NEIN – in Übach-Palenberg

Eine neue Stadt ist wie eine neue Liebe. Je kleiner  desto reizvoller.  Ich liebe kleine Städte und große Herausforderungen und sage zu Übach-Palenberg ohne zu zögern:

„Ja, ich  will!“. 

Ich will, in Übach-Palenberg

 

„Ja-Sager“ leben gefährlich, behaupten viele.

Nicht nur in Deutschland.

„Nein sagen“ kann man lernen.  In  Übach –Palenberg!

***

Ich bin auf dem Weg nach Übach –Palenberg!

Auch wenn wir uns bis dahin nie begegnet sind und auch noch nie voneinander gehört haben,  ahne ich, es könnte uns doch einiges verbinden.  Auch wenn mein Schreibprogramm, das ansonsten alles besser weiß,  mit der Stadt, die  den schönen Namen Übach- Palenberg trägt,  wenig anfangen kann und sie ständig rot färbt, also  Übach-Palenberg, folge ich  dem Ruf des  dortigen  PR-Mannes,  dessen Name meinen Landsmann verrät, als er mich  in die westlichste Stadt Deutschlands mit vielen kleinen Anreizen locken will:

 

 „Ja, ich will!“

„Ja, ich will  Berti Davids treffen, die in historischen Kostümen durch Schlösser  und Mühlen zieht.“

„Ja, ich will  auf dem Golfpark ‚Loherhof’ gleich um die Ecke spielen.“

„Ich will die jungen Asiaten  treffen, die in einem Kloster für das deutsche Abi pauken.“

„Ja, ich will die Grenze zu den Niederlanden am Übergang mit dem Namen ‚Landgraaf’ betreten. Und die ‚Römerstraße Via Belgica’, die von Köln bis an den Atlantik geht, zu ‚Foß’ gehen…“

„Ja, ich will auch im Museum ‚Begas Haus’ in Heinsberg lesen…“

„Ja, ich will in dem Gästehaus des örtlichen Schwimmvereins  gerne wohnen, schwimmen, alles“.

 

Und dann: NEIN

Auf dem Weg nach Übach höre ich 27 Mal das deutsche Wort NEIN!

In allen Stimm-und Stimmungslagen: entschlossen, direkt, ruppig, kompromisslos.

Am Aachener Hauptbahnhof kome ich mit 27 Minuten Verspätung an -wegen Stürmen, den umgekippten Bäumen, Klimawandel etc – und suche  den Anschluss nach Übach-Palenberg… Ich bin in Eile, frage Passanten…

Nein, keine Zeit. Nein, sie wissen es nicht.

Nein, sie sind auch nicht von hier… Nein, natürlich nicht!

Auch mein Schreibprogram kennt Übach Palenberg nicht!

 

Das deutsche Wort „Nein!“ ist nicht gerade mein Lieblingswort, gebe ich zu,  und habe ich in  Köln fast verlernt . Der Kölner, glitschig wie ein Fisch,  lässt sich nicht mit so einem kleinem Wort mit nur vier Buchstaben weder aus der Fassung bringen noch im Netz der Festlegung fangen. Das Wort „Nein“ hat er einfach in viele kreative Variationen umgedichtet. So heißt   „Nein“ in der Dom-Stadt zum Beispiel nicht nein, sondern  „Heut’ iss’ schlescht“.

Je größer die Stadt, desto bunter sein „Nein“. Nur die kleinen Städte und Gebiete  können sich das reine Wort NEIN in seiner ursprünglichen Form noch leisten. In Übach  klang das Wort „Nein“ so echt, ehrlich, ernst wie damals im Allgäu, meiner ersten deutschen Heimat, in dem ich die ersten deutschen Worte gelernt habe, auch das Wort NEIN. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nach Übach-Palenberg,  der westlichsten Stadt Deutschlands, fahre ich mit der guten, deutschen Regio-Bahn  in der ersten Klasse. Dank des freundlichen Aachener AVV darf ich als Stipendiatin des „stadt-land-text.de“ Blogs den regionalen Komfort und die flache, grüne Landschaft, die an mir vorbei fliegt,  in vollen Zügen kostenlos genießen.

Ich schaue auf die Uhr, will keinen Ärger mit meinem Gastgeber und rufe ihn an.

„Entschuldigen Sie mich bitte, Verkehrschaos, ich komme mit Verspätung“.

„Nein…“, sagt die Stimme an der anderen Seite der Leitung: „Kein Problem!“ Er wolle mich sogar vom Bahnhof abholen…

„Oh, wie schön. Vielen Dank! Sehr nett!“

„Nein,  es sei für ihn nur einfacher, mich abzuholen, als mir  auch noch  den Weg lange und mühsam erklären zu müssen.

„Ach, so… danke trotzdem. Ja, ja, ich warte auf Sie“.

Ihn, meinen ehrlichen Gastgeber, taufe ich in meinen Herrn „B-ärger!“

 

Tanzen schon am Hbf in Übach

 

„Willkommen in Übach-Palenberg“, sage ich zu mir, als ich  alleine aus dem Zug aussteige!

Die Sonne boxt am Horizont mit  dicken Wolken; auf der Straße keine Bewegung. „Mittagschlaf“, denke ich mir, als ein stämmiger Schwarzkopf mit Tempo um die Ecke biegt, und direkt auf mich zugeht.  Ich freue mich, denke  „ah der Herr B-ärger“, und lächle ihn an.

„Nein, nein“,  schüttelt er  entschlossen den Kopf:

„Nein, er nix Deutsch verstehen, er nix von hier. Muss, muss Zug, Arbeit…“

Ich setze mich auf die Treppe und warte. Ein Wagen hält. Der Fahrer blickt grimmig, öffnet die Tür.

„Guten Tag!…“ sage ich. Er: „Hallo!“

Ich lege mein Gepäck in den Kofferaum, der sich magisch geöffnet hat, schließe die Klappe, steige ein, er fährt los. Und  schweigt.

Mein Kopf tanzt hin und her, saugt die Straße auf, kommentiert, was er sieht:

„Ach, Übach…. scheint eine hübsche, kleine Stadt zu sein…relativ neu?“

Er schweigt.

„Ich bin zum ersten Mal hier…also ganz viele Häuser mit Ziegel. “

 

Übach, viel Ziegel…

Er schweigt.

Das Schweigen ist nicht unbedingt meine größte Stärke, so plappere ich weiter los, frage ihn:

„Wie groß ist eigentlich Übach…?“

Er schweigt.

Ich drehe mich um, glotze aufdringlich in sein Ohr. Vielleicht hat er ein Hörgerät, vielleicht ist die Batterie alle?

„Nein!“, sagt er endlich,  das wisse er nicht.

