08:16 Uhr, U47 Richtung Dortmund Aplerbeck

Hallo Frau Schulte, Frau Schulte! … Wir kennen uns doch! … Natürlich! Frau Schulte vom Finanzamt! … Nicht? … Wirklich nicht? … Sie kommen aus Leipzig? Das kann nicht sein! Sie sind doch Frau Schulte? … Tatsache? … Was machen Sie hier? … Fußball? Achso. … Aber warum Dortmund? … Sie sind BVB-Fan? Eine Leipzigerin? Wie geht das? … Warum sind Sie nicht für Leipzig? … Kann nicht sein. … Ich bin auch kein BVB-Fan. Ich komm aber auch nicht aus Dortmund, ich wohn hier bloß. Ich bin ja für Werder Bremen – kennen Sie Werder Bremen? … Auch. Dann waren Sie hier auch mal im Stadion? … Nicht? … Ist schwierig, Karten zu kriegen? Warum? … Kann nicht sein. … Aber das Spiel gestern – die hätten besser sein können. … Sehen Sie auch so? Ja, ja. Und der Lewandowski, also wirklich, was da abgeht. … Sehn Sie auch so? … Ja. Leipzig. Warum sind Sie nicht für Leipzig? … Ist was anderes mit dem BVB? So? … Wie kommt das? … Können Sie auch nicht sagen, ja. … Früher war Energie Cottbus mal in der ersten Liga, wussten Sie das? Aber, dass Erzgebirge Aue in der zweiten Liga ist, das versteh ich nicht. … Sie müssen hier raus? So geht das. Nach Leipzig geht’s, ne? …  Ja, tschüss dann.“ 08:19 Uhr


>DFL Supercup 2017: Borussia Dortmund – FC Bayern München, 4:5 n.E. (2:2, 1:1)<

Ein einziges Hörspiel: Dortmunder Stadtbahn. Hier leer. ©mhu
Ein einziges Hörspiel: Dortmunder Stadtbahn. Hier leer. ©mhu
Schon Tage vor dem Spiel liefen die Dortmunder wieder vermehrt mit BVB-Trikots durch die Stadt. Wann die Mannschaft trainierte, konnte man an Vollfanbekleidung und an großen, bunt verzierten Trommeln, die mit äußerster Vorsicht in den Stadtbahnen transportiert wurden, ausmachen. Obwohl die Bundesliga-Saison noch nicht wieder begonnen hat, gibt es etliche Spiele nebenher. So wie der DFL Supercup 2017. Und für BVB-Fans ist Pause anscheinend ein Fremdwort.
Fußballfankultur hautnah erleben kann man deswegen vor allem, wenn man mit Bus und Bahn unterwegs ist. Für alle gemäßigteren Gemüter gibt es das Deutsche Fußballmuseum direkt gegenüber des Dortmunder Hauptbahnhofes.

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16:17 Uhr, Essen Grugapark

Auf der Treppe zur Orangerie sitzt eine Frau. Sie hat eine große Tasche und die hat sie zwischen den Beinen. Ihr Haar ist windgestärkt, ihre Haltung rund. Sie sitzt gegenüber einem Pfad, der zur Virchowstraße führt. Rechts davon in Richtung Congress Hotel sind Sportfelder angelegt, ganz außen wirft ein Mann sehr kleinen Kindern Fußbälle zu. Die Kinder stecken in sehr kleinen Vereinstrikots, tragen sehr kleine Fußballschuhe und kicken fleißig, ihre Beine dabei akkurat gestreckt. Aus ihren Bewegungen ergibt sich ein Gleichklang: Das Kinn kippt auf die Brust, der Bauch wird zur Kugel. Wenn Bein und Ball sich getroffen haben, jubeln sie. Auch die Frau auf der Treppe zum Grugapark hebt ihr linkes Bein. Sie schlägt auf den nackten Unterschenkel, sie flucht. Zwei Jogger, die erst konzentriert die roten Schranken des grünen Pfades vor dem Park nacheinander passieren, schauen die Frau an, dann sich, dann sind sie weg. Es folgen Fahrradfahrer, Spaziergänger, eine Frau mit Kind. Sie steuern auf den Eingang der Orangerie zu. Die Frau auf der Treppe kramt jetzt hektisch in ihrer Tasche. Sie zieht einen Haufen kleiner Zettel hervor, ruft: „Das wird euch was kosten!“ Ein Mann, der von der Virchowstraße kommend auf die Schranken zugeht, schaut von seinem Smartphone auf, die Stirn in Falten gelegt. Ihm war, als hätte er etwas gehört. 16:29 Uhr



