sich zu beschweren. Aber nur beinahe. Ich habe – nicht ganz spirituell – ein eigenes Fach in meinem inneren Apothekerschrank der kleinen Gemeinheiten für Menschen wie ihn reserviert. Leute, die bei „Personenschaden“ im Zug laut aufstöhnen und in einen Monolog über den Egoismus des Selbstmörders ausbrechen. Heute wird die unsympathischste Performance von diesem Mann abgeliefert, der sich in bester Klischee-Bösewicht-Manier durch sein Donald Trump, Jr.-Gelhaar fährt und sich gerade in Rage geredet hat, „man kann sich ja auch einfach zu Hause umbringen“, als sein Kopf beginnt zu qualmen. Erst kaum sichtbar, dann so sehr, dass Eiszapfen von der Zugdecke klirrend zu Boden fallen. „Ich hab noch gesagt, ich fahre mit dem Auto. Hätte ich mal! Wegen dem müssen wir jetzt hier bestimmt noch ne Stunde oder so stehen. Scheiße!“ Er merkt nicht, dass er mittlerweile in Flammen steht. Er brennt kurz aber heftig und als nur noch Staub übrig ist, sind wir froh, ihn los zu sein. Ein bisschen wärmer ist es auch.
Dann, das Undenkbare: Bewegung. Nicht unsere eigene, aber die eines benachbarten Güterzuges. Bomben rollen an uns vorbei, riesige Bonbons auf einem Fließband. Werden sie in wenigen Wochen in einem fernen Land über eine Stadt fallen, wie von einem stark erkälteten Drachen ausgehustet?
„Das nenn ich mal Turbinen, ne?“, sagt ein Mann irgendwo hinter mir. Achso, Turbinen, auch gut. Ich bin immer so damit beschäftigt, Leute auszublenden, um in Zügen lesen und schreiben zu können, dass ich ganz verlernt habe, mal zuzuhören. Hinter mir ein lauter werdendes Gespräch einer Clique, die zum einem Festival unterwegs ist. Es geht um Feminismus, eine Frau sagt:
„Was die Gesellschaft uns als Fortschritt verkaufen will, ist doch, wenn Polinnen und Rumäninnen für uns putzen und Babysitten, während wir zum Yoga gehen. Als ob wir nicht merken würden, dass solche Arbeit dann immer noch ausschließlich von Frauen gemacht wird.“ Interessant, so habe ich nie drüber nachgedacht.
Ich nehme mir vor, in den nächsten Wochen mehr zuzuhören, mehr nach außen zu schauen, nicht alle Antworten in mir selbst finden zu wollen. Ich starre eine weitere halbe Stunde bewegungslos aus dem Fenster, lasse Letmathe auf mich wirken, höre zu. Ich bin völlig durchgefroren. Ich bin völlig frei. Die Fahrt geht weiter. Fast bin ich ein bisschen enttäuscht.
Zwei Männer, zwei Gegenpole einer Stadt. Die Stadt, eine ungerechte Mutter, hat dem einem alles gegeben, dem anderen alles genommen. So schien es mir erstmals.
Ich bin neu in Aachen. Mein erster Spaziergang geht durch die engen Gassen der Stadt, die mich, eine Fremde, ausgesucht hat, sie und ihre Region auf meine schräge Weise zu sehen und zu vermessen.
Mein Blick hüpft hin und her. An einer Fassade hängt ein in tiefen Gedanken versunkener Steinkopf. Ich nicke ihm zu und jage weiter die gepflasterte Straße entlang in Richtung des imposanten Gotteshauses im Herzen der Stadt. Die grauen Töne am Horizont überdecken die Sonnenstrahlen und spucken die ersten Regentropfen aus, die mitten auf meiner Stirn landen. Ich suche Schutz und lasse mich von einem geräumigen Feinkostladen mit großen Fensterscheiben und kleinen Leckereien in der Glasvitrine, kleinen Teigversprechungen in vier Variationen, verführen.