„Nein?“  frage ich mit dem Blick auf sein Ohr.

„Neein, Ich bin auch  nicht von hier…

„Ach? Wo kommen Sie her, wenn ich fragen darf?“

„Eifel!“

„Eifeeeeel? Wo aus der Eifel?“

„Monschau.“

„Ach neh, aus dem wunderschönen Monschau? “

Schweigen. Einsilbiger  Dialog. Ende.

 

Vorfreude aufs Schwimmen!

 

Das Gästehaus: groß, ordentlich, völlig leer, 50 Betten, keine Gäste, außer mir. Es ist ein Dienstag. Die „richtigen“ Gäste kämen am Wochenende. Dann sei  hier alles voll. Mein Gastgeber marschiert vor mir, seinem einzigen Gast, her,  steigt die Treppe hoch, schweigt. Ich renne hinter ihm her, schleppe meinen Koffer. Er öffnet das erste Zimmer: sauber, schlicht, klein. Mit Blick auf eine Ziegelmauer. Ich schaue auf die Ziegeln, die Mauer schaut auf mich zurück. Herr B-ärger  drückt mir einen Schlüssel in die Hand  und einen Hauscode mit siebenundzwanzig Zahlen. Fertig.

PR-Tour & Golfen

Vor der Tür steht schon der Herr PR-Mann: zwei Köpfe größer als ich, zehn Jahre jünger,  glatt gebügelter Anzug, freundliches Lächeln. Er begrüßt mich auf unserer Muttersprache. Sofort sind wir  per Du und gehen im westlichsten Zipfel Deutschlands  Mittagessen. Er  „verkaufe“ den Holländern, seinen besten Kunden, auch Köln, Düsseldorf  und Bonn.  Sehenswürdigkeiten und Kontakte, so habe ich es  jedenfalls verstanden. Was plane ich, worüber will ich schreiben, will er wissen.

Ich verschlucke mich fast.

„Ich plane nie“, gebe ich zu. „Ich lasse die Geschichten zu mir kommen. Mal sehen…“

Er kratzt sich an der Stirn, sagt „Ah… Interessaaant!“

Wir rasen danach durch das schöne flache, grüne Ländle, unser Ziel: Golfpark, „Loherhof“ in Geilenkirchen.

Vor uns liegt ein feiner weit ausgerollter grüner Teppich, einen halben Kilometer lang und übersäht mit tausenden weißen Bällen. Wie die  Milchstraße. Ein Bild. Eine Installation. Meine Augen weiten sich, saugen alle Details auf. Eine  ältere Dame, sonnenstudiogebräunt, dünn, zäh,  registriert uns und lächelt zu uns herüber bevor sie kräftig mit  Schwung auf einen Ball eindrischt. Der Ball flieeeeeeegt und flieeeegt!

Weg! Weit weg! „188 Meter!“ stellt der Herr PR-NRW, mein Landsmann, präzise fest.

Ich, wie von einem Magneten angezogen, will das noch mal sehen, bitte, bitte noch mal, und noch mal und ich will  bitte einmal selber schlagen. Mein Landsmann schaut auf die Uhr. Für meinen ersten Ballschlag  gibt er mir genau dreißig Sekunden. Mein Golfball, der erste meines Lebens, flieeeeeegt auch.  Und bleibt nach  22 Metern liegen.

Das Spiel ist aus!

Nein, der Golfplatz-Besitzer habe heute keine Zeit, nur eine Visitenkarte. Und Frau Berti, seine Schwester, die in historischen Kostümen durch Schlösser und Mühlen mit Touristen zieht,  sei  leider  auch nicht da, „seit gestern in Urlaub“.

Also zwei wichtige Themen der Region muss ich heute auf der Stelle abschreiben.

„Nein“, er habe jetzt auch keine Zeit mehr, sagt der PR-Mann. Seine Termine seien ganz dicht, die Holländer, das Büro, die Frau, das Kind. Ich will aber golfen, die älteren Dame, die das Spiel  so gut  beherrscht genau studieren. Ich schaue kurz in den bleigrauen Himmel, wühle in meinen Taschen: „Nein“, kein Regenschirm.

 

Rathaus Übach-Palenberg

Nein, Nein, nein…

Wir fahren zurück ins Gästehaus der Sportschule Sport Verein NRW. Ich will schwimmen. Ich kraule  schon unterwegs in Gedanken  und jubele, dass ich  direkt an einem Schwimmbecken wohne, in dem am Wochenende die besten Schwimmtalente  der Bundesrepublik üben oder künftige Trainer sich als Experten weiterbilden lassen. Hier übe man für  Olympia und Gold-Medaillen, erfahre ich. „Für Deutschland!!“

Bei so einem Wetter neben all den Schwimmgötter zu kraulen – oh, fantastisch!

«NEIN!» sagt eine Dame im Bikini am Eingang. Der Pool sei nur für Vereinsmitglieder!

«NEIN! bestätigt ihre faltige Kollegin.

„Schon aus  Sicherheitsgründen nicht“, mustert  sie mich, den Alien mit Akzent längs und quer. Meine Visitenkarte beeindruckt sie kaum. Die darf ich für mich behalten.

«NEIN!!!!“ Ohne Aussicht, auf keinen Fall! Punkt! , gibt  der  Herr B-ärger sein letztes Wort.

„Aber, aber… ich  kann gut schwimmen, brauche keine Aufsicht! Eine Ausnahme, bitte! spreche ich die letzten Worte schon in die Luft. Herr B-ärger sitzt schon in seinem Wagen und fährt los.

Mein Übach-Palenberg  muss ich ab jetzt ganz alleine in den  Griff kriegen. Zu Fuß und  sobald es aufhört zu regnen.

Die Entdeckungstour in Übach…

 

Wie ein  durchnässter Vogel ziehe ich mich zurück in mein Zimmer, eine Zelle, 2×2 m.  Drei mal ein- und ausatmen und die Luft ist schon ganz verbraucht. Ich  öffne das Fenster, atme, atme, atme. Die schwere, feuchte Luft klebt in meinen Lungen. Der Sturm dringt in das  Zimmer. Ich schließ das Fenster, klappe meinen Laptop auf, will  nun, fest entschlossenen,  mein Übach… virtuell erforschen, recherchieren!

Doch das Netz streikt: „Limit überschritten!“ lese ich. „Oh, NEEEIN!“ sage ich  nur noch.

„Neeeeein, “   brüllt auch mein Herr B-ärger in den Hörer, als ich ihn anrufe  und um  Hilfe bitte.  Bei allen habe es funktioniert! Bei mir müsse es auch!