>Auf dem Weg zum Grugapark<

Grüner Pfad Richtung Grugapark. ©mhu
Grüner Pfad Richtung Grugapark, Eingang Orangerie. ©mhu
Der Grugapark wurde 1927 als botanischer Garten angelegt und ist Tier-, Sport-, Spiel-, Konzert-, Lehr-, Natur-, Kunst- und Grillpark in einem. Das kostet natürlich etwas. Eintrittspreise, Veranstaltungshinweise und vieles mehr sind auf der Webseite des Grugaparks zu finden. Das Nahrerholungsgebiet ist zentral im Süden von Essen gelegen, der Pfad vorbei an Congress Hotel und Orangerie ist beliebte Anwohner-Jogging-Strecke. Wenn man der Virchowstraße folgt, findet man sich im Haumannhofviertel wieder. Dort gibt es Villen, prachtvolle Reihenhäuser, einen Gemeinschaftsgarten und eine Liegewiese. Zum Zeitpunkt meines Besuchs wurden auf einem Zettel an einem Baum vor dem Gemeinschaftsgarten nächtliche Ernte-Diebstähle beklagt.

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17:55 Uhr, „Bang Boom Bang“

Saatkrähen picken in einem Wohngebiet vor einer angefressen wirkenden Mauer Moos aus dem Boden. Hinter der etwa zwei Meter hohen Mauer mit abschließbarem Tor stehen zwei Dutzend Männer. Ordentlich aufgereiht pinkeln sie ins wildernde Gras. Grau aufragende Pfosten in der Mitte der Brachfläche komplementieren das Bild. Die Abendsonne zeichnet den Horizont weich. Blickt man nicht zu konzentriert in die Ferne, ist die Weite ganz nah.

„Das hier ist der Sportpatz“, sagt ein Mann, der ein T-Shirt mit der Aufschrift „Bang Boom Bang“ trägt. Er hält ein laminiertes Foto nach oben, auf dem eine Tribüne und ein Fußballplatz abgebildet ist.
„Uh, klasse!“, ist aus den Männerreihen zu hören. Dazu Nicken, anerkennende Blicke über Brennesselansammlungen.
Es folgen erhobene Zeigefinger: „Da muss Til Schweiger entlang gejockelt sein.“ Und vor der Brust verschränkte Arme, kombiniert mit breitem Stand: „Ja nee, is klar.“

Dann hat man sich satt gesehen. Es gibt noch weitere Sehenswürdigkeiten. Die Saatkrähen gucken von unten, ihre grauweißen Schnäbel erzählen eine andere Geschichte. 18:06 Uhr



>Bang Boom Bang – Kultfilm im Pott<

Busfenster mit KFZ-Kennzeichen für BBB-Insider. ©mhu
Busfenster mit KFZ-Kennzeichen für BBB-Insider. ©mhu
2011 war die Bustour noch ein Gag auf einem Junggesellenabschied. Dann kam das Interesse außerhalb des Bekanntenkreises. Seitdem bieten die Veranstalter von „Bang Boom Bang – Die Tour“ in regelmäßigen Abständen Fahrten zu den original Drehorten des Kultfilms „Bang Boom Bang – Ein todsicheres Ding“ an. In Unna und Dortmund kann man so neben dem Sportplatz auch Keeks Haus, „Franky’s Video Power“, Schluckes  Fundort, den Flughafen und die Pferderennbahn besichtigen.
Die Nachfrage ist groß, die Tour beliebt und die Veranstalter routiniert. Neben selbst recherchierten Hintergrundinfos zu Regisseur und Film gibt es Bier und Unterhaltung bis in die Nacht. Bei der Tour Ende Juli gehörte auch der Besuch des Films beim Open-Air-Kino im Westfalenpark und Party im Daddy Blatzheim dazu.

