Tod in Euskirchen

In seinem Euskirchener Atelier in der Kölner Straße – hoch, chaotisch und kalt wie eine Kfz-Werkstadt – sitzt Rüdiger, graues, dichtes Haar, Bart, prägnante Wampe, an einem langen mit Katalogen und Zeitschriften voll beladenem Tisch und denkt nach. Vor ihm ein dampfender Blumenkohl, er beißt in ein Röschen und sein Gesicht verwandelt sich in ein gefrorenes Lächeln, das am liebsten weinen will.

Rüdiger A. Westphal Foto: Anton M. Holzhammer

Vierzig seiner Freunde aus der ganzen Welt, die bei ihm in dem Ausstellungsraum hinter dem Atelier im perfekt aufgeräumten Dreieckparadies aus Glas, eine Art Bühne für zeitgenössische Kunst, in den letzten 35 Jahren ausgestellt haben, seien inzwischen „weg“, sagt er.

„Wie weg? Wohin weg?“, frage ich, sein Gast, dem er sein Leben in den nächsten drei Tagen wie auf einem Teller serviert.

„Einfach weg! Nicht mehr unter uns… Alle tot!“

Tatorte: Amok im Gerichtsaal, Schüsse in der Kirche

„Alle tot“ seien auch die Opfer im Gerichtsaal um die Ecke gewesen, als ein Bus-Fahrer sein Urteil ’schuldig’ nicht annehmen konnte und eine Bombe gezündet hatte.

„Ein Ehedrama mit fatalen Folgen…“, meint Rüdiger, und zeigt mir als Erstes den „Tatort“, ein unscheinbares Gebäude aus Ziegel mit unebenen Fugen, ein paar Meter entfernt vor seinem Atelier.

Der Attentäter habe „auf einen Schlag“ seine Partnerin, den Richter, zwei Anwälte und drei weitere Opfer mit in den Todgerissen. Das habe damals ganz Deutschland erschüttert, erzählt Rüdiger.

Und dann noch der Anschlag in der Kirche ganz nah an seinem Atelier. Am hellichten Tag habe eine „verrückte, an Wahnvorstellungen leidende Polizistin“ eine „fromme unschuldige Frau“ vor dem Altar erschossen.

Die Schüsse klängen noch immer in seinen Ohren. Die Kirche musste neu geweiht werden.

Foto: Rüdiger A. Westphal

„Oh, Gott…“, höre ich mich flüstern. Ich hoffe, aus Euskirchen heil zurück nach Hause zu kommen…

Kurdischer Hundertmeter

Ich verkrieche mich in mein Zimmer. Warum hängen in diesem Zimmer, das Rüdiger an Gäste wie mich vermietet, die Fotos seiner toten Eltern? Der Vater in Uniform, jung, dünn, selbstbewusstes Lächeln, blickt von einem großen Schwarzweißfoto neugierig auf mich und auf ein kleines verblasstes Foto mit einer pummeligen Frau in weißer Schürze hinab. Wohl Rüdigers Mutter.

Ich schreibe gegen die Angst bis ich Hunger bekomme.

 Als es dunkelt, laufe ich die Fußgängerzone entlang, höre meine Schritte. Totenstille. Ich blicke auf die Uhr: 20.55. Von Weitem ertönen Männerstimmen. Junge Männer mit dunklem Haar und engen Jeans sprechen laut, lachen, gehen an mir vorbei. Ich schiebe die Hände noch tiefer in die Tasche. Ich will zurück in mein Zimmer, vielleicht noch schnell etwas in einem Supermarkt besorgen, schaue links, rechts, keine Ahnung, wo und ob irgendwas hier in der Provinzstadt noch offen hat. Noch ein Mann springt aus dem Haus, einer um die 40, er scheint nett zu sein. Ich frage ihn, ob er wisse, ob ein Supermarkt in der Nähe noch offen habe. Er überlegt kurz, „Ja, Netto“, meint er, 100 Meter von hier, er gehe auch in die Richtung, könne ihn mir zeigen.

Wo ich her komme, will er nach drei Schritten wissen. „Köln“, sage ich.

„Und original?“

„Sarajevo!!“

„Sarajevo? Bosnien?“, fragt er. „Ja“, sage ich.

Er aus der Türkei, Kurde, zwanzig Jahre Euskirchen.

Ich nicke.

„Gute Stadt!“ sagt er. „Euskirchen, seine Heimat!“ Ihn kenne jeder hier!

„Ja, aber ich sehe keinen ‚Netto’, keinen ‚Penny’ oder ‚Rewe’“.

„Gleich da“, meint mein Begleiter.

Wir laufen jetzt über den Marktplatz. Er will mit mir in eine Gasse abbiegen. Ich bleibe stehen.

„Penny? Netto? Rewe? Wo ist hier der Supermarkt?“, frage ich.

„Hundert Meter sind schon längst um! Oder haben sie vielleicht tausend Meter gemeint?“

„Hundert Meter, ja hundert“, sagt er.

Er rechne aber „ein bisschen anders…“

     

„Sehr nett… aber sie müssen mich wirklich nicht weiter begleiten…“, versuche ich ihn höflich los zu werden.

„Kein Problem“, sagt er, er gehe auch in die Richtung, mache abends ein paar Runden, damit er besser schlafen könne. Wenn ich etwas bräuchte, könne er mir gerne helfen, sein Kühlschrank sei voll.

„Nein, ich brauche nichts, Danke…“ sage ich und bleibe vor einer türkischen Imbissbude stehen, die noch geöffnet ist.

Lahmacun tropft

Der Kurde steht neben mir. Ich bestelle ein Lahmacun und drehe ihm demonstrativ den Rücken zu. Er entfernt sich zwei Schritte und fängt an, zu telefonieren. Ich ziehe auch mein Mobilephone aus der Tasche, tippe, checke meine Klicks im Internet, lächle sie an, sie steigen.