„Ja, O.K. ich probiere noch mal und noch mal und noch mal, und noch mal. Leider nix.“

„NEEEEIN!“, er könne mir jetzt nicht helfen. Er sitze am Steuer. Im Sturm. 30 Kilometer weg!  Er sei gleich vor seiner Haustür. In der Eifel. Punkt. Gespräch zuende.

Ich, Alien alleine zu Hause, in Übach-Palenberg…

Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Toilette. Vor dem Fenster Sturm.  Schwimmen? Internet? Radio? Fernsehen? Zeitung?……….Nix!

 

NIX! NIX! NIX!!

Nur wir  beide. Ich und ÜBACH.

Übach-Palenberg – mein neues Schicksal! Der westlichste Zipfel Deutschlands hat mich in das  kleinste Zimmer überhaupt  gelockt, um mich mit seinem puren Charme, seiner stürmischen Liebe zu erobern.

Dabei soll uns niemand stören. Weder Berti in Kostümen durch die Mühlen noch ihr tüchtiger Golf-Bruder. Golfen habe ich hinter mir, mein erster Ballschlag: 22 Meter. Meine Ehrgeiz sollte ich lieber doch woanders investieren! Und die armen Asiaten, die für das deutsche Abi pauken, sollte ich besser  nicht stören. Sie kommen mit dem deutschen  Wort „NEIN“ – so direkt, ehrlich und deutlich –  vermutlich noch weniger klar als ich. Sie nicken immer und sagen mit zusammengepressten  Zähnen:

„Jaein“

Ich schließe das Fenster und die Tür und umarme mein Schicksal mit beiden Armen. Ich will Übach-Palenberg vertrauen und wiederhole das Mantra meiner Mutter: „Wer weiß, wozu dat alles gut sein wird Kind“.

Ich  lege mich auf das Bett, fange an tief und ruhig zu atmen und spüre langsam,  wie ich mich befreie von all den Dingen, die uns im Griff haben: LUXUS, PRESTIGE, DIPLOMATIE, NETZ – fühlen meinen und  seinen Atem, ahne Übachs Nöte, Natur und Zeit.

In der STILLE taucht vor mir Maria Gorretti auf, die gute Seele vom  Kloster Steinfeld, die  seit 60 Jahren Gott und der Menschheit dient. In diesem kleinen Zimmer, in der Stille, fange ich an, die gütige Schwester zu verstehen. Ich klappe meinen Laptop auf und schreibe. Ich schreibe und schreibe, schreibe über Maria wie im Rausch.

Übach, meine neue Muse,  schweigt neben mir, zieht sich zurück, wartet geduldig auf mich, hört zugewandt  mein hektisches Tippen auf der Tastatur. Meine  Geräusche vermischen sich mit  dem Sturm.  Ich höre die Natur in dem einsamen Zimmer dieses riesigen Hauses so klar, bewusst,  herrlich wie  seit meiner Kindheit nicht  mehr.

Der Himmel tobt, als ob Gott wüten und sich beschweren wolle über uns, die ungeduldigen Kinder, undankbaren Nachfolger Adam und Evas.  Ich verstehe diese Donnerwettersprache langsam!

 

„Nein!!! Nie ist es Euch genug! Immer wollt ihr mehr haben! Immer mehr, mehr, mehr… Noch und noch schneller: MACHT, LUXUS, EWIGE JUGEND, LIEBE, PRESTIGE, WETTBEWERB, SEX, INTRIGEN, GELD…. IHR WIDERT MICH AN, EUEREN VATER IM HIMMEL……..

 

Plötzlich sehe ich am Horizont einen Sonnenstrahl. Und mein Handy piepst: Mein  freundlicher PR-Mann schickt mir eine Message. Er gibt mir einen neuen Tipp in meiner Muttersprache! «Sunce! Prosetaj do Nizozemske. :)! – Sonne! Gehe in die Niederlande, zu Fuß! Punkt. Smiley»

„Ach was!?   Herrliches  Übach-Nein-plus-Humor, eine Spezialmischung, Balkan-Übach?

***

Am nächsten Morgen wache ich früh auf mit einem leichten Rausch im Kopf. In der Bäckerei am Anfang der Fußgängerzone setzte ich mich ans Fenster. Gegenüber palavern zwei ältere Damen, eine Graulockige, die andere frisch gefärbt, brünett, mit einem weißen Strähnchen. Sie quatschen sich  ihre Hörgeräte voll und lachen aus wörtlich vollem Munde; eine hält mit beiden Händen ihre  Zahnprothesen fest.

 

Mein Frühstück in der Bäckerei

 

 Hinter der Theke  schweigen zwei Verkäuferinnen wie Fische. Eine, blutjung, dunkles Haar, breite Hüften, Brille. Die andere: dünn,  blond,  mitten auf dem Kopf heller gefärbt, auf den Seiten rasiert, energische Chefin. Zwei tüchtigen Automaten. Kein Wort. Kein Lächeln untereinander.

Mich strahlt nur ein Zwetschgenkuchen an, was sonst. Ich strahle  zurück und bestelle ein  Stück bei der Chefin persönlich.

„Nein! Das geht nicht!“, sagt sie ernst, entschlossen.

„Wieso nicht????“ staune ich.

„Nein, stückweise verkaufen wir nicht,  nur den ganze Kuchen!“ Punkt.

„Keine  Ausnahme vielleicht?“ frage ich mit einem Lächeln?“

„Neein! Keine Ausnahme! Die Regel gelten für alle gleich.“

 

„Jaaa! O.K. Ich  verstehe!“ sage ich: „ O.K. den ganzen Kuchen, bitte! Und noch einen Kaffee dazu! Bitte!“

Ich sitze am Fenster und esse, esse, esse, verschlinge den halben Zwetschenkuchen. Mein Frühstück. Der schmeckt phantastisch. Nun  bestelle ich noch einen Kaffee und schlinge weiter.

 

„Mitgefühl kennt keine Obergrenze!“

Gegenüber der Bäckerei an der Tür der örtlichen Caritas klebt mein Blick an einem Plakat:

„MITGEFÜHL kennt keine Obergrenze! Wählt Menschlichkeit!“

Wieder mein Übach P. in seiner  wahren Natur: direkt, ohne Verpackung, ohne lange um den Brei zu kreisen: „Nein zur Obergrenze! Ja zu Menschlichkeit!“ Punkt.

Am Abend spüre ich einen Bären-Durst und marschiere in die neue Bierkneipe mit 11 Sorten Frischgezapftem. Ich  bestelle ein Bier und eine Zeitung dazu.