Monsieur Belgier mitten in Aachen
Als ich die Tür öffne, springt eine Mittdreißigerin mit kurzem Haarschnitt und zerknittertem dunklem Leinenanzug vom Stuhl auf. Ihr Blick wandert unruhig über die Straße, die gerade mit dicken Regentropfen gegossen wird. Sie zieht ihren kleinen Regenschirm aus der Tasche und küsst den Ladenchef zum Abschied auf die Wange. Er, gepflegter Vollbart und seidiges Haar in einen Dutt feingebunden, hält seinen Kopf so gerade, als ob zehn Kameras auf ihn gerichtet wären. Mit feinen, fast mädchenhaften Gesichtszügen und der dünnen blasen Haut wirkt er auf mich wie eine Trend-Wachsfigur aus dem Museum von Madam Tussaud. Als sein weibliches Pendant, die Kurzhaarige, die Tür hinter sich schließt, widmet er sich sofort mir. Selbstverständlich darf ich mich an den selben Stehtisch hinsetzten, den einzigen im Laden, an dem er kurz davor mit meiner Vorgängerin am Fenster saß.
Meine Augen kleben an der Glasvitrine mit den kleinen französischen Teilchen.
„Petit fours“… sagt er mit der Betonung auf der letzten Silbe.
„Meine eigenen Variationen“ fügt er stolz hinzu. Meine Zunge kreist um meine Lippen. Ich bestelle das Stück mit frischem Ziegenkäse und dem Feigenmus. Beide Geschmäcker in einem so kleinen Stück zu kosten, lässt mich vor Vorfreude auf dem Stuhl hin und her rutschen. Dazu eine rosa Limonade aus Belgien, Holunder mit kaum Zucker: Göttlich.
Der Chef, die graziöse Eleganz in Person, serviert mir das Teilchen auf einem alten, gemusterten Goldrandteller. Ich fühle mich wie eine Auserwählte.
Seine Mini- Ziegen-Feige-Leckerei, die vor mir auf dem dünnen vergoldeten Teller wie ein Bild liegt, traue ich mich kaum anzubeißen. Mit der Zier-Gabel seziere ich das Stückchen und lasse kleine Partikel in meinem Mund langsam zergehen. Das Teilchen wirkt wie Homöopathie. Meine Zunge spürt keine Ziege oder Feige mehr, sondern nur noch seinen Stolz, seinen Stil, seine Muße. Hier könnte ich genüsslich abnehmen, schießt es mir durch den Kopf. Nix verschlingen, sondern kleine Bisse verschmelzen lassen, sie gaanz laaaange kauen …
Daniels Traum
Er steht vor mir wie ein Held auf der Bühne, sein Kopf leicht seitlich gebeugt, studiert meine Reaktion. Die ist üppig. Ich schnalze und schmelze vor Genuss.
Mein Blick wandert über die Wände und studiere den Rest seiner in den Vitrinen aus feinen Holz bis zur hohen Decke gestapelten Produkte. An zwei Wänden in groben Holzvitrinen wie Museums-Exponate präsentiert: sechs Käsesorten, Wurst, Wein, Marmeladen… fein drapiert mit handgeschriebenen Etiketten und mit stolzen Preisen geschmückt.
Hip und bieder: Feinkostladen, Café, Traumfabrik
Er scheint mit sich und der Welt völlig stimmig zu sein. Alles sitzt an ihm. Sein Geschäft, eine Bühne, die Mischung aus hip und bieder, Feinkostladen, Café, Traumfabrik, sein Werk. Alles seine Ideen und natürlich seine Handarbeit. Meine Neugier für die „One-Man-Show“ des um die dreißig Jahre jungen Unternehmers geht langsam in Bewunderung über. Das spürt er und wird gesprächig.
Seine Bärlauch-Butter und alle Pestos mache er immer selber, sagt er… Nach alten, guten Rezepten seiner belgischen Großmutter, die heute noch ein kleines Restaurant besitzt. Seinen Geheimort in einem schattigen Busch im nahliegenden Stadtwald, in dem „sein Bärlauch“ wächst, hat leider ein Obdachloser entdeckt. Der reisse sogar die Wurzeln raus, beschwert er sich empört.