Ich scrolle über meinen kleinen Monitor, auf Youtube spielt ein Akkordeonspieler zwischen tanzenden Menschen. Vor mir steht mein Lahmacun in Alufolie gerollt. Mein Kurde ist weg.

„Gott sei Dank!“, denke ich mir und setze mich auf den Stuhl vor dem Imbiss und kaue das zähe Stück ganz langsam. Aus der Folie tropft es. Mein Nachbar, ein deutscher Mann mit einem rundem Bauch und Glatze, vor dem ein großer Teller Kebab mit Pommes steht und direkt daneben ein Tablett mit tanzenden, bunten Streifen liegt, gibt mir wortlos seine Serviette und isst weiter, mit der Gabel in der rechten Hand bohrt er im Kebab, mit der anderen tippt er auf das Tablet.

„Suppen Kirche“

Am nächsten Morgen schaut mich im Spiegel mein von Albträumen zerknittertes Gesicht an, die Sonne scheint; Rüdiger, mein freundlicher Gastgeber, will mir noch ein paar „verborgene Schätze“ seiner Stadt zeigen. Als Erstes bringt er mich in die „Suppenkirche“ der Evangelischen Gemeinde.  Als ehrenamtlicher Mitarbeiter unterrichte er hier arabische Flüchtlinge in Deutsch. Er esse jeden Donnerstag hier in der Kirchenküche mit seinen Kollegen und den Hilfsbedürftigen der Stadt.

„Suppen Kirche“, jeden Donnerstag

Die „Suppenkirche“ sei nicht nur für arme Leute gedacht, auch die einsamen Menschen, egal ob alt, jung, arm, krank, gesund, Frau oder Mann – alle seien willkommen, sagt Corinna Raitz von Freutz, eine höfliche Frau in den 40ern, die sich als Koordinatorin von drei weiteren Kirchenprojekten vorstellt, mich zum Essen einlädt und mir erzählt, dass sie sich gerade von ihrem adligen Mann trenne.

  

Im „Raum der Stille“, ein Stockwerk höher, fängt mein Magen an, die Suppe mit Wienerwurst zu schleudern, bevor ich versuche, in eine Meditation zu versinken. Plötzlich erscheint vor meinen Augen die verrückte Polizistin, die Amok in der Kirche wegen abgesetzten Tabletten für ihre Schilddrüse lief. Ich renne auf die Straße.

Straßenkunst

 Mit dem blauen Golf von Rüdiger kurven wir um Figuren aus verwittertem Holz, die mitten im Kreisverkehr aufgestellt sind. Kunstwerke in verblassten Farben, ernste Gesichter, in Gedanken versunkene Passanten, apathische Blicke, eine Frau auf dem Fahrrad, vielleicht eine Kurierin mit schlechten Nachrichten?

   

Auf der Wiese gegenüber ein Windspiel, ein Kunststück aus tausend und einem fliegenden Auge mit dem Titel: „Augenblicke“ von einer gewissen „Frau Krieg“, die wie Rüdiger mir erklärt, ihren Namen abgegeben habe für einen „besseren“. „Frau Frieden“ heiße sie nun.

    

Diese Werke und auch ein großer runder Stein, das Kunstrück eines französischen Paares vor dem Euskirchener Gerichtssaal, dem Tatort, sei auch ein bisschen ihm zu verdanken und seinem Förderverein, der dieses Jahr 35-jähriges Jubiläum feiere, erzählt Rüdiger.

Vereinigt in den Tod

Wir fahren an der Zuckerfabrik mit dem penetranten Zuckerüben-Geruch vorbei und biegen auf eine Wiese ein. Rüdiger schaltet seinen Motor aus. Wir stehen vor einem Zaun, hinter dem sich ein kleiner, privater Friedhof versteckt, den angeblich nur Rüdiger und noch jemand anderes kenne. Ein paar Grabsteine mit verblasster jüdischen Schrift, am Boden ein paar frisch aufgestellte rote Plastikkerzenständer mit halb abgebrannten Kerzen.

„Die werden fast jeden Tag erneuert“, flüstert Rüdiger, obwohl das keine „jüdische Sitte“ sei.

Als junger Mann habe Rüdiger sich einen Juden als Freund oder Nachbar gewünscht. Er sei dabei immer traurig gewesen. Er müsse jeden Tag daran denken, was die Deutschen mit den Juden in Euskirchen gemacht haben. Ich schweige und fotografiere. Er fährt mich danach weiter durch die Siedlung. 800 Meter weiter erreichen wir den Hauptfriedhof; da müsse er mir „noch etwas sehr Spannendes unbedingt“ zeigen: Zwei Denkmäler, eines mit Wörtern in polnischer Sprache, das andere mit russischen, kyrillischen Buchstaben und einem großen roten Stern: eine Art Massengrab und Gedenkstätte für die gefallenen Soldaten und Zwangsarbeiter zwischen 1939 und 1945, erfahre ich.

  

Die Gedenkstätte habe er erst gestern entdeckt, als er seinen Schüler Mohammed dem einzigen, der zum Deutschunterricht gekommen sei, zu einem Spaziergang eingeladen habe, um die Stadt mit den „Augen eines Fremden“ neu zu entdecken.

Vor mir liegt ein weites Feld mit kleinen Kreuzen, auf dem grüne Rasen sprießen in regelmäßigen Abständen Mini-Denkmäler aus Beton. Auf jedem Kreuz stehen zwei Namen von gefallenen deutschen Soldaten aus den beiden Weltkriegen. Die Namen aller gefallenen Euskirchener Soldaten sind in die schwarzen Wänden der weißen Kapelle eingraviert.

     Alle sind hier unter der Erde vereinigt: die Täter und die Opfer. Die Deutschen, Russen, Polen und Juden. Der Tod, ihr Erlöser, Versöhner, Friedensengel, Ruhegeber.

Tod, unsere immer-wieder-wiederholte-sarkastische-Geschichte- unseres-Daseins-unserer-Vergänglichkeit- unsers Versagens-des-ewige-Suche- nach-Sinn- Frieden-Ruhe.