Kult, Kult, Kult – warum eigentlich?

Seit 18 Jahren läuft jeden Freitag im Bochumer Kino UCI die deutsche Action-Komödie „Bang Boom Bang – Ein todsicheres Ding“ von Regisseur Peter Thorwarth. „Bang Boom Bang“ ist der erste Teil der heute so schön benannten und beworbenen Thorwarth’schen „Unna-Trilogie“, dazu gehören „Was nicht passt, wird passend gemacht“ (2002) und „Goldene Zeiten“ (2006).
Wenn man fragt, warum es heißt, dass „Bang Boom Bang“ exemplarisch für das Ruhrgebiet stehe, dann folgen Sätze wie: „Das gibt es woanders nicht“, „Das ist typisch Ruhrpott“ und in Abwandlung: „Das ist nur hier möglich“, „So stellt man sich eben das Ruhrgebiet vor“. Dass die Menschen, die ich auf der Bustour getroffen habe, eben nicht so sind, zeigt allein schon die Frage nach schulischem und akademischem Werdegang, Beruf und Familienstand. Trotzdem konnten viele jede Zeile des Films mitsprechen, verbanden erste Dates oder ihre Jugend mit dem Film. Auch waren es überwiegend Männer, die an der Tour teilnahmen. Später im Westfalenpark waren auch mehr Männer als Frauen zugegen. Manch eine Frau wurde für ihre Teilnahme gelobt. Ein „Männerfilm“ also? Und wenn ja: Dann wird unterschlagen, dass Melanie – die einzige signifikate Frauenrolle im Film, gespielt von Alexandra Neldel – die Jungs am Ende alle linkt.

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11:17 Uhr, Dortmund Hafen

„Was wolln die? Nen Schraubenschlüssel?!“ In einer Werkstatt am Hafen erklärt ein Mann in blauem Overall einem anderen ähnlich Aussehendem, aus welchem Grund da eine Gruppe bestehend aus zwei Frauen, zwei Männern, einer Kamera, einem Stativ, einem Mikrofon – grau und puschelig – Kopfhörern und einer Tontasche auf dem Gelände herumsteht. Der Anlass ist schnell geklärt, der Schraubenschlüssel besorgt. Worte gibt es nicht im Überfluss. Am Ziel ist die Uferkante schmal, zwei Personen passen nicht nebeneinander. Die Gruppe reiht sich auf. Dann, ein Blick nach unten: Bis das Wasser beginnt, vergehen ein paar Meter. Die Frau mit der Kamera bringt sich und die anderen nah zu sich in Position, dann sagt sie: „Kann gleich losgehen. Oh, ein Schiff! Jetzt!“

Ein Ausflugsschiff fährt vorbei. An der Seite ist der Schriftzug „Santa Monika II“ zu lesen. An Deck sind Männer zu sehen, ohne Bärte und oben ohne. An der Kamerafrau rechts vorbeibeugend, fragt einer der beiden Männer: „Ist das hier wie in Kiel?“ Von links unten ragt das Puschel-Mikrofon hinauf. Auf der anderen Uferseite schnattern die Kanadagänse, Container werden leise verräumt. „Klar“, sagt die Frau vor der Kamera zu den drei Positionierten, lacht: „Warum auch nicht?“ Es nieselt, und hätte die Frau eine Regenjacke getragen, man hätte auf den ersten Blick nicht feststellen können, in welcher Stadt sie sich gerade befindet. 11:22 Uhr