Die Kellnerin, nett,  freundlich, lächelt, sagt aber, das Wort, dass die Übacher wie keine anderen am Besten beherrschen, und das gleich  zwei mal:

„Nein! Nein! Leider  haben wir hier keine Zeitung! Noch ein Bier?“

***

Als ich zurück  ins Gästehaus komme, sitzt auf einer Bank  vor der Eingang zur Schwimmhalle eine rundliche Dame mit einem freundlichem Lächeln. Ich nicke kurz, sage „Hallo“, setze mich neben sie.  Sie warte auf ihren Sohn, sagt sie. „Sie auch?“

Ich drehe den Kopf. “Hier wohne ich“, sage ich.

„Ach!“ Fragezeichenblick. „Was machen Sie hier?“

Ich schreibe, sage ich, ziehe  meine Visitenkarte, frage, ob sie manchmal auch hier schwimme. Sie lacht, „Nein“, sie könne überhaupt nicht schwimmen. Sie komme aus Polen, früher habe man den Kindern sowas nicht beigebracht.

 

Polnische Lösung

„Und Sie?“ „

„Ja, ich würde  gerne hier schwimmen, darf aber nicht, ich bin kein Vereinsmitglied“.

Die Polin  zieht ihre Augenbrauen hoch.

„Ach, was?“ dreht sie den Kopf: „Zuerst tun, dann fragen und denken! So machen wir  das in Pole.“ Das Wort  “NEIN“ soll man nicht so ernst nehmen, wie die Deutschen, meint sie.

In Polen heiße „Nein“ „vielleicht“ oder „lass uns weiter verhandeln, spielen, überreden…“,  meint sie und lacht.

Ich schmunzle.

In Bosnien ist „Nein“ in bestimmten Situationen sogar eine Höflichkeitsform,  eine Art Gong für den Anfang eines Spiels, das Vorspiel eines Verspechens. Sagt ein Gast zum Beispiel „Nein“ dann will der dem Gastgeber Raum schaffen für dessen   Überredenskunst und ihm die Möglichkeit geben, in allen Varianten auch verbal seine Gastfreundschaft zu demonstrieren.

„Nein“ ist  nie  das Ende eines Gesprächs wie in Übach, sondern der Auftakt!

Wie soll man das Übacher „Nein“ – echt, ehrlich, ernst – ins Polnische oder  Bosnische übersetzten, oder umgekehrt, ohne Kriegserklärungen oder Hungernot zu verursachen?

 

Nein ist nein“

Als ich am Anfang in Deutschland bei Freunden gefragt wurde, ob ich Hunger habe, habe  ich sofort  höflich „NEIN“ gesagt, obwohl das Gegenteil wahr war  und dann vergeblich gewartet, dass man mich noch einmal fragt.

„Mit dem deutschen „NEIN“ ist nicht zu spaßen“ meint die Polin.

Jeden Dienstag und Donnerstag holt sie hier ihren Sohn ab. Er ist kräftig schüchtern,  fünfzehn Jahre alt, Vereinsmitglied.

„Nächstes Mal gehen wir etwas trinken, solange die Jungs schwimmen“, sagt die Polin, meine erste  Freundin in Übach, bevor sie geht.

Ich gehe in mein  Zimmer und arbeite an meiner Kloster-Geschichte. Kurz vor Mitternacht sind meine Beine  eingeschlafen und der  Rücken ganz versteift. Ich gehe wie eine Mondsüchtige die Treppe hinunter, um mich  zu strecken. Ins Wasser zu springen wäre natürlich noch besser.

Ich  denke an meine Polin. „Zuerst tun, dann denken?“ Kurz rein und raus? Nur einmal? So wie beim Golfen? Einen Ball schlagen? NEIN!

Ich, gut integrierte Schreiberin,  will keinen Ärger mit  dem Herr B-ärger!

„Nein ist Nein“.

„Das Schwimmbad  nur einmal anschauen?“ Das neugierige Kind in mir hört nicht auf, zu kämpfen und zu bohren. „Ich mag keine strengen Mütter“, sagt es.

„Das muss sein, Herr B-ärger! Sorry!“

 

Die Zarin der Nacht, ich, steige die Treppe munter hinunter.

Eben  noch Gefangene in der kleinen Zelle jetzt Alien in dem großen  leeren Haus im Halbdunkel, halte ich den Schlüssel in der Hand.

Vor der Eingangstür bewegt sich ein Schatten. Zuerst erschrecke ich. Oh, Gott. Ein Krimi in Übach? Ich zittere, komme aber näher. Noch zwei Schritte. Ich erkenne  einen Mann. Sein Gesicht im Halbdunkeln, zerknittertes Bitten.  Er kreist mit seinen Händen. Ich komme noch ein Stück näher.

Wer ist der Mann? Was möchte er hier um Mitternacht?  Ich lächle verlegen,  fühle mich aber hinter der dicken Glasscheibe sicher, gehe noch ein Schritt vor, breite die Hände aus, frage:

„Wat  iss loss?“

Er gestikuliert mit den Händen,  zeigt mit den beiden Zeigefingern auf seine Augen, sein Blick ist  bettelnd, seine Hände  sind zu einem Flehen, einem Gebet zusammengepresst als ob sie zusammengeklebt wären.

Zwischen mir und dem Mann steht die dicke Glasscheibe. Und der Siebenundzwanzig-Zahlen-Code.

Der Man umkreist noch einmal die Augen mit seinen Zeigefingern.

„Ach, Brille?“,  versuche ich zu raten.  Der Mann hat wohl  seine Schwimmbrille im Schwimmbad vergessen? Das  kann  ich nur sicher erfahren, wenn ich die Tür aufmache.

Ich schaue auf die Uhr. Es ist vier Minuten nach Mitternacht.

Ich schüttele den Kopf. Sage NEIN!

 

Vier Buchstaben mächtig wie (s)ein Schicksal.

Komisch, diese  Ernsthaftigkeit des Wortes. „Nein“  hart  wie ein Schuss.  Der Mann sackt  verzweifelt in sich zusammen.  Versucht es aber doch noch einmal. Wieder faltet er die beide Hände zusammen und fleht mich an.  Also doch kein Deutscher Mann?  Einer aus Polen vielleicht? Türke? Oder Italiener?

Ja. Nun sehe ich vor mir den Caritas-Spruch  „Mitgefühl kennt keine Obergrenze!“  und öffne die Tür.

Oh, danke… Jaaaa, er habe seine Schwimmbrille im Schwimmbad liegen lassen, es sei  seine neue,  ganz teuere Markenbrille, Geschenk seiner Frau zu seinem 40ten.

„Sehr nett, vielen Dank“, sagt er.

Ich nicke kurz und spiele die Chefin des Ladens,  marschiere vor ihm her, öffne ihm die Tür zum Schwimmbad und bleibe stehen.  Der Pool, mein verbotenes Wasserparadies, liegt vor mir: lang, breit, ruhig, schön.  Der Mann findet seinen Schatz genau da, wo er ihn liegen gelassen hatte,   am Rande des Wasserbeckens, wo jetzt so schön der Mond hinein scheint.