Vereinigt in den Tod

Rüdiger möchte nicht auf diesem Friedhof unter einem riesen Stein liegen, so wie er sich früher das einmal überlegt hatte. „Lieber unter einem Baum, namenlos“.

 Mit Mohammed bei Juden

Mit Mohammed sei er gestern zu dem „eigentlichen“, offiziellen, zentralen jüdischen Friedhof auch gegangen, der, wie alle jüdischen Friedhöfe in Deutschland, außerhalb der Stadtgrenze liege. Dorthin gehe ich auch jetzt mit Rüdiger, meinem freundlichen, vom Tod besessenen Gastgeber.

 

Ein frisches Grab mit einem Davidstern überrascht ihn. Gestern sei das Grab noch nicht da gewesen, sagt er, sein Gesicht ist blass, er schaut in die Weite, er verstehe das nicht, er werde es nie verstehen können, sagt er.

„Was haben sie damals nur gemacht? Es gibt noch so viel Platz hier…“.

Synagoge, ein leerer Platz

 Wieder in der Stadt. Ich bin inzwischen todmüde, mein Gastgeber bleibt zwischen zwei Häusern vor einer großen Lücke stehen. Ich verlangsame den Schritt:

Ob ich wisse, wo wir gerade ständen? fragt er. Ich sehe eine Tafel mit der Schrift:

 

„Auf diesem Platz stand die Synagoge unserer jüdischen Mitbürger…“.

Ich nicke, schweige, fotografiere und denke an Dragica, meine Tante aus Sarajevo, die mir die einzigen großen Puppen meines Kinderlebens geschenkt hatte.

Bevor sie meinen Onkel heiratete, hieß sie Greta Sternberg. Ihr Vater war ein reicher, jüdischer Industrieller aus Wien, der nach Sarajevo wegen seiner großen Liebe, ihrer Mutter, gekommen war.

Kurz vor der Besetzung Sarajevos durch die Nazis hat sie meinen Onkel geheiratet und den Namen gewechselt. Unter dem neuen Namen, dem Namen meiner Familie, haben sie und ihre zwei Neffen, die eine kroatische Familie in Dalmatien versteckt hatte, überlebt. Der Rest ihrer Familie ist in Jasenovac, dem kroatischen Konzentrationslager, ermordet worden.

Ihr Sohn, mein Lieblingsonkel, ist als Einziger während des Jugoslawienkrieges in Sarajevo geblieben und hat die belagerte Stadt mit seinem Sohn bis zum letzten Tag verteidigt.

Rüdiger versucht die  Schriftzeichen mit meiner Hilfe zu entziffern. Als Elfjähriger sei er nach einer Vorführung des Films „Die Befreiung von Dachau“ mit Tränen aus der Schule nach Hause gerannt und habe seine Eltern angeschrien:

„Was habt ihr im Krieg gemacht? Wo seid ihr gewesen? Warum habt ihr das ganze zugelassen? Was genau war mit den KZ?“

Sein Vater sei rot im Gesicht geworden und die Mutter ganz still:

„Wir haben es nicht gewusst!“, haben sie zu ihm gesagt.

Ihm sei ihre Antwort peinlich gewesen, sagt er, er habe sich für sie geschämt, danach habe er ihnen kein Wort mehr geglaubt.

Rumänischer Tango

 Am nächsten Tag wecken mich die Kinderstimmen aus der benachbarten Schule, in der Rüdiger als Kunstpädagoge bis zu seiner Pensionierung gearbeitet hat. Der penetrante Geruch der Zuckerrüben treibt mich aus dem Bett. In der Fußgängerzone suche ich ein nettes Café und stoße auf einen Akkordeonspieler mit einem grauen Hütchen und fröhlichen Lächeln.

Tango in Euskirchen – mit Konstantin aus Düren

Er spielt leicht, leidenschaftlich, humorvoll. Balkanblues, Balladen, Tango… Er tanzt, ich knipse. Er lächelt, ich suche nach kleinem Geld in der Tasche. Er steht auf, beugt sich vor, sagt, Musik sei sein Hobby, er spiele aus Spaß, auch ohne Geld. Er trifft jede Note, macht den Passanten Laune, sie belohnen ihn sofort. Einer in einem schmalen Anzug schmeißt einen Schein in die kleine Dose in Herzform. 20 Euro. Und verschwindet in der Masse.

Mein Akkordeonspieler zieht die Augenbrauen hoch. Sein Name sei Konstantin, sagt er und spielt weiter, jetzt seine eigene Improvisation. Er komme aus Bukarest, „sieben Jahre Deutschland“, erzählt er und spielt weiter. Er arbeite in Düren am Bahnhof, „helfe armen Leuten“. Es sei nur ein Ein-Euro-Job. Die Improvisation ist schön, leicht, rhythmisch.

Nach noch zwei weiteren improvisierten Melodien schaut der fröhliche Rumäne auf die Uhr, packt sein Akkordeon ein, klappt den Sitz mit den drei Beinen zusammen und steckt die Dose in Herzform in die Jackentasche und geht.

„Ordnungsamtsvorschriften!“, sagt er zwinkernd und verschwindet um die Ecke. Und spielt dort sofort weiter.

Video-Kunst der Inklusion

 Ich marschiere in Richtung des neuen Stadtmuseums von Euskirchen. Das hochsubventionierte Kulturhaus, in dem nur etablierte Künstler ausstellen dürfen – modern, grau, kalt – wirkt zwischen den älteren Gebäuden aus der Gründerzeit wie ein einsamer im Hinterhof versteckter Stern. Wenige Exponate der Basis-Ausstellung erzählen auf drei Etagen in weniger Strichen die lange Geschichte der Stadt Euskirchen: die große Stadt-Mauer, von der ein Teil in das Museum eingebaut ist, die Industrialisierung, Weberei und die beiden Weltkriege.