Ich schmunzle. Auch meine Kölner Nachbarin kämpft jedes Frühjahr gegen eine Schar Koreaner, die sich an „ihrem“ Bärlauch vergehen. Und ich nehme den Türken aus der Kölner Südstadt sehr übel, dass sie mir jedes Jahr in „meinem“ Nippeser Tälchen Walnüsse vor der Nase wegpflücken.
Er lacht. Seine Zähne glänzen wie Perlen.
Alle seine Produkte, ob Bärlauch-Butter, Orangen-oder Feigenmarmelade stehen unter einem Label.
„Daniel heißt es“, sagt er, „wie ich“.
Er verkaufe sie jetzt auch im Internet. Weltweit. Geschäftlich sei er analog und digital, lokal und global unterwegs. Er sei eine Art „Taste -Botschafter seiner Heimat“. Belgien in Deutschland.
„Ach was?“ Ich bin irritiert. Mein erster Aachener Feinkostgastronom ein Belgier? Sein Deutsch klingt einwandfrei. Akzentfrei. Er lächelt. Seit 10 Jahren lebe er in Deutschland und habe seinen Akzent inzwischen abtrainiert. Vielleicht weil er von Anfang an in der Gastronomie gearbeitet habe und überwiegend Deutsch spräche. Nun sei er seit einem Jahr sein eigener Chef.
Ich bin beeindruckt. Und ein bisschen neidisch. Er imponiert mir und stellt mich in Frage. ‚Was wäre mein Traum’, frage ich mich. Warum bin ich meinem Balkan-Akzent nach fast einen Vierteljahrhundert so hartnäckig treu geblieben? Um mit meinem ewig rollenden „rrrr“ und dem im Gurgel steckend gebliebenen „llll“ einheimische Ohren zu kratzen? Ich liebe gutes Essen, komme auch aus einer Gastronomen-Familie, aber beim Kochen werden meine beiden Hände links. Obwohl ich die besten Köche der Welt immer um mich hatte. Vielleicht deswegen?
Und während sich sein Ziegen-Feigen-Teilchen in meinen Magen bequem verteilen, erkämpft die Sonne wieder den Horizont. Bevor ich mich von dem stolzen Belgier verabschiede, der in Aachen, der deutschen Grenzstadt, seinen Traum lebt, kaufe ich noch eine sündhaftere teure Orangenmarmelade in einem Miniglas verpackt. Mein deutscher Mann wird sich freuen.
Toms Alptraum
Ich finde mich in den fremden Städten schnell zurecht. Leichter Gang, große Augen, verträumt.. „Leichte Beute!“, würde meine Mutter sagen. Und tatsächlich. Kaum habe ich mich fünf Schritte von einem belgischen Traum entfernt, sprich mich ein anderer Mann an. Sein Name ist Tom und er sucht eine Übernachtungsmöglichkeit.
Seine Augen sind ruhig und fragend, sein Bart dicht und so ordentlich gekämmt als ob er an seinem mageren Gesicht und an den dünnen Hals geklebt wäre. Er spricht leise, ich spitze meine Ohren, ich verstehe nur ein Wort:
«Herberge».
Ein altmodisches deutsches Wort, denke ich mir, das nach Armut und Knappheit riecht. Oder doch ein Retrowort aus der Hipster-Welt so wie „Heimathirsch“, „Hornochse“, „Fette Kuh“, „Dicker Hund?“, Namen der neuen Läden, die um mich herum wie die Pilze wachsen.
„Herberge“ – das Wort hat mit dem Partikel «her» und dem Nomen «Berg» wenig zu tun, oder vielleicht doch?
Den Mann hat gute Manieren, einen feinen Sprachduktus und coole Klamotten. Sein Karo-Hemd, seine braune Hose, alles sauber, gebügelt und solide. Er ist mager, seine dunklen Augen blicken unruhig.