Am nächsten Morgen, kurz vor meinem Abschied von Übach-Palenberg,  klopfe ich beim Herr B-ärger noch mal an die Tür. Ich bedanke dafür, dass ich mich in dem großen Konferenzraum zwischendurch doch mit der ganzen Welt  vernetzen durfte.

Der Himmel über Übach-Palenberg

Ob ich eine halbe Stunde länger in meinem Zimmer bleiben könne, frage ich.  Herr B-ärger guckt ernst:

„Nein!“ sagt er. „Punkt 11“. Das Zimmer müsse geputzt werden. Punkt.

„Punkt 11“ schiebe ich meinen Koffer hinter mir her, marschiere auf der leeren Übacher Straße im Rhythmus  des Regens und des herrlichen neuen Übacher Rap: „Nein, Nein, Neeein!  wir wollen kein Ärger, Herr B-ärger…

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Der rote Faden der Region

Folge 2: Die Zeitreise

Wolfszähne fressen sich durch weiße Wolle. Es quietscht und rumort. Live dabei bei einem Mord? Keineswegs! Hier im Euskirchener LVR-Museum macht nur die Krempelwolfmaschine ihre Arbeit wie in alten Zeiten. Inzwischen regnen weiche Wolleschneeflöckchen aus der Maschine, der Wolf ist fertig. Doch damit ist es noch längst nicht getan, weiß Museumsführerin Sabine Gerhardt. Von der Krempelmaschine muss die Wolle nun zum Färben. Anschließend machen mächtige Spinnmaschinen daraus Fäden bis schließlich die Verarbeitung auf donnernden Webstühlen erfolgt: Geschichte zum Anfassen – „Wir haben oft Schulen zu Besuch, die in unserem Gästehaus schlafen und mehrere Tagen hier vor Ort Geschichtsunterricht erleben“, erklärt Gerhardt. Sie hat selbst Lehramt studiert, aber schließlich im Museum Wurzel geschlagen: „Ich bin von Beginn hier in Euskirchen mit dabei gewesen – es ist einfach eine tolle Arbeit.“

Das Foto zeigt eine Frau neben einer Maschine

Seit 16 Jahren können Schaulustige die Tuchfabrik Müller als Museum besichtigen. „Nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf wurde die Tuchfabrik, die eigentlich 1961 wegen mauen Geschäften geschlossen wurde, wieder zum Leben erweckt“, sagt Gerhardt. Als in den 80ern der Prinz – in diesem Falle der Landschaftsverband Rheinland – kam, um die Fabrik wieder zum Leben zu erwecken, stieß er auf einen ungeahnten Schatz: „Alle Maschinen sind noch vollständig erhalten und viele funktionieren sogar heute noch.“ Und tatsächlich hat man das Gefühl, dass gerade erst ein paar Arbeiter die Maschinen hätten verlassen können; so authentisch wirkt hier alles. „Das Museum ist einfach einer der wenigen verbliebenen Orte, die uns einen unverstellten Blick in die Vergangenheit geben“, sagt Gerhardt. Selbst die alte Körmelecke des sammlungswütigen Besitzers ist noch erhalten geblieben. „Hier ist alles noch so, wie es damals auch war!“

 

Die Wollroute

Detlef Stender ist Leiter des Industriemuseums Euskirchen und stolz darauf, dass die Tuchfabrik heutzutage in dieser Art einzigartig in Europa ist. „Die Tuchindustrie hat einfach eine große Bedeutung für unsere Region“, sagt er. Deshalb hat Stender 2004 die „Arbeitsgruppe Wollroute“ mitbegründet. Denn in den vergangenen 300 Jahren war nicht nur Euskirchen, sondern auch Aachen, Eupen, Monschau, Vaals und Verviers Hochburgen der Wolltuchproduktion. „Hier wurden Tuche für die ganze Welt gewebt“, erklärt Stender. Heute gebe es zwar kaum noch aktive Tuchproduktion, doch dafür zahlreiche herausragende Denkmäler und Museen, die deren Geschichte erzählen. Um diese Tradition zu erhalten, und auch um eine Verbindung zwischen den verschiedenen Standorten herzustellen, haben sich die Städte in einer Arbeitsgruppe vernetzt: „Zunächst wollten wir unsere gemeinsame Wirtschaftsgeschichte zusammenfassen.“ In der Arbeitsgruppe versammeln sich regelmäßig Vertreter unterschiedlichster Gebiete: Historiker, Museumsleute, Tuchwerkbesitzer, Beamte vom Kulturamt, der Gemeinden und Städte und Mitarbeiter der Tourismuszentrale kamen zusammen, um die gemeinsame Geschichte zu erörtern.

 

Warum hat die Region die Tuchindustrie verloren?

Die Öffnung der Zollgrenzen, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in den 50er Jahren mit sich brachte, führte zu starker Konkurrenz – vor allem aus Italien. Zwischen 1952 und 1982 mussten aufgrund dieser Konkurrenzsituation alle Tuchfabriken der Region schließen. Der Absatzmarkt ist zusammengebrochen, da sich die Textilindustrie zunächst nach Italien und schließlich von der Türkei nach Asien verlagert hat.

Das Foto zeigt einen Mann und eine Frau neben einem gestrickten SchweinEin riesiges, rotes Strickschwein, zwei überdimensionale Enten und ein Schwert, das den ganzen Raum ausfüllt, stehen und hängen im Atelier von Görg und Görg in der Annastraße in Aachen. Martin und Angelika Görg führen hier ein Wollgeschäft und setzen sich auch für den Erhalt des Wissens rund um die Geschichte der Region und textile Handarbeitstechniken ein. Genau deswegen gründeten sie 2011 das Label „aachenstricktschön“. Hierbei werden vor allem Outdoor-Strickaktionen in die Tat umgesetzt: Bäume werden eingewebt, Denkmäler und Brunnen verschönert: „Wir stricken, weil es Spaß und das Leben bunter macht.“

Das Foto zeigt das Logo von aachenstricktschön

Doch bei aachenstricktschön geht es nicht nur um’s Gutaussehen und Funktionalsein, nein, vielmehr geht es auch um eine Spur Protest. „Beispielsweise die Sitzklötze aus Stein“, sagt Martin Görg. „Als diese in der Innenstadt installiert wurden, war das Geschrei groß.“ Die Steine seien zu teuer und sowieso viel zu kalt zum Draufsitzen und dann auch noch ideal in Hundehöhe zum Dranpinkeln. Sowas aber auch! Görg lacht. „Wir haben damals ein paar Klötze eingestrickt und wollten die Leute mal daran erinnern, dass es „nur“ um ein paar Sitzklötze geht“, erzählt er. Mit Erfolg, denn nach der Strickaktion war das Thema aus dem öffentlichen Stadtgespräch verschwunden. Die Wolle hatte geschlichtet.