Die Stadtmauer, das Museumsexponat

Die Videoinstallationen im Museum klemmen noch wie die automatische Eingangstür, die sich nach meinem Klingeln nicht öffnen will. Heike Lützenkirchen, die neue Direktorin muss höchstpersönlich aus der 2. Etage hinabsteigen und die Metalltür eigenhändig öffnen.

Ich habe das Gefühl, in einem ungünstigen Moment gekommen zu sein. Der Videokünstler Rolf A. Kluenter steckt noch mitten in der Arbeit. Er bastelt an seiner neuen Ausstellung “Puls-Stadt-da-pocht-ein-Herz“. Die Direktorin erzählt mir leise im Stehen am offenen Fenster, dass der Künstler, „Beuys-Schüler und in der Eifel geboren“, am Euskirchener Bahnhof ein Jahr lang mit Autisten, Down-Syndrom-Kindern und anderen Bewohnern des betreuten Wohnens in Euskirchen eine „Art Inklusionsprojekt“ gemacht habe.

Flüchtlingsbaby & Mutterbrüste

Kurz vor meiner Abreise aus Euskirchen, klingele ich wieder bei Rüdiger an der Ateliertür. Ich will mehr von ihm und seinem Kunstsalon erfahren.

     

Warum wohnt er in der kalten, überdimensionierten Werkstatt mit vielen übereinander gestapelten Teppichen? In einem Atelier, wie er das nennt, das er als sein Büro, als seine Küche, sein Esszimmer, seine Bibliothek, sein Archiv und manchmal, wenn die Gäste kommen, auch als sein Schlafzimmer benutzt?

Geboren wurde Rüdiger A. Westphal  1944 in Ostpreußen. Zwischen Posen und Danzig habe er als Flüchtlingsbaby, alle „Strapazen des Krieges“, Kälte, Hunger, Bomben, Flucht überlebt.

„Halbtot!“.

Nur „dank dem Mut und Klugheit seiner Mutter“ sei er überhaupt hier. Sie habe ihn – „damals ein hungriger Wurm“ – zwischen ihren Brüsten versteckt. Eine nette niedersächsischen Familie, die seine verzweifelte Mutter in einer eisigen Nacht aufgenommen habe, habe ihn, das „blaue Stück Eis“, sofort in warmes Wasser eingetaucht und so zurück ins Leben geholt.

         

Seine Familie habe nach dem Krieg eine neue Bleibe in Wilhelmshaven zugewiesen bekommen, aber da habe er sich immer als Flüchtling gefühlt.

„Nie dazugehörig“.

Das sei heute noch so.

„Schmutzige Wäsche“

Rüdiger sei froh, wieder alleine zu leben, sagt er. Er kümmere sich ein bisschen um die Enkelin seiner Ex, einer Russin aus Petersburg, die vor 13 Jahren zu ihm mit ihrer siebenjährigen Tochter gezogen sei. Das Kind, das ohne Vater aufwuchs, sei nicht schuldig und solle nicht das gleiche Schicksal erleiden wie ihre Mutter, seine Ex.

Seine russische Stieftochter habe nun auch ein Kind bekommen, das sie ohne Vater auf die Welt gebracht habe.

„Das Leben ist ein unendliches Wiederholen, eine sehr schlechte Kopie der Kopie“.


Ihn, „den Überlebenden aller Krisen“, interessiere heute nur noch die Kunst. Die Originale. Auf seinem Tisch im Atelier liegt ein dickes Din-A-4 Buch mit beigen, groben Blättern, voll gefüllt mit Danksagungen und Widmungen, Zeichnungen und Farben, eine Installation an sich. Auch an den Wänden seiner Wohnung, sogar im Badezimmer und auf der Toilette hängen die Kunstwerke seiner Künstlerfreunde aus der ganzen Welt. Die meisten von ihnen seien jetzt „unter der Erde“, wiederholt er mit gedämpfter Stimme.

Nun sei auch er müde. Als er mit seinen Künstlerfreunden aus der Eifel 1982 sein FzKKE , den „Förderkreis zeitgenössischer Kunst Kreis Euskirchen, e.V“, eröffnet habe – „eine Art Kunstsalon“, wollte er nicht nur Künstler aus der ganzen Welt zum Spielen, Experimentieren, Fantasieren verführen, sondern auch die Euskirchener und die Ämter begeistern. Leider sei sein Verein „das Stiefkind der Stadt“ geworden, habe viele Neider und wenige Unterstützer. Alle diese Jahre habe er alleine das „zarte Kind“ gefüttert und Künstler von „überall her einfliegen lassen“. Sie konnten bei ihm wohnen, essen und Kunst machen.

Gerade stellt bei ihm ein Franzose aus. Die Ausstellung heißt: „ Schmutzige Wäsche“ . Die Presse sei dieses Mal erst gar nicht gekommen und nehme das wohl nicht ernst. Darüber müsse man sich nicht wundern, sagt er resigniert. Jeder habe zu Hause genug eigene schmutzige Wäsche…

Mehr von Slavica Vlahovic

Die perfekten Wellen

Folge 1: Strahlung – die Sprache aus dem All

Das Foto zeigt ein riesiges Radioteleskop

Es sucht nach Signalen von weit her: das Radioteleskop in Effelsberg. Gebettet in einen Talkessel mit Öffnung nach Süden steht sie, die weiße Riesenschüssel, 100 Meter breit und 3200 Tonnen schwer und arbeitet! Jeden Tag werden hier Aufnahmen gemacht. Doch für zwei Monate im Sommer nimmt das Teleskop unter der Woche nur nachts Signale auf. Denn dann sind wieder die Maler vor Ort. Mit einem Kran und hunderten Litern Farbe ausgerüstet, streicht das Team in schwindelerregender Höhe ausgesuchte Teile der Schüssel neu an. So auch heute.