>Mit dem WDR-Team unterwegs in der Dortmunder Nordstadt<
Lustiges Drehpersonal: WDR-Team und Melanie. ©mhu
Lustiges Drehpersonal: Pascal, Maren, Olaf und ich. ©mhu
Damit ich mich ein bisschen wie zu Hause fühle, ist das WDR-Team mit mir zum Dortmunder Hafen gefahren, der als Binnenhafen mit Anbindung an Häfen in Amsterdam, Zeebrügge oder Antwerpen seit 1895 besteht. Im alten Hafenamt weihte Kaiser Wilhelm II. 1899 das Gelände ein, deswegen gibt es da jetzt auch ein Kaiserzimmer. Heute kann man hier – wie an vielen ehemaligen Industrie-Orten auch –  heiraten. Obwohl das Areal relativ unscheinbar wirkt, ist der Dortmunder Hafen mit seinen zehn Hafenbecken und einer Uferlänge von elf Kilometern größter Kanalhafen Europas. Pläne für ein urbanes Hafenquartier entlang der Speicherstraße gibt es.
Abhängen, Ausspannen, Feiern und Tanzen kann man aber bereits seit Jahren vor, auf und im Eventschiff Herr Walter. Sand, Strandkörbe und Palmen bringen an schönen Sommertagen maritimen Flair in die Industrieumgebung. Und wer Waffelessen mit Industrieschick verbinden will, der geht zu Tyde Studios.

Fernsehbeitrag vom 25. Juli 2017

Den WDR-Beitrag über #standlandtext gibt es hier zu sehen.


Work in Dreharbeiten: Der adhoc-Text aus der Hafenkombüse (siehe WDR-Beitrag)

12:59 Uhr, Dortmund Kanalstraße

Die Mittagspause ist vorbei, aus dem Bauwagen gegenüber dem Imbiss „Hafenkombüse“ kommen nach und nach drei Männer. Zwei von ihnen tragen gelbe Westen, der dritte hat einen schmalen, langen Zettel in der Hand. Damit stellt er sich auf die Straße vor den Imbiss. Mit beiden Händen hält er den Zettel weit von sich, schaut von der Straße auf seinen Plan und zurück. Es folgen Handbewegungen. Sie weisen einen Arbeiter mit gelber Weste an. Der dritte besteigt die Fahrerkabine eines ebenfalls gelben Wagens, an der vorne eine Walze angebracht ist. Er fährt nach vorne, dann fährt er zurück. Die Hafenkombüse zittert kräftig. Die Gäste lachen, reden, reagieren nicht auf den Lärm. In den Stühlen steckt die Kraft der Walze. Auf dem Bürgersteig ist jetzt ein Mann zu sehen. Er trägt die Haare vorne kurz, hinten lang. An seiner Hose verläuft ein langer weißer Streifen. Sein Hund ist klein und wuschelig. Er geht an den Straßenarbeitern vorbei und verschwindet hinter dem Bauwagen. Ein Mann in Bundeswehrkleidung und Rucksack läuft ins Bild. Er hält den Kopf geduckt, redet tonlos. In der Kombüse will es nicht später werden. Im Radio wird ein Song von Michael Jackson angekündigt.  / 13:14 Uhr