Das Foto zeigt bunte SitzklötzeAuch am Theater haben die Görgs und Mitarbeiterin Monika Nordhausen eine besondere Aktion verwirklicht. „Wir haben alle 150 Poller um das Theater eingestrickt“, sagt Nordhausen. Warum? „Na ja, warum gibt es diese Poller überhaupt?“, fragt sie laut und schaut Görg mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Damit man weiß, dass man da nicht Parken kann“, antwortet Görg und schüttelt den Kopf. 150 Poller. Ob das wirklich nötig war? Die Strickkünstler wollen mit solchen Aktionen, ganz alltägliche Dinge in Frage stellen.
Aber auch Schöngeistiges gehört mit dazu. „Wir haben zum Beispiel Waldtiere für das Kukuk zum Thema Grenzrouten gestrickt“, erzählt Nordhausen. Das Gestrickte dauerhaft draußen zu lassen, findet sie allerdings nicht richtig: „Wir lassen unsere Aktionen meist nur zwei, drei Tage vor Ort, danach sieht es nicht mehr schön aus.

 

 

Oma-Image lächelnd umstrickt

Die meisten der Streetart-Strickereien übernimmt zwar eine eigene kleine Strickmaschine. Trotzdem kostet das Projekt Zeit und auch Geld. Doch Martin Görg ist es das Wert: „Es macht nicht nur Spaß, sondern gibt uns auch unfassbar viel zurück.“ Ein Beispiel: Die Görgs haben für eine Ausstellung im Rahmen des Karlsfestes eine riesige Europakarte gestrickt. „Am Tag der Ausstellung kam eine Familie vorbei und der Vater hat sein Kind hochgehoben und gesagt: ‚Fühl mal, so ist Europa‘.“ Görg schaut auf. „Das Kind war blind.“

Das Foto zrigt eine LandkarteDie Arbeit mit Kindern ist auch Nordhausen besonders wichtig. Sie arbeitet nebenbei als Kulturagentin und hat das Projekt Worldwidewool ins Leben gerufen – ein euregionales Schulprojekt zur Tuchmachertradition. An den sechs Wollroutenorten hat sie daher zusammen mit Künstlern zwei Jahre infolge Strickprojekte an Schulen organisiert. Das Projekt wurde durch die regionale Kulturförderung des Zweckverbands Region Aachen und das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport NRW gefördert. Auch für die Zukunft möchte Nordhausen Gleiches wieder umsetzen. Denn für sie zählt, vor allem jüngere Menschen wieder für die Wolle zu begeistern: „Das Oma-Image ist längst überholt.“ Mit der Do-it-Yourself-Bewegung habe sich bereits ein neues Bewusstsein für Selbstgemachtes etabliert.

Und sie hat recht, fährt man mit den Fingern über die Wollknäule in den Auslageregalen, kratzt es nicht mehr auf der Haut. „Es gibt sogar Garne aus Bambus, Wolle mit Stahlfasern oder sogar Papier“, sagt sie. Altbacken sei gewiss etwas Anderes. Genau deshalb setzten sich die Görgs und Nordhausen auch für die Aufnahme der Wolltradition in das Register des immateriellen Kulturerbes der UNESCO ein. Man müsse so ein ausgeprägtes Netzwerk der Industriekultur würdigen. „Immerhin besteht es seit Mitte des 18. Jahrhunderts – das darf nicht in Vergessenheit geraten“, finden Görg und Nordhausen. Mit der Wollroute und Strickaktionen hoffen sie darauf, dass es weitergeht. Auch Detlef Stender sieht das so: „Es ist zwar ein sehr spezieller Tourismus, aber es ist unsere gemeinsame Geschichte.“ Ein Thema von Relevanz. Eben der rote Faden der Region.

Mehr von Marie Ludwig

Was interessiert die Idylle die weite Welt?

Monschau habe ich schon einmal vor ein paar Wochen besucht, muss aber zugeben, dass mich das Eifelstädtchen an diesem Tag nicht so richtig packen konnte. Darüber habe ich lang nachgedacht, weil der Ort eines der touristischen Hauptziele in der Region ist. Alle sagen immer, Monschau sei so schön. Das stimmt. Keine Frage. Ist es. Aber ich habe an diesem Tag diese Schönheit nicht sehen und fühlen können. Ich glaube, in Bezug auf Monschau greift bei mir der eigene „blinde Fleck“. Die Blindheit für Gewohntes, das man irgendwann nicht mehr als Besonderheit wahrnimmt, weil der Eindruck verblasst. Da ich in Süddeutschland aufgewachsen bin, sind Städte mit Fachwerkbauten für mich eher gewöhnlich. Monschau hat viel davon und ist architektonisch imposant und ragt auch aus seiner Umgebung heraus. Allerdings hatte ich in Monschau auch das Gefühl, mich in einer Filmkulisse zu befinden. Alles ist perfekt und schön, nur eben das, was eine Stadt ausmacht, fehlt: Das alltägliche und gewöhnliche Leben. Abgesehen von den Touristen, die durch die malerischen Gassen geschleust – oder sogar mit einer Bimmelbahn gefahren – werden, die man mit Eis, Kaffee und Souvenirs füttert, die aber irgendwann wieder im Reisebus verschwunden sind, konnte ich hier kein Stadtleben ausmachen. In den umliegenden Stadtteilen schon, das historische Altstadttal wirkte auf mich wie die Kulisse einer Idylle aus dem 18. Jahrhundert. Mich beschlich während des Gangs durch die Gassen immer dieses Gefühl, jemanden fragen zu müssen, wann die Öffnungszeit zu Ende ist, damit ich rechtzeitig das Gelände verlassen kann. Das war mein erster Eindruck von Monschau.