„Wenn man die gesamte Farbe zusammenzählen würde, dann sind alleine 30 Tonnen Farbe auf dem Teleskop verstrichen“, sagt Norbert Junkes. Er arbeitet für die Max-Planck-Gesellschaft und hält zwischen April und Oktober bis zu sechsmal am Tag Vorträge im Besucherzentrum des Radioteleskops: „Heute waren es vier“, sagt er. Doch das scheint ihn nicht zu stören. Wenn Junkes von Andromeda, Milchstraße und Sirius erzählt, dann wird der Mann mit Brille und Zeigestock zu einem Wissenschaftler, mit philosophischer und existenzialistischer Weltsicht: „Es geht darum nach Antworten zu suchen: Woher kommen wir; wo gehen wir hin? – kann es etwas Interessanteres geben als das?“

Das Foto zeigt einen Mann vor einem Radioteleskop

Nicht auf der Suche nach E.T.

Natürlich kommt nach Junkes Vorträgen immer wieder die eine Frage: „Sind wir allein?“ Junkes liebt das. Folien mit E.T. und seltsamen Gestalten zeigen Fabelwesen und Außerirdische al la Hollywood. Das Resümee ist jedoch leider ernüchternd: „Wir sind hier nicht auf der Suche nach Außerirdischen“, sagt er. Bei Radiobeobachtungen des Himmels in den 1960er Jahren in England gingen Wissenschaftler davon aus, dass die Signale aus dem All auf Lebewesen zurückzuführen sein müssten. Junkes lacht. Schlussendlich habe man herausgefunden, dass die empfangenen Frequenzen von unfassbar extrem schnell rotierenden Neutronensterne stammten. Kein E.T. oder menschenähnliches Lebewesen wurde bisher entdeckt – schade eigentlich.

Das Radioteleskop…
… in Effelsberg ist bis heute das zweitgrößte, vollbewegliche Radioteleskop der Welt. 1972 wurde es im Talkessel in der Eifel aufgebaut und ist seitdem das Hauptbeobachtungsinstrument des Max-Planck-Instituts für Radioastronomie mit Sitz in Bonn. Die Max-Planck-Gesellschaft besitzt rund 80 eigene Institute und forscht auf den Gebieten: Naturwissenschaft, Medizin und den Sozialwissenschaften.

Strahlender Fingerabdruck

Dafür untersucht das Radioteleskop ganz wesentliche Teile der Milchstraße. Und die Forschung ist immer noch am Anfang: „Ständig können aus Staub- und Gaswolken neue Sterne und Planeten entstehen.“ Um diese ausfindig zu machen, nutzt das Teleskop eine bestimmte Methode: Es analysiert Radiowellen aus dem All. „Jedes Molekül sendet auf einer bestimmten Frequenz Strahlung aus“, erklärt Junkes. Aus der Intensität der Radiostrahlung errechnet das Teleskop wiederum Dichten und Temperaturen der Sternenentstehungswolken und erstellt Karten. „Das geht, weil jedes Element einen eigenen spektralen Fingerabdruck hat.“ Und genau deshalb muss auch das eigene Handy in der Nähe des Teleskops ausgeschaltet sein – „sonst werden die Messergebnisse verfälscht.“

Radioteleskope gibt es nur einige hundert auf der ganzen Welt. Bewegliche Teleskope wie das in Effelsberg sind besonders gut einsetzbar, da sie die unterschiedlichsten Teile des Himmels erfassen können. Hunderte Wissenschaftler buchen das Eifler Radioteleskop für ihre Forschung. Dafür müssen sie eigens Antrage schreiben und nicht selten eine Wartezeit, die bis zu drei Jahren dauern kann, in Kauf nehmen. Sie ist beliebt, die weiße Riesenschüssel, arbeitet jeden Tag auf der Suche nach Antworten, verarbeitet Signale, errechnet Himmelskarten und wer weiß, vielleicht stößt sie ja doch irgendwann auf Sprache anderer aus dem All.

Mehr von Marie Ludwig

Der rote Faden der Region

Folge 2: Die Zeitreise

Wolfszähne fressen sich durch weiße Wolle. Es quietscht und rumort. Live dabei bei einem Mord? Keineswegs! Hier im Euskirchener LVR-Museum macht nur die Krempelwolfmaschine ihre Arbeit wie in alten Zeiten. Inzwischen regnen weiche Wolleschneeflöckchen aus der Maschine, der Wolf ist fertig. Doch damit ist es noch längst nicht getan, weiß Museumsführerin Sabine Gerhardt. Von der Krempelmaschine muss die Wolle nun zum Färben. Anschließend machen mächtige Spinnmaschinen daraus Fäden bis schließlich die Verarbeitung auf donnernden Webstühlen erfolgt: Geschichte zum Anfassen – „Wir haben oft Schulen zu Besuch, die in unserem Gästehaus schlafen und mehrere Tagen hier vor Ort Geschichtsunterricht erleben“, erklärt Gerhardt. Sie hat selbst Lehramt studiert, aber schließlich im Museum Wurzel geschlagen: „Ich bin von Beginn hier in Euskirchen mit dabei gewesen – es ist einfach eine tolle Arbeit.“

Das Foto zeigt eine Frau neben einer Maschine

Seit 16 Jahren können Schaulustige die Tuchfabrik Müller als Museum besichtigen. „Nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf wurde die Tuchfabrik, die eigentlich 1961 wegen mauen Geschäften geschlossen wurde, wieder zum Leben erweckt“, sagt Gerhardt. Als in den 80ern der Prinz – in diesem Falle der Landschaftsverband Rheinland – kam, um die Fabrik wieder zum Leben zu erwecken, stieß er auf einen ungeahnten Schatz: „Alle Maschinen sind noch vollständig erhalten und viele funktionieren sogar heute noch.“ Und tatsächlich hat man das Gefühl, dass gerade erst ein paar Arbeiter die Maschinen hätten verlassen können; so authentisch wirkt hier alles. „Das Museum ist einfach einer der wenigen verbliebenen Orte, die uns einen unverstellten Blick in die Vergangenheit geben“, sagt Gerhardt. Selbst die alte Körmelecke des sammlungswütigen Besitzers ist noch erhalten geblieben. „Hier ist alles noch so, wie es damals auch war!“