‚Ein Hipster-Veganer vielleicht?’ schießt es mir durch den Kopf. So wie mein Neffe aus Berlin, der gerade sein Sieben-Tage-Hunger -Experiment beendet hat, um seinen Willen zu stärken und die Kontrolle über seinen 60 kg- Körper noch ein Stück mehr zu beherrschen.
„Ich bin hier neu. Mein erster Tag in Aachen!“ höre ich mich sagen. Es klingt wie die Offenbarung einer Kontaktsuchenden und als Entschuldigung zugleich.
„Ich weiß wirklich nicht, wo Sie hier eine ‚Her…berge’ finden könnten. Aber es gibt bestimmt ein günstiges Hostel in der Nähe oder eine andere Übernachtungsmöglichkeit… Warten Sie, der Mann hier im Laden kann Ihnen bestimmt besser helfen …“
Träume & Albträume einer Stadt
Ich drehe mich um und sehe hinter der großen Fensterscheibe Daniel, den Belgier, der in seinem Traumladen meinen leeren Teller gerade aufräumt.
„Neeein!“ wehrt der Mann mit dem dichten Bart meinem offensichtlichen voreiligen Ratschlag ab.
„Sie haben mich, glaube ich, nicht verstanden…Wo eine Herberge hier zu finden ist, weiß ich zu gut, leider fehlt mir das Geld… und wenn Sie so nett wären.. mich mit ein paar Groschen zu unterstützen…wäre ich Ihnen sehr dankbar.“ Die Worte sprach der dürre Mann noch leiser, beugte sich dabei wie verschämt ein Tick weiter nach unten.
Ich bin überrascht.
‚Hat ihm vielleicht jemand das Geld gestohlen?’ fragte ich mich. Die Aufmerksamkeit nimmt nämlich ab, wenn man mit einem leeren Magen kämpfen muss. Als ich einmal fasten wollte, hörte ich unterwegs plötzlich meine Großmutter, die nach saftigen Fleisch schrie, und habe meine Handtasche verloren. Die Stadtdiebe warten auf Naive, Abwesende, Zerstreute und die, die sich selbst bestrafen.
„Also Sie brauchen Geld? Wie sind Sie in diese Situation gekommen, wenn ich fragen darf?“
Fremde Menschen um Hilfe zu bitten, stelle mir nicht so einfach vor. Meine direkten Fragen, ohne lange um den heißen Brei zu kreisen, überraschen mich gar nicht mehr. Ein Neuling in der Stadt hat die Narrenfreiheit, darf wie ein Kind die Welt mit seinem «Warum» nerven. Tom und ich müssen uns nichts vorspielen. Als Aliens, die nicht dazugehören, dürfen wir die ganze Wahrheit schneller erfahren.
„Wollen Sie das wirklich wissen?“ fragt er.
„Und wie! Vor allem, weil ich Sie überhaupt nicht mit einem Bettler in Verbindung bringen kann.“
„Ich bin kein Bettler“ wehrt sich mein Gegenüber. „Ich spreche nur manchmal Menschen an, wenn ich glaube, sie würden mir vielleicht helfen wollen…“
„…ein Liebesdrama!“ sagt er nach einer kleine Pause, kratzt sich am Kopf, sein Blick schwebt über die Dächer. Er sei zwischen Weihnachten und Silvester vor seiner Ehefrau geflüchtet. Zuerst fand er Zuflucht bei seinen Freunden, nun wohnt er seit vier Monaten im Wald. In einem Zelt, am Rande der Stadt. Er versuche verzweifelt, wieder „die Kurve zu kriegen“. Einmal in der Woche dürfe er sich bei einem Priester duschen und die Klamotten waschen. Und wenn es ihm ganz schlecht gehe, sammele er Geld für die Herberge.
„Was ist passiert? Warum sind Sie von ihrer Frau geflüchtet? Und ausgerechnet mitten im Winter?“ frage ich wie eine Psychologin. Ich spüre wie mich seine Geschichte packt.