Für meinen zweiten Besuch hatte ich mir vorgenommen, jetzt, da ich mir meines blinden Flecks bewusst geworden war, diesen irgendwie zu überwinden. Einen Ansatz wählen, um einen anderen Blickwinkel zu bekommen. Zunächst war da die Ausstellungseröffnung mit Photographien und Zeichnungen von Jürgen Klauke und Gina Lee Felber im „KuK – Kunst und Kulturzentrum“. Beim letzten Besuch hatte ich das Atelierhaus und die vorherige Ausstellung „The Photographers“ mit Photographien von Anton Corbijn, Helmut Newton und weiteren namhaften Photographen besichtigt. Große Namen. So sehr idyllisches, im Dornröschenschlaf befindliches Feintuchweberdorf kann also nicht zutreffen, wenn sich hier Künstler von internationalem Rang die Klinke in die Hand geben. Das war mir aber nicht genug an neuem Blickwinkel, wenngleich es ein Indiz dafür war, dass sich hier noch einiges im Verborgenen abspielen muss. Ich fing an, zu recherchieren und stieß dabei auf die Initiative „Wir sind Monschau – Zukunft mit Geschichte“, die sich auf Investorensuche befindet, aber auch einige gelungene Neuansiedlungen im Ortskern verzeichnet wie etwa die Kaffee-Rösterei Wilhelm Massen, die Bleibe, die Estrade, das Bürgerhaus, die Markthalle, das Flyfishers Inn und den Salon Violino. Die Unternehmer beschreiben, wie sie anhand der vorhandenen Gebäude auf ihre Monschau-Geschäftsidee kamen und warum hier der richtige Ort ist. Gut, es tut sich was. Monschau bewegt sich und die Initiative setzt sich ein für eine zukunftsfähige Innenstadt. Das hatte ich bisher nicht gesehen, dachte, die alte Textilstadt habe im 19. Jahrhundert nicht nur den Anschluss an die Industrialisierung verschlafen, sondern lebe auch heute noch mehr vom Gestern als vom Morgen. Investoren sind immer schwer zu finden. Da hier gefühlt jedes Haus im Monschauer Rurtal eine Denkmalplakette angeheftet hat, wird die Suche dadurch nicht einfacher. Denn jeder möchte sich entfalten, vor allem aber derjenige, der viel investiert. Selbstverständlich ist es schön, sein Geschäft in denkmalgeschützten Räumen aufzuziehen, aber die Bauweise von vor über 200 Jahren entspricht selten den heutigen Anforderungen an ein Wohn- oder Geschäftshaus. Man nimmt immer an, dass diese idyllischen Orte es einfacher haben als andere, weil ihnen die Aufmerksamkeit gewiss ist, Laufkundschaft und Besucher eine Selbstverständlichkeit darstellen. Aber es gelten innerhalb einer Idylle eben auch andere Gesetze.

Mehr von Harald Gerhäusser

Mützenich im Goldfieber

120 Minuten können unendlich lang sein. 120 Minuten können aber auch verfliegen. Das Dorf Mützenich kämpfte kürzlich gegen die Uhr an. Der Auftrag war, so viel wie möglich authentisches Dorfleben in 120 Minuten zu packen. Denn es geht um Gold beim Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“. Auf Einladung der StädteRegion Aachen durfte ich an der Bereisung der Landeskommission in Mützenich teilnehmen. Was erwartet man von einem solchen Spektakel? Vor allem viel Inszenierung und wenig kritische Töne – im Grunde die rosarote Brille – hätte ich erwartet. Dass es wesentlich nüchterner zuging, war eine große Überraschung für mich.

Nach dem letztjährigen Gold auf der städteregionalen Ebene merkt man, dass die Teams in Mützenich noch gut eingespielt sind. Die Straßen sind gekehrt, die Häuser mit dem Dorfwappen beflaggt und die Präsentations-Choreografie einstudiert. Pünktlich um 8.30 Uhr ist es so weit. Der Bus mit der Landeskommission fährt vor. Die Schulkinder singen ein Ständchen, Hände werden geschüttelt und schon geht es in die Gastronomie der Reithalle. Die Ehrenplätze werden eingenommen und die Kommission spitzt die Bleistifte. Aber die 120 alles entscheidenden Minuten haben längst begonnen. Zunächst stellt Ortsvorsteherin Jaqueline Huppertz das Dorf vor und Städteregionsrat Helmut Etschenberg begrüßt die Ehrengäste wie etwa den ehemaligen Ministerpräsidenten der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens Karl-Heinz Lambertz und betont dabei die enge Zusammenarbeit und Verbundenheit des Dorfes mit dem Nachbarland. Davon zeugt auch die Anwesenheit von Monschaus Bürgermeisterin Margareta Ritter und weiteren Bürgermeistern aus den belgischen Nachbardörfern. Danach stellt sich die Bewertungskommission dem Dorf vor. Es folgt eine detaillierte Power-Point-Präsentation des Venndorfes mit seinen 2084 Einwohnern. Die Vereine, Aktivitäten, Feste und Bräuche wie die Kirmes, der Vennlauf, der Besuch des Nikolauses und der Möhneball werden erklärt. Der Möhneball sei der letzte seiner Art in der Städteregion Aachen. Maskiert wird bis Mitternacht getanzt, dann folgt die Demaskierung. Im Verlauf der Präsentation wird das „Weiße Pferdchen“ als kulturelle Institution ebenso präsentiert wie der „Highway-to-Hell-Grill“, der Welt-Laden und das Hotel Bellevue, das den Mittagstisch für die Grundschule liefert.

Immer wieder brechen in die Präsentation ungewollt komische Elemente ein und ich habe mich gefragt, wie ich diese beschreiben soll. Denn ich möchte nicht den Anschein erwecken, dass nun der Städter aufs Dorf kommt und sich über die Aktivitäten und Gepflogenheiten belustigt. Trotzdem musste ich zum Beispiel schmunzeln, als in der Präsentation auf das soziale Engagement einer Gruppe hingewiesen wurde, die sogenannte Lepra-Lappen strickt, die dann zu Tischdecken verbunden und zum wohltätigen Zweck für Lepra-Erkrankte verkauft werden. Das Engagement ist ehrenwert, aber die Bezeichnung Lepra-Lappen doch irgendwie komisch, so dass man darüber schmunzeln muss, weil sie die Hauterkrankung plastisch beschreibt und nicht etwa beschönigt. Man erschrickt und reagiert mit Lachen, weil man in Zeiten der politischen Korrektheit nur noch selten Dinge so schön direkt beim Namen genannt bekommt. Ich fand das sehr erfrischend und gerade im Rahmen einer solchen Präsentation auch mutig. Normalerweise ist immer die Rede von karitativen Initiativen oder ähnlichem, da bleibt manchmal die Authentizität auf der Strecke. Hier nicht. Ähnlich komisch aber ebenso authentisch drehen Reiter und Reiterinnen fleißig ihre Runden in der nur durch eine Glasscheibe abgetrennten Reithalle. Gewöhnlich würde man annehmen, nichts darf den Vortrag stören, aber das Reiten ist eben auch Teil des Dorflebens und deswegen auch Teil der Choreographie.