 

Die Wollroute

Detlef Stender ist Leiter des Industriemuseums Euskirchen und stolz darauf, dass die Tuchfabrik heutzutage in dieser Art einzigartig in Europa ist. „Die Tuchindustrie hat einfach eine große Bedeutung für unsere Region“, sagt er. Deshalb hat Stender 2004 die „Arbeitsgruppe Wollroute“ mitbegründet. Denn in den vergangenen 300 Jahren war nicht nur Euskirchen, sondern auch Aachen, Eupen, Monschau, Vaals und Verviers Hochburgen der Wolltuchproduktion. „Hier wurden Tuche für die ganze Welt gewebt“, erklärt Stender. Heute gebe es zwar kaum noch aktive Tuchproduktion, doch dafür zahlreiche herausragende Denkmäler und Museen, die deren Geschichte erzählen. Um diese Tradition zu erhalten, und auch um eine Verbindung zwischen den verschiedenen Standorten herzustellen, haben sich die Städte in einer Arbeitsgruppe vernetzt: „Zunächst wollten wir unsere gemeinsame Wirtschaftsgeschichte zusammenfassen.“ In der Arbeitsgruppe versammeln sich regelmäßig Vertreter unterschiedlichster Gebiete: Historiker, Museumsleute, Tuchwerkbesitzer, Beamte vom Kulturamt, der Gemeinden und Städte und Mitarbeiter der Tourismuszentrale kamen zusammen, um die gemeinsame Geschichte zu erörtern.

 

Warum hat die Region die Tuchindustrie verloren?

Die Öffnung der Zollgrenzen, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in den 50er Jahren mit sich brachte, führte zu starker Konkurrenz – vor allem aus Italien. Zwischen 1952 und 1982 mussten aufgrund dieser Konkurrenzsituation alle Tuchfabriken der Region schließen. Der Absatzmarkt ist zusammengebrochen, da sich die Textilindustrie zunächst nach Italien und schließlich von der Türkei nach Asien verlagert hat.

Das Foto zeigt einen Mann und eine Frau neben einem gestrickten SchweinEin riesiges, rotes Strickschwein, zwei überdimensionale Enten und ein Schwert, das den ganzen Raum ausfüllt, stehen und hängen im Atelier von Görg und Görg in der Annastraße in Aachen. Martin und Angelika Görg führen hier ein Wollgeschäft und setzen sich auch für den Erhalt des Wissens rund um die Geschichte der Region und textile Handarbeitstechniken ein. Genau deswegen gründeten sie 2011 das Label „aachenstricktschön“. Hierbei werden vor allem Outdoor-Strickaktionen in die Tat umgesetzt: Bäume werden eingewebt, Denkmäler und Brunnen verschönert: „Wir stricken, weil es Spaß und das Leben bunter macht.“

Das Foto zeigt das Logo von aachenstricktschön

Doch bei aachenstricktschön geht es nicht nur um’s Gutaussehen und Funktionalsein, nein, vielmehr geht es auch um eine Spur Protest. „Beispielsweise die Sitzklötze aus Stein“, sagt Martin Görg. „Als diese in der Innenstadt installiert wurden, war das Geschrei groß.“ Die Steine seien zu teuer und sowieso viel zu kalt zum Draufsitzen und dann auch noch ideal in Hundehöhe zum Dranpinkeln. Sowas aber auch! Görg lacht. „Wir haben damals ein paar Klötze eingestrickt und wollten die Leute mal daran erinnern, dass es „nur“ um ein paar Sitzklötze geht“, erzählt er. Mit Erfolg, denn nach der Strickaktion war das Thema aus dem öffentlichen Stadtgespräch verschwunden. Die Wolle hatte geschlichtet.

Das Foto zeigt bunte SitzklötzeAuch am Theater haben die Görgs und Mitarbeiterin Monika Nordhausen eine besondere Aktion verwirklicht. „Wir haben alle 150 Poller um das Theater eingestrickt“, sagt Nordhausen. Warum? „Na ja, warum gibt es diese Poller überhaupt?“, fragt sie laut und schaut Görg mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Damit man weiß, dass man da nicht Parken kann“, antwortet Görg und schüttelt den Kopf. 150 Poller. Ob das wirklich nötig war? Die Strickkünstler wollen mit solchen Aktionen, ganz alltägliche Dinge in Frage stellen.
Aber auch Schöngeistiges gehört mit dazu. „Wir haben zum Beispiel Waldtiere für das Kukuk zum Thema Grenzrouten gestrickt“, erzählt Nordhausen. Das Gestrickte dauerhaft draußen zu lassen, findet sie allerdings nicht richtig: „Wir lassen unsere Aktionen meist nur zwei, drei Tage vor Ort, danach sieht es nicht mehr schön aus.

 

 

Oma-Image lächelnd umstrickt

Die meisten der Streetart-Strickereien übernimmt zwar eine eigene kleine Strickmaschine. Trotzdem kostet das Projekt Zeit und auch Geld. Doch Martin Görg ist es das Wert: „Es macht nicht nur Spaß, sondern gibt uns auch unfassbar viel zurück.“ Ein Beispiel: Die Görgs haben für eine Ausstellung im Rahmen des Karlsfestes eine riesige Europakarte gestrickt. „Am Tag der Ausstellung kam eine Familie vorbei und der Vater hat sein Kind hochgehoben und gesagt: ‚Fühl mal, so ist Europa‘.“ Görg schaut auf. „Das Kind war blind.“

Das Foto zrigt eine LandkarteDie Arbeit mit Kindern ist auch Nordhausen besonders wichtig. Sie arbeitet nebenbei als Kulturagentin und hat das Projekt Worldwidewool ins Leben gerufen – ein euregionales Schulprojekt zur Tuchmachertradition. An den sechs Wollroutenorten hat sie daher zusammen mit Künstlern zwei Jahre infolge Strickprojekte an Schulen organisiert. Das Projekt wurde durch die regionale Kulturförderung des Zweckverbands Region Aachen und das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport NRW gefördert. Auch für die Zukunft möchte Nordhausen Gleiches wieder umsetzen. Denn für sie zählt, vor allem jüngere Menschen wieder für die Wolle zu begeistern: „Das Oma-Image ist längst überholt.“ Mit der Do-it-Yourself-Bewegung habe sich bereits ein neues Bewusstsein für Selbstgemachtes etabliert.