„Warum wollen Sie das alles wissen?“ fragt Tom.
„Weil das jedem passieren kann. Und weil ich das verstehen will. Und ich sie sympathisch finde.“ sage ich.
„O.K.“ sagt Tom.
Tom und seine Frau seien 17 Jahren eine Paar gewesen. Beide in Duisburg geboren und aufgewachsen. Vor drei Jahren hätten sie geheiratet und nach Aachen gezogen. Sie fanden in Aachen eine Wohnung und Jobs; er als Dachdecker, sie als Verkäuferin. Die Armut in Ruhgebiet dachten sie, für immer hinter sich gelassen zu haben. Doch der Winter hieß Kurzarbeit, er blieb zu Hause. Den letzten Herbst verlor auch sie ihren Job. Das Geld wurde knapp. Sie begannen sich zu zanken. Und das sei immer schlimmer geworden. Und es habe nicht aufgehört…
„Es gab keine andere Chance…als Fliehen…und das ist gut so.“
„Haben Sie Familie? Eltern? Geschwister, jemanden, der Ihnen helfen kann?“ frage ich weiter und überlege, was würde ich tun, wenn ich als Frau, als ausländische Frau dazu, in so einer Situation kommen würde. Ich würde meine Geschwister anrufen. Auch wenn wir uns seit Jahren zanken und immer seltener am gleichen Strick zeihen, würde ich sie um Hilfe bieten.
Seine Eltern seien beide tot und sein Bruder lebe weit weg, in Berlin. Sozialhilfeempfänger. Und auch wenn er in Aachen leben würde und einen guten Job hätte, würde er ihn nicht belästigen.
„Wir waren uns nie so nah…“ sagte er trocken.
„Ich verstehe…“
„Warum nicht zum Onkel Hartz gehen“, frage ich?
„Ich meine Hartz Vier? Deutschland ist Gott sei dank ein Sozialstaat. Keiner muss auf der Straße leben. Auch nicht im Wald leben. In einem Zelt. Wie auch immer?“
„Nein. Das will ich nicht. Das wollte ich nie. Aber es ist dazu gekommen“ sagt er geduldig. Seine Augen sehen sehr müde aus. Die Bürokratie in Deutschland sei hart:
„Harz IV ist für die Robusten, wissen Sie.“ meint er. Er gehöre leider nicht dazu. Er habe versucht eine Wohnung in Aachen zu bekommen, aber das scheint schwieriger zu sein als „einen Sechser im Lotto zu treffen“. Die Wohnungen, die Harz IV bereit wäre zu zahlen, gibt es in Aachen gar nicht mehr. Und ohne einen Job sei es praktisch unmöglich. Um einen Job wiederum zu bekommen, brauche er zuerst eine Adresse. Die er jetzt nicht habe, erklärt er mir und schaut mich so an, als ob er Mitleid mit mir hätte.
Langsam verstehe ich Tom und ich beginne mich, zu schämen, ihn mit so vielen Fragen belästigt zu haben. Doch eine Frage habe ich noch:
„Sie haben etwas erlebt, wovor jeder Angst hat: die Obdachlosigkeit. Sie sind, wissen Sie, uns allen jetzt ein Stück im Voraus. Jetzt wissen Sie, wie die Menschen wirklich sind. Wie die Menschen ticken, wenn sie ihre Masken abziehen, wenn Sie vor ihnen stehen, und sie nach Geld fragen?“
„Die Menschen sind mit oder ohne Masken gleich. Sie denken in Schubladen und urteilen schnell und moralisch. Manche beschimpfen mich, ich sei drogenabhängig, ein Alkoholiker, Lügner oder was auch immer. Manche bespucken oder verjagen mich und wollen mich treten und schlagen. Es gibt aber auch manche, die bereit sind mich mit ein paar Groschen zu unterstützen.“
„Die können dann aber die Schlimmsten sein. Die wollen alles ganz genau wissen… können gar nicht aufhören mit ihrer Fragerei… eine Qual …“
Meine Fragen sind um. Mein Blick klebt am Boden. Ich fühle mich ertappt und bin konfrontiert mit der Arroganz des Betrachtens.