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Tier, das

Scheiße war mein erstes Wort. Scheiße, Hundescheiße, ist doch scheiße, scheiße, halt die Fresse!
Wahrscheinlich kannte ich vorher schon ein paar Worte, aber das war das erste, nachdem ich entschieden hatte: Ich muss diese Sprache lernen. Wie soll ich jemals irgendwas kapieren, ohne diese Sprache zu verstehen?
Scheiße war also das erste. Es war leicht abzuspeichern. Scheiße rieche ich jeden Tag, die Verknüpfung war da. Dann kam Liebling dazu und Futter und Haltsmaul und Fernsehen und Fernfahrer und McDonalds und Mamaistda und Drecksköter. Und Krankenhaus und Frauenhaus und fickdich und Baby und dann hatte ich die Basics zusammen.
Im Nachhinein hätte ich mir die Mühe sparen können. Hat alles keinen Sinn ergeben, auch nicht in Worten.
Als ich ankam, sah es eine Weile echt gut aus. Das Kind nannte mich Meinhund, auch wenn mein Name Mufasa ist. Sie gaben mir etwas zu essen und zu trinken und gingen mit mir in einen Park. Ich zeigte mich von meiner besten Seite, wedelte mit dem Schwanz, wenn sie mich ansprachen, weil Menschen so etwas freut und lief wie ein Bekloppter hinter dem Stock her, was halb Show war und halb Instinkt. Abends bekam ich eine eigene Decke im Zimmer des Jungen und als die Mutter den Raum verlassen hatte, legte er sich zu mir auf den Boden und kraulte meinen Rücken. Dann hob er mein Ohr mit seiner Hand, an der Marmelade klebte, und sagte: „dubistmeinbesterfreund“. Auch wenn ich das damals noch nicht verstand, fühlte es sich gut an.
Zwei Tage später kam der Mann nach Hause. Der Mann hatte kräftige Füße und enorme Waden. Auf die eine war ein Totenkopf gemalt, auf der anderen stand HAGEN in welliger Schrift.
Die Frau hörte auf zu sprechen. Sie wurde kleiner, sie schrumpfte. Sie hörte auf zu essen, aber so schnell wie sie das wollte, verhungern Menschen nicht. Sie sprach immer leiser, sodass sich am Ende ihrer Sätze nur noch die Lippen bewegten. Die Frau lief, als würde sie versuchen zu schweben. Der Junge wuchs ein bisschen, hielt sich aufrecht und mich fest. Ich entschied, ihm nicht mehr von der Seite zu weichen, ihm immer durch die Wohnung zu folgen.
Der Mann schlief viel und wenn er aufwachte, lief er herum und suchte nach Fehlern. Einmal fand er Staub auf einer der Stuhllehnen im Wohnzimmer, da hob er den Stuhl und schmiss ihn auf die Frau. Ein anderes Mal erwischte er den Jungen, wie er mir ein Stück Currywurst gab und schlug ihm mit der Hand ins Gesicht. Das ging drei Tage so und dann war der Mann verschwunden.
Die Frau schaute den ganzen Tag Fernsehen, was mich freute, weil ich so neue Worte lernen konnte: Mord. Staatsanwaltschaft. Cousin. Ralf. Verdacht. Messer. Wut. Gefängnis. Lebenslänglich.
Ich wäre gerne mehr vor die Tür gegangen, gab mir aber Mühe einzuhalten und nicht zu winseln, bis der Junge aus der Schule kam und mit mir raus ging. Wir liefen den ganzen Nachmittag in der Stadt herum, manchmal holte er uns Döner und auch wenn ich wusste, dass ich schrecklichen Durchfall bekommen würde, konnte ich nicht anders, als ihn zu essen. Diese Nachmittage waren perfekt. Manchmal gingen wir zur Ruhr und ich durfte schwimmen, manchmal liefen wir bis zum Buschey-Friedhof. Ich wälzte mich vor Familie Elbers, spielte, ihr prachtvolles Grab sei meine eigene steinerne Hundehütte. Wir rannten auf dem Flugplatz um die Wette und ich ließ ihn gewinnen. Der Junge redete und redete, erzählte mir von Pia, von Mathe, von Pausenbroten, mehr von Pia und von einer extra Klingel, die klar macht, dass Mathe vorbei ist. Pia versuchte ich abzuspeichern. Ich dachte, es bedeutet sowas wie Liebe.