Und sie hat recht, fährt man mit den Fingern über die Wollknäule in den Auslageregalen, kratzt es nicht mehr auf der Haut. „Es gibt sogar Garne aus Bambus, Wolle mit Stahlfasern oder sogar Papier“, sagt sie. Altbacken sei gewiss etwas Anderes. Genau deshalb setzten sich die Görgs und Nordhausen auch für die Aufnahme der Wolltradition in das Register des immateriellen Kulturerbes der UNESCO ein. Man müsse so ein ausgeprägtes Netzwerk der Industriekultur würdigen. „Immerhin besteht es seit Mitte des 18. Jahrhunderts – das darf nicht in Vergessenheit geraten“, finden Görg und Nordhausen. Mit der Wollroute und Strickaktionen hoffen sie darauf, dass es weitergeht. Auch Detlef Stender sieht das so: „Es ist zwar ein sehr spezieller Tourismus, aber es ist unsere gemeinsame Geschichte.“ Ein Thema von Relevanz. Eben der rote Faden der Region.

Mehr von Marie Ludwig

Die Königin der Feldfrüchte

Als ich hier in der Region Aachen zum ersten Mal das Wort Rübenkampagne hörte, konnte ich damit überhaupt nichts anfangen. Ich merkte aber sofort, dass es sich dabei um etwas Großes handeln muss. So erzählte man mir, dass die Rübenkampagne – also die Ernte und Ablieferung der Zuckerrüben in den Zuckerfabriken – früher ein monatelanges Verkehrschaos in Düren, Euskirchen und Jülich nach sich zog. Traktor an Traktor mit Tausenden Rüben steuerte auf das Werksgelände zu und die Städte wurden von dem Rübenstrom regelrecht ausgebremst. Heute sei das nicht mehr so gravierend, aber dafür sei eine ausgefeilte Logistik notwendig. Mir war sofort klar, dass ich mir die Rübenkampagne unbedingt anschauen werde, wenn ich schon zu diesem Zeitpunkt in der Region bin.

Sowohl für den Zuckerrübenanbau als auch für die Ernte benötigt der Landwirt viel Ausdauer und Fachwissen. Denn die Ernte dauert gerne mal bis nach Weihnachten an und ist komplizierter im Vergleich zu anderen Ackerprodukten. Auch bedarf es mehrerer Landmaschinen, um die Rübe vom Feld bis zur Zuckerfabrik zu bringen. Dafür fällt der Ertrag im Vergleich aber auch wesentlich üppiger aus: etwa 1.000 Euro pro Hektar höher als bei allen anderen Ackerpflanzen. Das bringt der Zuckerrübe den vielsagenden Namen „Königin der Feldfrüchte“ ein. Viele ungewöhnliche Wörter hat die Zuckerrübe geprägt: Rübenkampagne, Rübenbüro, Lademaus, Rübenschnitzel, Rübenpicker und Rübenverkehr, um nur einige zu nennen. So prägend, wie sie in ihren Anbaugebieten für Land, Leute, Logistik und den Lohnerwerb ist, so unbekannt scheint sie andernorts zu sein. Eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Innofact zeigt, ein Drittel der Deutschen unter dreißig Jahren denke, bei Zucker handele es sich nicht um Naturprodukt, sondern um ein chemisches Erzeugnis. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Zucker ist ein rein biologisches Lebensmittel. Für stadt.land.text habe ich die Zuckergewinnung einmal näher angesehen. Hierfür durfte ich hinter die Kulisse der Zuckerfabrik Pfeifer & Langen im Werk Euskirchen schauen.

Mehr von Harald Gerhäusser

Ein unermüdlicher Kunstliebhaber

Mit befreundeten Künstlern aus der Eifel gründete Rüdiger Axel Westphal im Jahr 1982 den Verein „Förderkreis zeitgenössischer Kunst Kreis Euskirchen (FzKKE)“. Als der pensionierte Euskirchener Kunsterzieher mir das erzählt, denke ich kurz: Meine Güte, der Verein ist so alt wie ich. Sowas muss man erstmal hinbekommen: 33 Jahre Durchhaltevermögen. Viele seiner Mitgründer sind auch schon nicht mehr an Bord des Kunstförderkreises. „Mittlerweile halte ich die Fahne eigentlich alleine hoch und organisiere die Ausstellungen selbst“, sagt Westphal und lenkt das Thema sofort auf erfreuliche Höhepunkte des Vereins. Etwa darauf, dass es dem Verein gelang, zum ersten Mal zwei internationale Symposien zu „Arbeiten in Holz“ und „Arbeiten in Stein“ zu organisieren. Oder, dass sein Atelier seit der Gründung des FzKKe regelmäßig von zeitgenössischen Künstlern aus der ganzen Welt bespielt wird. „Früher haben wir jeden Monat jemanden ausstellen lassen. Seit einiger Zeit nur noch quartalsweise. Das hat den Vorteil, dass man auch mal einen Künstler einschieben kann, der auf der Durchreise ist. Denn Budget für Reisekosten ist nicht vorhanden, aber auf diesem Weg gelingt das schon mal. Dann spreche ich mit dem anderen Künstler, ob er dazu bereit ist, seine Ausstellungszeit zu verkürzen.“ Derzeit ist die Trashkunst von Inge van Kann zu sehen. Die Werke habe ich schon auf den ersten Blick beim Vorbeihuschen an der großen Glasscheibe des Ausstellungsraums wiedererkannt, da die Künstlerin auch bei Lessenich-privART ausstellte.