‚Was mache ich hier, eigentlich?_ frage ich mich . ‚Wer bin ich überhaupt, um so unverblümt die Menschen auszufragen, in ihrem Schmerz, Traum oder Albtraum einzudringen? Sie beobachten, ihnen diese direkten Fragen zu stellen? Darf man das?’
Tom, der seinen Albtraum mit erhobenem Kopf wie Prometheus lebt, der den Götter Licht geklaut haben, um den Menschen Wahrheit zu schenken, hatte mich angesprochen, weil er eine Bleibe suchte und mich auf den Boden geholt. Für mich, in meiner Entdeckereuphorie war er ein Studienobjekt wie der Feinkost- Schönling aus dem Hipster Laden mitten in der Stadt.
Die Schreiberin hat sie beide unter die Lupe genommen wie Touristen die einheimische Aborigines im Busch.
Bevor ich meinen Blick von Boden erhebe, überlege noch kurz, was ich Tom geben soll… Einen Schein, 5er oder auch 10er hatte er bei mir längst verdient, ich befürchte aber, er könnte es als meine Überheblichkeit oder als mein Schuldgefühl verstehen. Ich bin eitel, und dazu die Enkelin meines Opas. Als der Schlitzohr sein eigenes Restaurant in damaligen Jugoslawien betrieb, stellte er uns Enkelkinder oft vor einer schweren Wahl, entweder das kleine Schein oder so viel Minimünzen aus einer dünnen Vase mit einer Hand zu greifen.. Ich will dem armen Tom in Ruhe lassen, wühle kurz in meinen Geldbeutel, drehe ihn um, bis die ganzen Münzen auf seine Hand fallen..
„Mach et juuut!“ verstecke ich meine Unsicherheit hinter dem lustigen kölschen Gruß.
„Du auch!“ sagt Tom, wirft einen kritischen Blick auf seinen Handfläche auf der meine Münzen als Zeugen der Peinlichkeit unserer kurzen Begegnung liegen, lässt sie klingend in die Hosentaschen gleiten, hängt seinen schweren Rucksack über den dürren Rücken und biegt mit schwerem Schritt in eine enge Gasse links. Ich drehe mich um, schwitze…
„Na, Alien, wo geht die Reise jetzt hin…?“
Ich nehme die umgekehrte Richtung, marschiere auf die schöne Aachener Kathedrale zu. Von einer seitlichen Fassade glotzt mich nun ein goldener Heilige mit dem Kreuz in einer Hand und dem Feder in der anderen? Als ob er fragen würde:
Eigentlich kann ich mir ein kleines JUHU nicht verkneifen, denn ich hatte großartige Tage voller Schreiben, Basteln und Malen. Das komplette Puzzlemosaik ist schon sehr weit gediehen, aber hier erst mal eine kleine Abteilung, nämlich Bad Salzuflen. Eigentlich hatte ich extrem schöne Photographien, aber mein Handy wurde gestohlen. Naja. Neubeginn.
Bad Salzuflen
Wo Gradierwerke, wie Korallenwände in die Höhe wachsen, nur von Stützpfeilern unterhalten in der gleißenden Sonne rolatoren sich gut betuchte Menschen über Salzhof und Marktplatz.
Ab und an hätte man da gerne etwas Wirklichkeit eingebettet, doch während in den Kaffeehäusern am Kurpark auch auf Wunsch Natreen gereicht wird, anstatt Zucker, gibt es sicher eine Kurgästin, die sich einen Käsekuchen bestellt; mit sehr viel Sahne, die schmilzt, wie ein Stück Butter in der hereintropfenden Realität.
Während der Erdbeerkuchen nervös unter seiner Sahnehaube hervorguckt, mit Linksdrall vom Sonneneinfall, fallen die ersten Regentropfen.
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