Durch weiteres soziales Engagement konnte kürzlich die erste Dorfzeitung erscheinen; der Kirmesbaum erhielt dank Spenden und ehrenamtlicher Mithilfe eine dauerhafte Halterung und drei Kapellen werden privat gepflegt. Als touristische Höhepunkte werden das Schmugglerdenkmal, Kaiser Karls Bettstatt, der Stehling, der Eifelblick, die Vennbahnroute und das Heimatmuseum genannt. Aber auch selbstkritische Töne fehlten nicht. Die Nahversorgung sei noch ausbaufähig und auch mehr barrierefreie Zugänge müssten in Zukunft in alle Bauvorhaben integriert werden. Da sei noch viel Nachholbedarf. Gerade diese offene Aussprache der Dinge, die im Dorf noch fehlen, die man aber durchaus im Blick habe und angehe, überzeugte mich davon, dass der Wettbewerb einen positiven Effekt hat. Ich hatte erwartet, dass es vielmehr nur um den Ist-Zustand gehen würde. Das man alles hochlobt, was da ist und das Fehlende versteckt. Dies war aber nicht der Fall. Als Abschluss der Präsentation des Dorfes in der Reithalle wird der neue Film „Wir sind Mützenich“ gezeigt, der musikalisch durch die Dorfhymne unterlegt ist und nochmals die Vorzüge und Schokoladenseiten des Dorfes aufgezeigt.

Etwa zur Halbzeit verlässt die Kommission die Reithalle, ein Jagdhorn-Quartett bläst zum Abschied vor dem Ausgang. Dann wird die Dorfbegehung im Reisebus vollzogen. Zunächst fährt der Bus zum Schmugglerdenkmal. Dann geht es durch die schmalen Dorfstraßen. Viele architektonische Besonderheiten wie das Vennhaus und das Eifelhaus werden gezeigt. Immer wieder stehen Dorfbewohner an den Fenstern der Häuser und winken. Immer wieder flackert die Inszenierung ein wenig am Straßenrand auf. So etwa als wir das erste Mal am Dorfgemeinschaftsplatz vorbeifahren. Man sieht schon, dass das ganze Dorf auf den Beinen ist, sich sortiert, Musikinstrumente warmgespielt werden. Die Kinder vor dem Kindergarten winken. Man hat das Gefühl, hinter einer Bühne vorbeizufahren, auf der jeden Moment der Vorhang hochgeht. Und so ist es dann auch. Als der Bus vor dem Kindergarten hält, erscheint es so, als sei die Kommission endgültig in einem Film gelandet, der ohne Schnitte und Pausen auskommt: Die Bustür geht auf und die Kindergartenkinder singen ein Ständchen. Kaum ist der kurze Applaus vorbei, geht es in der Eskorte unter musikalischer Begleitung des „Trommler- und Pfeiferkorps Mützenich“ auf den Dorfgemeinschaftsplatz. Hier hat sich nun das gesamte Dorf samt Traktoren versammelt und zeigt Präsenz. Es wird der Kommission erklärt, was der Platz für eine Bedeutung habe und was sich hier alles ereignet. Ohne Pause geht es weiter des Weges in Richtung Heimatmuseum. Auf der kurzen Strecke werden historische Dorfszenen aneinander gehängt: Einem Pferd werden die Hufe beschlagen, die Wiese wird mit der Sense gemäht und mit der Mistgabel wird ein Zaun aus Heu aufgetürmt. Ein Dorfbewohner zeigt wie man mit dem Hammer Werkzeug schleift. Am Ende des „Films“ gibt es Kaffee und Kuchen im Heimatmuseum. Die 120 Minuten sind verflogen.

Als die Kommission wieder im Bus sitzt und sich auf den Weg zur Bewertung eines weiteren Dorfs macht, fällt die Anspannung ab. Es hat alles gut funktioniert. Man ist zufrieden, genießt nun selbst Kaffee und Kuchen. Und es wird relativiert. Wichtig sei nicht das Gold, erzählen die Bewohner, es sei vor allem wichtig, dass man ein gemeinsames Ziel habe. „Unser Dorf hat Zukunft“ bewirke, dass einige Verbesserungen angestoßen wurden, die ohne den Wettbewerb wahrscheinlich nicht umgesetzt worden wären. Man sei gespannt auf den Entscheid am 13. September. Aber das Dorf habe für sich schon jetzt ein Stück Zukunft hinzugewonnen, auch wenn es am Ende nicht für eine Medaille reichen sollte. Und dass man sich heute von der besten Seite gezeigt habe, würde nicht bedeuten, dass es nicht auch das ein oder andere Problem im Dorf gebe.

Mehr von Harald Gerhäusser

Das deutsche Disneyland am Rand der Eifel?

Monschau ist schön, keine Frage!

Angefangen bei den alten Fachwerkhäusern, die dem Fluss Spalier stehen. Dann dieses Gewässer, das sich so sanft rauschend durch das malerische Städchen schlängelt. Ja, Monschau wirkt fast wie im Bilderbuch – und genau dafür ist es aus landauf, landab bekannt. Busseweise werden deshalb die Touristen angekarrt und dann zur Senfmühle, zum Roten Haus und natürlich zum Marktplatz geführt. Dort wurde – als ich zum ersten mal Monschau besucht habe – ein Film gedreht. Die Fernsehteams von ARD und ZDF könnten sich schon fast die Klinke in die Hand geben: Immer wieder sind sie vor Ort, um Aufnahmen für ihre rürseligen Schmonzetten oder Krimiserien zu machen. Als ich da war, war etwas mehr action im Spiel. Denn da fanden die Dreharbeiten zum Hollywood Film „Autobahn“ statt, der in der Region aufgenommen wurde. Die romantischen Gässchen scheinen sich also nicht nur zum Flanieren sondern auch als Filmkulisse bestens zu eignen. Kein Wunder, schließlich ist alles hübsch zurecht gemacht, die Fassaden glänzen und die Bürgersteige sind gefegt.

Mehr von Ines Kubat

„So ist das hier in den Ardennen“

„Eifelsteig? Keine Ahnung!“. Die Verwirrung stand ihnen mit Großbuchstaben ins Gesicht geschrieben. Die zwei Verkäuferinnen und der Kunde in der Roetgener Bäckerei hatten keinen blassen Schimmer, was wir suchten: Den Eifelsteig. Darauf wollten wir zu dritt von Roetgen nach Monschau laufen – also die zweite Etappe des Weges, der auch 15 Etappen rund 300 Kilometer von Kornelimünster bis Trier führt. Gut, wandern ist nicht unbedingt extrem beliebt heutzutage, hat eher einen etwas verstaubten Ruf, und wird schon mal gern in einem Satz mit anderen Dingen wie Jägerzaun und Gartenzwergen genannt… Dennoch musste ich schon ziemlich darüber schmunzeln, dass der Wanderweg für so fragende Gesichter sorgte. Denn so unbekannt ist der Eifelsteig nicht – Immerhin waren meine Begleiter extra aus Köln und Berlin dafür angereist.

Mehr von Ines Kubat