Rüdiger Axel Westphals Augen sind voller Energie, wenn er von den Ausstellungen und den vielen Anekdoten rund um deren Entstehung erzählt. Vor mir sitzt keiner, der müde ist oder nur aus Disziplin an seinem Vereinsprojekt festhält. Er brennt auch noch nach dreißig Jahren dafür. Vielleicht ist es seinem Humor geschuldet, denn der stämmige Pensionär lacht viel und gern und hat in seinen Geschichten immer eine Pointe versteckt. Er nennt seinen Hund liebevoll das Monster oder die Bestie und bezeichnet sich selbst als Flüchtling. Denn er wurde 1944 in Schneidemühl zwischen Posen und Danzig geboren. Die Familie musste mit dem Kleinkind auf die Flucht und ließ sich im niedersächsischen Wilhelmshaven nieder, wo Rüdiger Westphal seine Kindheit und Jugend verbrachte. Ganz beiläufig erwähnt er, dass ihm eigentlich erst kürzlich bewusst wurde, dass er in seiner Kindheit nie so richtig akzeptiert wurde. Er war der Fremde, das Flüchtlingskind, und wurde auch so behandelt. Aber oftmals erwächst sich aus einem Schicksal eine Qualität oder besondere Charaktereigenschaft. Bei ihm ist das mit Sicherheit unter anderem seine Gastfreundschaft und die Art und Weise, mit Fremden umzugehen. Das durfte ich selbst erleben und werde einige Details unserer Fahrt durch das Sibirien Deutschlands – wie Westphal die Eifel aufgrund ihres rauen Klimas nennt – nicht mehr vergessen. Ohne auf die Uhr zu schauen und ohne Rücksicht auf Verluste fährt er mit mir zu seinen Highlights rund um Euskirchen. Er macht diese Touren häufig mit Fremden, das merkt man. Er ist getrieben davon, Zusammenhänge aufzuzeigen und so die einzelnen Sehenswürdigkeiten sinnvoll zu verknüpfen. Der Satz, den ich an diesem Nachmittag am häufigsten höre, ist: „Ich würde Ihnen liebend gerne auch noch … zeigen, aber ich weiß nicht, ob es zu viel wird.“

Wie er an seine Künstler komme, frage ich. Die meisten kämen auf ihn zu. Am liebsten mag er es, wenn die Künstler bei ihm in der Gästewohnung wohnen und in Euskirchen etwas erschaffen. „Das korrespondiert mit der aktuellen Ausstellung ‚Total vernetzt – Trashart mit Kartoffelsack‘ und passt deswegen sehr gut zueinander“, schildert der Kurator Westphal. Am liebsten mag er es, wenn die Künstler bei ihm in der Gästewohnung wohnen und in Euskirchen etwas erschaffen. Vor einiger Zeit traf er einen jungen Künstler aus Moskau und lud ihn ein, bei ihm als Artist in Residence zu verweilen. Dieser komponiert Musik mit seinem Game Boy, wofür er eine große Fangemeide gewonnen hat, aber arbeitet auch mit verpixelten Fotografien von Alltagsgegenständen oder -situationen. „Heutzutage sind Ausstellungen einfacher zu realisieren. Denn die Künstler reisen mit USB-Stick und man kann auch mal spontan sagen, lass uns zum Fotogeschäft gehen, einige Arbeiten ausdrucken und daraus eine Ausstellung machen. So gelang es kurzfristig, die Werke eines zeitgenössischen Künstlers aus Russland in Euskirchen zu zeigen.“

Das Atelier des FzKKE ist im Zickzackkurs vom Euskirchener Bahnhof aus zu erreichen: Wenn man aus dem Bahngebäude heraustritt geht man rechts, dann links, dann rechts und wieder links bis zum Eckhaus in der Kölner Straße. Die Kölner Straße ist in Euskirchen eine von zwei Kunstmeilen. Auch hier trifft man auf Skulpturen von Künstlern, die der FzKKE früher schon mal zeigte. Ren Rong aus Nanjing etwa, dessen Augenhand mit den sechs Fingern auf der Meile steht. „Ihn habe ich auch schon ausgestellt und sogar seine Eltern und seinen Bruder auf einer Chinareise besucht“, erzählt Rüdiger Axel Westphal. In die Ferne zieht es den Kurator und Künstler häufig. Die längste Reise seines Lebens dauerte ein Jahr und führte mit dem Rucksack von Kairo bis nach Kapstadt. Aber das ist eine andere, eine sehr lange Geschichte.

Mehr von Harald Gerhäusser

Wenn Kleidung nicht mehr Privatsache ist …

Kleidung diente nie nur dem reinen Bedecken des Körpers. Natürlich soll sie wärmen und schützen, aber Praktikabilität war nie alles. Kleidung war und ist ein sichtbares Zeichen für Reichtum, Armut, Klassenzugehörigkeit. Kleidung ist Identität. Sie unterscheidet Menschen, kann aber auch Gruppen verbinden und ein Gefühl von Gemeinschaft bilden: In vielen Berufen ist es die einheitliche Arbeitskleidung vom Blaumann bis zum Arztkittel, bei anderen Gruppierungen wie den Rockerbanden ist es die Kutte mit besonderen Applikationen.

Mode kann also einerseits Aufschluss geben über eine Gesellschaft und deren Gruppen – gleichzeitig spiegelt sie auch Entwicklungen wieder. Mode entsteht allerdings nicht nur durch Zufall aus der Gesellschaft heraus, sondern kann auch bewusst als Instrument entwickelt und eingesetzt und damit für Propaganda Zwecke missbraucht werden – genau das wurde in einer besonders empfehlenswerten Ausstellung in Euskirchen deutlich: Im Sommer habe ich die Tuchfabrik Müller besucht, eine stillgelegte Fabrikanlage, in der der LVR ein modernes und sehr anschauliches Museum zur Tuchproduktion errichtet hat.

Mehr von Ines Kubat