Ich roch, dass der Mann wiederkam. Ich roch es an der Angst der Frau. Beißender Angstschweiß in der ganzen Wohnung. Sie putzte und der Junge und ich räumten auf, statt draußen zu sein. Als der Mann den Schlüssel im Schloss umdrehte, versteinerten die beiden und ich stellte mich vor den Jungen. Der Mann kam mit seinen schweren Schritten ins Wohnzimmer und setzte sich in den Sessel. „Watt steht ihr da so blöd? Mach ma Essen“, sagte er und wir gehorchten.
Abends schauten wir zusammen Fernsehen, aber es war nicht das Gleiche. Im Kinderzimmer musste ich dem Jungen versprechen, dass ich den Mann nie beißen würde, egal was er tat, weil der Mann mich sonst wegschicken würde.
Am nächsten Morgen war die Frau einkaufen und der Junge in der Schule. Ich war allein mit dem Mann und hatte Angst. Mit eingezogenem Schwanz saß ich im Zimmer des Jungen und versuchte, mich unauffällig zu verhalten. „Komm mal her. Hey Köter!“, rief er und ich schlich vorsichtig um die Ecke zum Wohnzimmer. Der Mann klopfte auf das Sofa neben ihm. War das ein Trick? Ich durfte nicht auf das Sofa, diese Regel hatte er selbst erfunden.
Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu, er klopfte weiter, aber verzog keine Miene. Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, sprang ich mit einem großen Satz aufs Sofa. Der Mann hob seine riesige Hand und ich erwartete eine Attacke, aber er legte mir die Hand in den Nacken und fing an, mich zu kraulen. „Bist ja ein Guter“, sagte er und ich konnte nicht fassen, was ich hörte. Er kraulte mich ausgiebig einige Minuten lang und gerade als ich begann, mich zu entspannen, hörten wir den Schlüssel im Schloss. Der Mann schob mich mit einer schnellen Bewegung vom Sofa, ich kam hart auf dem Boden auf. Ich drehte mich nicht um, schaute ihn nicht an. Ich wusste, dass das unser Geheimnis bleiben würde und lief zur Tür, um die Frau zu begrüßen. Sowas freute sie.
Abends hörten der Junge und ich den Mann herumschreien, hörten, wie etwas, jemand, fiel. Wir zogen uns die Decke über die Köpfe.
Nach drei Tagen war der Mann wieder weg.
Am nächsten Tag, als der Junge in der Schule war, setze die Frau sich neben mich auf meine Decke und weinte. „Warum kann er sich nicht für sein Kind zusammenreißen?“, fragte sie mich und kurz wollte ich ehrlich sein und sagen: „Weil er dich mehr hasst als er irgendetwas liebt.“ Aber ich wollte ihr nicht noch mehr weh tun.
Acht Wochen ging das so. Der Mann war vier Tage weg und drei Tage da. Vier Tage Frieden, drei Tage Terror. Es war ein Rhythmus, an den ich mich gewöhnt hatte, aber lange konnte es nicht so weitergehen.
Wenn der Mann da war, blieb ich nachts wach und passte auf den Jungen auf, auch wenn das schwer war. Dann, vor sechs Tagen, nannte der Mann mich Drecksköter und trat mir in die Rippen. Es tat höllisch weh und ich musste mich ganz auf mein Versprechen konzentrieren, um den Mann nicht anzugreifen.
Der Junge stand daneben und weinte, aber ich sah, dass er nicht traurig war, er war wütend.
Ich versuchte, schnell mehr Wörter zu lernen, versuchte mir jedes neue, das ich hörte zu merken und für immer abzuspeichern.

Jetzt weiß nur Pia, wo wir sind. Sie bringt uns Sachen von zu Hause: Klopapier, eine gebrauchte Zahnbürste, ein paar Unterhosen ihres Papas, gestern sogar eine Dose Fisch.
Ansonsten finden wir Essen in Mülltonnen. Wir schlafen in einem Busch. Der Junge hat extra meine Decke mit. Er deckt mich damit zu, aber sobald er eingeschlafen ist, lege ich die Decke über ihn und mich daneben ins Gras. Wir laufen weit, fahren sogar mit einem Bus, mein erstes Mal. Ein bisschen vermisse ich das Fernsehen und das flauschige Sofa, auf dem ich meistens heimlich und manchmal mit Erlaubnis gelegen habe.
Trotzdem: Wir sind glücklich hier draußen.

Der Junge erzählt mir                                                                              viel,
ich mag den                      Klang seiner Stimme. Aber ich habe aufgehört,
neue Worte zu lernen. Sie sind nicht Macht, nur Laute.
Keine Worte
mehr,

n ur Liebe.

Schei ße.Fell. Lieb e.St                                  o c k. Hau t.Zun ge.Liebe. Ic hdachte m
ir wür dendi e Wo rte fehlen um al
les zu                                         ver stehena ber d ie Wortegibt e s ni cht.

Ke in eW orte m ehr. N ur Lie
be.

Mehr von Lisa Kaufmann

22:13 Uhr, Dortmund Kaiserstraße

Die Ampeln stehen auf Rot am Ostenhellweg. Zu dieser Uhrzeit zeigt sich der Schwanenwall groß und leer. Auf der anderen Seite der Kreuzung wird das querformatige, über der Kaiserstraße angebrachte Schild „Gut leben und einkaufen – Kaiserviertel – Dortmund“ warm beleuchtet. Noch sind es 20 Grad Celsius, ab und an ist das Geräusch von rückenden Stühlen zu hören. Dazu: klirrendes Glas, tiefe Stimmen, sanftes Gelächter.

„Die Welt soll ein Schaufenster sein / doch ich laufe nur daran vorbei“ hallt es aus der Innenstadt. Zwei Fahrradfahrer nähern sich der nach wie vor roten Ampel am Ostenhellweg. Der eine ist erkennbar hell gekleidet – helle Shorts, helles Shirt, graues Basecap. Der andere trägt das gleiche in schwarz, in seiner Hosentasche spielt die Musik. „Alles kann man kaufen, außer Lebenszeit / Alles wiederholt sich, außer ’ne Gelegenheit.“ Beide Männer sitzen auf Mountainbikes. Mit den dicken Reifen hüpfen sie ungeduldig auf und ab. Eine Frau auf einem Hollandrad hält vor der Ampel, schaut ihr entgegen, wird vom Schein rosé-rot.

Der in schwarz gekleidete Fahrer dreht jetzt Kreise auf der Fahrbahn. Die Frau legt die Stirn in Falten, sie hat die Lenker ihres Fahrrades fest im Griff. Ihr Blick weiterhin: starr ampelgerichtet. Die beiden Männer nehmen keine Notiz von ihr. Als es grün wird, müssen sich alle drei kurz besinnen: Es geht weiter, jetzt. Sie treten in die Gänge, die Männer nehmen Fahrt auf. Unter dem Kaiserviertel-Schild sagt der Hellgekleidete so etwas, wie: „Geile Stimmung“. Der andere reagiert nicht. Seine Hose tönt: „Unterschätz nie die Kraft, die der Zufall hat / Du denkst viel zu lang, viel zu lang nach – Zug verpasst .“ Die Frau biegt an der Hohenzollernstraße rechts ab. 22:15 Uhr


>Das Kaiserviertel<
Das Kaiserviertel am Abend. ©mhu
Am Ende des Ostenhellwegs verlängert sich die Innenstadt von Dortmund um die Kaiserstraße. Cafés, Boutiquen, Altbauten und grüne Ecken: Das Kaiserviertel ist neben dem Kreuzviertel ein beliebter, innenstadtnaher Wohnort. Außerhalb der ehemaligen Wallanlage angesiegelt, ließen sich hier zu Zeiten der Industrialisierung viele Unternehmer nieder. Heute ist das Viertel Einkaufs- und Flaniermeile. Und kulinarisch soll es auch hoch hergehen.

Mehr von Melanie Huber